Nachrichten vom Höllenhund


Helfer
1. September 2020, 17:33
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Monika Helfer: Die Bagage

Monika Helfers Ich-Erzählerin hat so ein schönes Gesicht, dass es keines weiteren Schmuckes bedarf: »Binde die Haare zusammen, bei dir braucht’s nicht auch noch eine Frisur!« Wo hat die Schönheit ihren Ursprung? Viel mehr, als dass ihre Großmutter Maria auch als gefährlich schön galt, weiß sie nicht. , “Für ein hübsches Ge­sicht besteht Gefahr. Wenn sie so dachte, dann wusste sie, warum. Im hinthintersten Tal war es nicht günstig für eine Frau, schön zu sein. Das meinte sie. Über die Schönheit meiner Großmutter wurde hinten im Tal noch bis über ihren Tod hinaus gesprochen.” Tante Kathe hat nicht viel erzählt, wird aber im hohen Alter etwas mitteilsamer. Die Erzählerin, die der Autorin sehr nahe steht, erweitert ihre “Nachforschungen” zum Roman.

Maria und ihr Mann Josef leben abseits des Dorfes am Ende des Tales in nötigen Verhältnissen. Als 1914 der Krieg „ausbricht“ und Josef eingezogen wird, nimmt er dem Bürgermeister das Versprechen ab, gut auf die Maria aufzupassen. Der Bürgermeister ist ein Mann von Amt, aber eben auch ein Mann. “ ‚Bürgermeister‚, sagte sie, ‚ist es fein so nah an mir dran?‘ ‚Tschuldigung‘, sagte er und rückte weg.“ Und dann gibt es noch Georg, einen Hannoveraner, der Maria Aufwartungen macht. Er soll sogar am Morgen aus Marias Haus gekommen sein. Das Dorf hat viele Augen und die “Bagage” war nicht nur räumlich Außenseiter. Und dann ist Maria schwanger und der Pfarrer glotzt auf ihren Bauch.

Irgendwann stand der Pfarrer vor dem Haus von Maria und Josef hinten im hintersten Tal, genauso unangemeldet wie der Fremde, der Georg hieß. Aber der Pfarrer war nicht freundlich, wie der Frem­de freundlich war. Der Fremde war nämlich freundlich. So freundlich war er zu Maria, wie noch nie jemand freundlich zu ihr gewesen war. Nicht einmal Josef. Der konnte zärtlich sein. Wenn es dunkel war, sogar sehr zärtlich. Er war hilfsbe­reit und alles Mögliche noch. Aber freundlich war der Josef nicht. Das war einfach nicht sein Charakter. Der Fremde war freundlich, sodass kein Unterschied war zwischen Mann und Frau. Der Pfarrer aber sagte nur, grüßte nicht, sagte nur:
»Dreh dein Gesicht in die Sonne!«
Und das tat Maria. Fragte aber doch: »Und warum soll ich?«
»An diesem Gesicht kann man alles abschauen«, sagte der Pfarrer.»Was denn zum Beispiel?«, fragte sie.
»Wie lang ist dein Mann jetzt schon weg?«, fragte der Pfar­rer dagegen, aber es klang wie ein Befehl. »So lange der Krieg ist«, sagte Maria. »Und der Bauch?«
»Welcher Bauch?«
»Dein Bauch, du Luder! Wie lange schon gibt es diesen Bauch?«

Der Pfarrer muss sich mit Maria und der Parthenogenese ja auskennen. Josef kehrt erst 1918 wieder zurück und da ist ein neues Kind, Maria sagt, es heiße Margarete, werde Grete genannt. Josef war nie ein Mann der Worte und der Krieg hat ihn noch einschichtiger  gemacht. Zu Grete sagt er nie etwas, schaut sie nicht einmal an, was ihn aber nicht davon abhält, der Mutter Maria weiteren Nachwuchs anzudrehen.

Grete ist die Mutter der Erzählerin. Viel mehr erfahre ich nicht über sie. Sie warnt ihre Tochter: “»Pass auf, dass du nicht wirst wie deine Großmutter!« Inzwischen glau­be ich, meine Mutter hat das nicht als eine Drohung gemeint. Sie hat gemeint, ich soll Obacht geben, für ein hübsches Ge­sicht besteht Gefahr.” Die Gefahr, das ist die “Lust”. Bei Georg “war es allein nur die Lust.”

Maria zitterte vor Aufregung, und als sich Georg am Nachmittag »endgültig verabschiedete«, sie lehnte mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür, und er war ganz nah bei ihr, gürtelaufwärts berührten sie einander, biss sie ihm in die Hand. Katharina hat es gesehen, sie drückte gerade von innen die Tür auf. Georg fuhr mit der verletzten Hand zum Mund. Ein kurzer Fluch. Dann küsste er Maria. Und sie ließ es. Starr und still und glücklich. Und er konnte nicht damit aufhören. Katharina schaute ihnen zu.
Hätte ich meine Tante Kathe ausgefragt, niemals würde sie etwas erzählt haben. Aber eines Tages, da war sie schon über neunzig, erzählte sie mir. Von sich aus. Mit einem Gesichts­ausdruck, als wollte sie auch das noch loswerden, bevor es mitgenommen und nie erzählt würde. Von dem großen Kuss erzählte sie. Und von dem Blut, das dem Mann in den Ärmel rann, als er das Gesicht ihrer Mutter zwischen seinen Händen hielt.

Monika und ihre Oma. Die Nähe ist da und wird gesucht. Ist die Enkelin nicht doch wie die Großmutter geworden? Nicht nur so schön, sondern auch so widerständig. “Einmal sagte sie im Beichtstuhl zur Silhouette des Pfarrers hinter dem Gitter: »Ich bin, was ich bin.« Und der Pfarrer hatte geantwortet: »Pass bloß auf dich auf!« (…) Seither hatte Maria nicht mehr gebeichtet.” Davon kann man zehren und erzählen. «Wann und wo endet die Bagage? Gehöre ich noch dazu?« Monika Helfer stellt sich nicht in den Mittelpunkt, erzählt unprätentiös, beobachtend, zuhörend, in der Sprache der einfachen Leute. Die anderen Kinder, Onkel und Tanten der Erzählerin, sind ziemlich unterschiedlich, in Charakter, Eigenheiten, Lebensläufen. Das ist ein zweites Thema des “Romans”, aber das ist ja selbstverständlich, der Erwähnung nur wert, wenn es ihr Verhalten zur Großmutter angeht. Wichtig ist immer der private, persönliche Bezug, das spekulative Tasten in der eigenen Biographie, das Suchen in der Erinnerung. Das Springen zwischen den Zeiten. Dabei stellt sich Helfer nicht der Herkunft entgegen, forscht nicht in der sozialen Herkunft und Entwicklung wie etwa Annie Ernaux. “Die Bagage” ist nicht politisch, aber auch kein romantischer Dorfroman, dafür ist die Dorfwelt zu archaisch.

2020 – 160 Seiten


Monika Helfer liest aus „Die Bagage“ bei zehnseiten.de
(20 Minuten)


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