Gila Lustiger:
Die Schuld der anderen

Es gab zu viele widersprüchliche Informationen. Zu viele Ansatzpunkte. Zu viele Geschichten. Und doch spürte Marc, dass das alles irgendwie zusammengehörte. Nur wie? Er wusste es nicht. Wo ansetzen? Welcher Spur musste besonders nachgegangen werden? Was war vorrangig und was konnte vorläufig zur Seite gelegt werden?
Ich habe beim Lesen den Eindruck, dass die zu vielen Themen im Kopf von Gila Lustiger waren und dass sie in Marc Rappaport und über diesen in den Roman platziert wurden. Sie „irgendwie“ zusammenzubringen, wird Marc durch den Roman geschickt, er hat als Journalist mehr ermittlerische Freiheiten – und mehr biographisch motivierten Elan, als wenn er Kommissar wäre.
Pierre kannte ihn und kannte die Antwort. Seit fünf Jahren schrieb er, Marc Rappaport, Abiturient des renommierten Privatgymnasiums Stanislas, Spitzenschüler der Prepa Henry IV, Absolvent der Ecole Normale Sup&ieure und der Hochschule für politische Wissenschaften, kurz: jemand, der alle selektiven Aufnahmeprüfungen aller Kaderschmieden der französischen Gesellschaft spielend bestanden und gleich zwei »Grandes écoles« besucht hatte, seit fünf Jahren schrieb er nichts anderes als Meldungen und Artikel über Morde, Sexualverbrechen und Finanzskandale, und immer türmte er Fakten auf und begrub darunter jegliches Leben.
Der Faden durch den Roman: Eine junge Frau ist ermordet worden, die sich aus der Provinz nach Paris geflüchtet hatte und sich dort mit Sex-Diensten ihren Unterhalt erarbeitete. Der Fall liegt 27 Jahre zurück und wurde nicht aufgeklärt. Marc ahnt irgendwelche Verflechtungen in obere Wirtschafts- und Politikkreise, er beginnt erneute Nachforschungen, fragt sich durch eine Vielzahl irgendwie Beteiligter und (Gila Lustiger) hat dabei Gelegenheit, ein Kaleidoskop von Personen und Milieus zu durchleuchten: das Französisch-Sein, das Jüdisch-Sein, Pariser Arrondissements, Industrie-Gebiete, Schul-Systeme, Chemie-Konzerne, Milieus. Vertuschungen, Bestechungen, Abfindungen, Verstrickungen, Resignation. “Was als klassische Ermittlungsgeschichte beginnt, entpuppt sich bald als Gesellschaftsroman über ein ganzes Land und unsere Gegenwart.” (Klappentext)
Und so wird der Leser durch den Roman gezogen, von Gespräch zu Gespräch. Hin und wieder taucht im Hintergrund der Mordfall “Emilie” auf, zunehmend verlagern sich Marcs Ermittlungen auf üble Chemie-Konzern-Praktiken. Um profitabler zu produzieren, setzen sie Arbeiter Giftstoffen aus. Als viele an Krebs erkranken, verzichten diese auf Klagen, damit der Konzern seine Schweinereien nicht in billigere Länder verlagert. Die “Skandale”sind immer und überall und allbekannt, (Der Konzern heißt im Roman Nutrissor, in Wirklichkeit “Adisseo”.), Gila Lustiger stellt sie als Recherche-Ergebnis von Marc Rappaport aus und nimmt damit den Leser nicht recht ernst. Was soll erwiesen, bewiesen, aufgedeckt werden? Dass der Journalist nicht aufgab, um sich selbst gerecht zu werden?
Wollte er etwa einen Abstecher zu den großen, metaphysischen Fragen machen? Nun, vielleicht nicht gerade das, aber zumindest wollte er dem nachgehen, was die endgültige Erfahrung des Todes in so einem Menschen wie Neuhart bewirkt hatte. Hatte der Mann Gewissensbisse? Hatte er all die Jahre danach an “Emilienie T. gedacht? Hatte der Mord vielleicht sogar den Lauf seines Lebens verändert? War er ein anderer Mensch geworden? Oder hatte Neuhart die Prostituierte aus seiner Erinnerung gelöscht? Mit welchen Mitteln hatte er sich, wenn überhaupt, Frieden verschafft?
Fragen, Fragen, Fragen.
Er wusste von Nietzsche, dass sich für jeden Menschen ein Köder fand, an den er anbeißen musste. Geld, Ehre, Macht, das waren alles nette Lockspeisen gewesen, und sie hatten diejenigen, denen er den Kampf anzusagen gedachte, satt gemacht. (…) Epiktet hatte ihn gelehrt, dass es nicht die Dinge waren, die die Menschen beunruhigten, sondern die Meinung von ihnen. Nicht der Tod, sondern die Meinung, dass er etwas Schreckliches sei, ließ die Menschen seiner angesichtig bangen. Diese Herren würde daher nicht der Ruin, den er ihnen in allen Farben ausmalen würde, sondern die Sorge, mittellos zu werden, in die Knie zwingen, nicht die tatsächliche Herabwürdigung, sondern die Vorstellung von öffentlicher Demütigung, nicht die Bestrafung, sondern die Angst, in die Fänge des Strafvollzugs zu geraten. (…) Denn von Hobbes wusste er, dass man seine Gegner entweder durch rohe Gewalt oder durch Zusagen überzeugen konnte, sichzu ergeben, und dass es immer lohnend war, dem Feind die Vorteile einer Kapitulation vor Augen zu führen. Er brauchte sich nur einen dieser Schweinehunde herauszupicken. Einer würde genügen. Und Marc würde in aller Diskretion mit ihm verhandeln. Denn verborgene Vereinigungen waren, so Heraklit, besser als offene. (Auch Hannah Arendt oder Max Weber werden zitiert.)
Als Marc alle alle befragt hat, stellt sich – angedeutet – heraus, dass die schuldigen „Anderen“ gar nicht so weit entfernt gewesen waren/wären.
Auf diese Wendung muss man aber sehr lange warten und so zerfließt der Skandal in zu viele Verästelungen. Die Seiten sind souverän vollgeschrieben, Lustiger hat umfassend recherchiert, wie sie in ihrer „Danksagung“ offenbart. Die Charakteristika des Genres sind versammelt: der anstachelnde und zugleich bremsende Vorgesetzte, der eifrige Praktikant als Zuträger, die emanzipierte Geliebte („Drei Wochen hatten sie ausschweifenden Sex gehabt, so wild und aufregend.”), die genaue Beobachtung und Bescheibung von Schauplätzen und Personen: “Erst als Marc ihr gegenübersaß, unterzog er sie einer kurzen Musterung und stellte überrascht fest, dass sie nicht schlecht aussah, ja, sogar ausgesprochen gut. Sie hatte einen blassen Teint, ein fein geschnittenes Gesicht, eine Nase, die geradezu perfekt erschien. Sie war eine dieser Naturblondinen mit schimmerndem Haar, das ihr auf die Schultern fiel, und man erriet unter ihrem etwas unförmigen Baumwollkleid, das nichts zur Geltung brachte, weil es nichts zur Geltung bringen sollte, einen sportlichen Körper. Sie war von einer zeitlosen Attraktivität, und doch fehlte es ihr an Sinnlichkeit. Aber gerade das machte sie in seinen Augen begehrenswert.
»Sie wollen also einen Artikel über unsere Schule schreiben?«, fragte sie.” Die Autorin als Macho-Imitat.
Sicher war Charles Riant sich im Nachhinein nur in einem: Es gab keinen Rechtsweg, keinen Staat, keine regionale oder nationale Instanz mehr, die die Bewegungsfreiheit des Kapitals, die Freiheit des Marktes einschränken konnte. Es hatte eine Umverteilung der Macht stattgefunden. Und der Freiheit. Weltweit. Und niemand hatte diese Entwicklung aufgehalten oder auch nur bemerkt.
“Es sind Wut und Verzweiflung der Autorin, die diesen Roman durchziehen.” (Martin Ebel) Das Motto hat sich Gila Lustiger von Marx geborgt:
Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc ., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde.
2015 – 490 Seiten
Gespräch im Lizeraturclub des SRF (10 Minuten)
Druckfrisch: Denis Scheck im Gespräch mit Gila Lustiger (ab 4:30)

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