Filed under: - Belletristik
Deniz Ohde: Streulicht

Je genauer man eine Sache anblickt, je detaillierter man sie beschreibt, desto fremder wird sie einem. Je genauer man seine Personen kennen will oder muss, desto weniger fühlt man sich ihnen zugehörig. Deniz Ohdes Erzählerin geht es nicht um Integration, sie will heimisch werden. Von ihrer Freundin Sophia muss sie hören: „Aber du bist ja nicht wie die.“ Und der Vater „sagte: Du bist dir im Klaren, wir werden hier unter ständiger Beobachtung stehen.“ Die Erzählerin, sie hat keinen Namen, ertappt sich ständig dabei, wie sie den Blick senkt.
Der Vater ist Arbeiter im nahen Industriegebiet:
Vierzig Jahre hat er in derselben Firma gearbeitet, auch darauf kommt er immer wieder zu sprechen. Dieser Arbeiterstolz, gemischt mit Trotz und aus Not geborener Arroganz (das Kinn, das er leicht hebt, die Lider, die einige Millimeter sinken, die Schultern, die er dabei nach unten drückt); mein Vater tunkte vierzig Jahre Aluminiumbleche in Laugen, vierzig Stunden in der Woche.
Die Hilflosigkeit bei allem, was darüber hinausgeht.
Er nimmt nicht teil an den Gottesdiensten, er ist in keinem Verein (auch nicht im Männerchor Fortuna), er lässt niemanden ins Haus, Besuch, das ist etwas, was er nicht kennt und was er mir verboten hat, als ich noch bei ihm wohnte, Besuch, das waren Fremde, die in unser Versteck eindringen wollten, gegen die man das Haus verteidigen musste.
Er hängt an Dingen, wirft nichts weg, fragwürdige Erinnerungen, er trinkt zu viel, beurteilt das Leben nach paraktischem Nutzen. Die Mutter ist Türkin, erinnert sich an ihre Kindheit in überschaubarer Nachbarschaft am Schwarzen Meer, ihre Widerständigkeit kann sie nicht ausleben.
Sich Verhaltensregeln zu beugen, die in heiligen Büchern standen, war nichts für meine Mutter, sie wusste selbst zu denken, das war ihr immer wichtig zu betonen, ob es um Schweinefleisch ging oder um Größeres, aber mein Vater und alle Männer waren eine Naturgewalt, der man sich fraglos zu unterwerfen hatte. Unterwerfen, ich kann hören, wie sie das Wort empört von sich gewiesen hätte: »Ich unterwerfe mich doch nicht!«, und niemand hätte je von ihr behauptet, sie sei eine unterwürfige Frau. Es war allen eingeschrieben, dass die eigene Macht, das eigene Denken bei den Handlungen und Entscheidungen der Männer aufhörten, niemand fragte, warum das so war, niemandem fiel es überhaupt auf.
Die Umgebung ist vom “Streulicht” durchdrungen. “Zu dieser Zeit war ein beständiges Grau in den Wolken, der Wind war nicht kalt und nicht warm, sanfte Böen streiften meine Wangen und verloren sich kurz darauf, wenn ich auf einem Schemel stand und den Kopf aus dem Fenster streckte. Die Straßenlaterne neben dem Haus sprang an, sobald das Tageslicht sich ins Blaue wendete. Über die Mauern der Hinterhöfe hinweg konnte ich sehen, wie in weiter Entfernung die Flugzeuge starteten, ich konnte den Strommast zwischen den Kleingärten sehen, und ich konnte hören, wie von links das Brummen des Industrieparks und die Geräusche der Wässer aus dem Fluss und der Kläranlage herüberwehten, wenn der Wind gut stand.” Die Erzählerin fühlt sich von dieser Lebenswelt, die bis in die Wohnung, bis in die Personen reicht, imprägniert.
Ich war nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren; rußgeboren, geboren aus dem Kochsalz in der Luft, das sich auf die Autodächer legte. Geboren aus dem sauren Gestank der Müllverbrennungsanlage, aus den Flusswiesen und den Bäumen zwischen den Strommasten, aus dem dunklen Wasser, das an die Wackersteine schlug, einem Film aus Stickstoff und Nitrat, nicht Gischt.
Das Mittel zum Biegen von Biografien ist die Bildung. Die Schullaufbahn der Erzählerin verläuft in Windungen. Sie ist zunächst eine schlechte Schülerin, findet an wenigen der abgehandelten Themen Interesse, schaut lieber Serien im Privat-TV. Als sie – unvermittelt – ein ZEIT-Schüler-Abo abschließt und dafür als Prämie eine Tasche mit “ZEIT”-Aufdruck erhält, gibt es einen Knick nach oben.
Es war diese Tasche, durch die ich meine Zugehörigkeit demonstrieren wollte. Meine neue Schultasche, ein Werbegeschenk der Zeit, durch den Abschluss eines vergünstigten Schülerabonnements erworben. Mit ihr wollte ich einen Strich unter all die Witze ziehen, die ich bei jeder Gelegenheit riss. »Ich stehe ja am Rande der Gesellschaft«, sagte ich und lachte in die Runde, wenn wir um das Feuer in Pikkas Garten saßen. Er schob mit einem Schürhaken glühende Holzscheite in der Schale herum, und Sophia sah den aufsteigenden Funken zu. Ich wollte Pikka, Sophia und allen anderen damit zuvorkommen, jede Bemerkung, die mich hätte bloßstellen können, vorwegnehmen. Über mich selbst lachen, damit die anderen es nicht taten. Meine Tasche aber drückte die Hoffnung aus, dass ich dennoch etwas von ihrer Welt verstand, dass ich weiterhin in ihr lebte, nicht weitab an ihren Rändern, und eines Tages wieder an ihr teilhaben würde.
An die Tür ihres Spindes klebt sie nicht mehr Serienstars, sondern Philosophinnen. Die Schul-Wege nehmen langen Raum im Erleben der Erzählerin ein. Je weiter die Schule entfernt ist, desto höher ist die erklommene Bildungsstufe.
Ich solle mein Licht nicht unter den Scheffel stellen, das hatte ich über mich aufgeschnappt damals. Natürlich war ich selbst es gewesen, die mein Licht unter den Scheffel stellte, das leuchtete mir sofort ein, denn Implikationen verstand ich schon früh. Diese Implikationen waren der eigentliche Grund, aber wie sollte ich das dem Rektor verständlich machen, der dem höchstwahrscheinlich nie ausgesetzt war; diesem Bürsten der Sprache gegen den Strich.
Niemand hatte sich je die Zeit genommen, den Scheffel ausfindig zu machen, unter dem mein Licht stand; (…)Der Schulleiter verkniff sich ein Lächeln.
»Sie sprechen ja wirklich sehr leise, Sie sprechen ja wirklich sehr bedacht -«, sagte er, wie ein letztes Gegenargument.
»Ja«, sagte ich, mit dieser dünnen, bittstellenden Stimme, diesen im Schoß zusammengekrampften Händen: »Sie sehen, ich werde niemanden stören.«
»Warum wollen Sie Abitur machen?«
Auch dafür musste es also einen Grund geben. Ich schwieg. Sagte dann: »Ich will studieren«, wie eine Frage, das letzte Wort mit zischendem Frikativ, als hätte ich es noch nie vorher ausgesprochen. Der Rektor sah mich prüfend an, und ich hoffte, dass meine Antwort überzeugend gewirkt hatte; als hätte ich schon jetzt ein konkretes Ziel vor Augen – ein rechtschaffenes akademisches Leben. Ich musste zwei Gründe zur Hand haben, einen für mein Scheitern und einen für mein Wollen. Mein Ziel musste ein anderes sein als mal sehen, ein anderes als ich gehe erst mal ein Jahr nach Australien. Mein Grund ein anderer als höhere Bildung steht mir zu. »Ich will studieren«, ich sagte es wie ein Kind, das vor einem großen, in vielen Farben blinkenden Riesenrad steht und mit in den Nacken gelegtem Kopf zu ihm hinaufsieht.
Sie blickt hinab, weiß nichts zu sagen, fühlt sich nicht aufgenommen. Die Lehrer sind keine Hilfe, sind selbst ausgeliefert, sprechen von “Aussieben”. Deniz Ohdes Geschichte entwickelt sich trotz des Bildungsangebots kaum weiter. Zu sehr klebt die Erzählerin im Staub der Herkunft, zu sehr ist ihr Fortschreiten in die Zukunft an die Vergangenheit gebunden. “Die Szenen dichter Beschreibung, wie die Ethnologie so etwas nennt, schichten sich aufeinander wie die Begründungen eines Urteils, das von Anfang an feststeht.” (Elke Schmitter, SPIEGEL)
Die Schulgeschichten wechseln sich ab mit den Gedanken an die Familie, führen zu unauflösbaren Kontrasten. Dabei ist es der sozial-kulturelle Rahmen, der einengt, kaum die Abstammung aus Migrationsverhältnissen. Das “türkische” Unterducken der Mutter, die sich selbst isolierende Dominanz des proletarischenVaters, die sich in häuslicher Gewalt kompensiert, wo soll man da hin. (Deniz Ohde hat einen “türkischen” Vater und eine “deutsche” Mutter.) „Dieser Weg, den die anderen so selbstverständlich gingen, blieb mir schleierhaft.“
Ich war etwas erstaunt, dass “Streulicht” auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020 und jetzt auch auf der SWR-Bestenlise auftaucht. Was aber beim ersten Lesen wiederholt wie eine Anekdotensammlung erscheint, zeigt doch eine subkektiv reflektierte, sehr genaue Beoabachtung, die keine Ergebnisse thematisiert. Die Zusammenhänge erschließen sich von selbst. Deniz Ohde lässt ihre Erzählerin nicht klagen, und wenn sie Grund zur Klage hat, hält sie sich leise zurück und erweckt so Eindringlichkeit. Die Klage fällt auf die Erzählerin zurück, sie wird nicht in eine politische Öffentlichkeit hinausgeschrien. “Deniz Ohde betreibt eine virtuose sprachliche Mimikry an eine menschenunfreundliche Dingwelt, in der kaputtes Geschirr sich mit Tapetenfetzen und lauten Industriebrücken verbrüdert. Sie tut das in zwei Schritten: Sie tritt aus dieser Dingwelt ein Stück hinaus, hat einen geringen Abstand zu ihrer peinigenden Herkunftswelt gewonnen, um diese umso bitterer, ja schmerzlich lustvoll zu bejahen, sie zu ihrem eigenen Schicksal zu verhärten.“ (Hubert Winkels, SZ) Anna Hoffmeister weist im Freitag auf Pierre Bourdieu.
Welches Verhalten genau von mir verlangt wurde, was genau damit zusammenhing, dass ich zur Elite gehören sollte, verstand ich nicht, und es war auch keine Frage, die ich mir bewusst stellte, sondern vielmehr eine allgemeine Ratlosigkeit, die sich daraus ergab.
Der letzte Satz des Buches stammt von ihrem Vater: „Wenn’s nichts wird, kommst wieder heim.“
P.S. Denis Scheck im „Lesenswert-Quartett“ vom Dezember 2020: „Das ist reiner Sozialkitsch … banal, oberflächlich, unglaublich larmoyant … humorfrei …ein so schwacher Text … ich muss energisch sagen: so geht’s nicht … es ist wirklich unerträglich …“
Und die Begründung für diese Suada: „Wir leben hier in einer Gesellschaft, die eine große Möglichkeit des Aufstiegs einräumt … Das möchte ich doch in irgendeiner Weise von einer Figur auch reflektiert haben.“
Der Herr Scheck nennt die Aurorin eine „reine Thesenträgerin“ . Damit framed er sein Verdikt, anstatt seine „These“ zu überprüfen. Es gibt auch abseits des WahrenGutenSchönen eine Wirklichkeit: „Für Kinder aus Arbeiterfamilien ist der soziale Aufstieg in Deutschland besonders schwer.“ Das ist keine These, so steht es im „Handelsblatt“ (2018).
2020 – 285 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Arbeiterkind – Rezension in der Freitag
Gespräch aus dem Literaturforum im Brecht-Haus Augsburg (Video – 45 Minuten)
Eine „Streulicht:Playlist“ beim Logbuch Suhrkamp

Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar