Susanne Kerckhoff:
Berliner Briefe

„Briefroman“ steht auf dem Cover. Es ist ein Roman, weil die Briefe, die Susanne Kerckhoff an ihren Freund Hans schreibt, fiktiv sind – wie vielleicht auch Hans. Diese Briefe dienen dabei in erster Linie der Selbstvergewisserung der Briefeschreiberin. Die sich Helene nennt. Sie findet so die Möglichkeit, ihre politischen und weltanschaulichen Positionen kundzutun und zu überprüfen. „In diesen Briefen spiegeln sich Ratlosigkeit und Hoffnung. Ein Mensch bemüht sich, innerhalb der gegebenen Situation über das politische Woher und Wohin Rechenschaft abzulegen. (…) Noch um die endgültige Erkenntnis ringen, heißt nicht, der Aktion ausweichen, sondern sich im Gegenteil auf sie vorbereiten.” (Vorbemerkung der Autorin)
Susanne Kerckhoff wurde 1918 geboren und spielte nach 1945 als Schriftstellerin, Publizistin und politische Stimme eine bedeutende Rolle im literarischen Diskurs der Nachkriegszeit. Sie wurde 1945 zunächst Mitglied der SPD, trat aber 1947 der SED bei und siedelte in den Ostsektor Berlins über. Ab 1948 war sie Feuilletonleiterin der Berliner Zeitung. Nach grundsätzlich politischen Meinungsverschiedenheiten – „Ränkespiele“ * nennt es Peter Graf im Nachwort – mit Walter Ulbricht, Paul Wandel und Stephan Hermlin nahm sich Susanne Kerckhoff 1950 das Leben.
* Susanne Kerckhoff, literarische Hoffnung des Kommunismus und Kulturressort-Chefin der östlich orientierten „Berliner Zeitung“, beging Selbstmord. Die sowjetamtliche „Tägliche Rundschau“ kommentierte, die junge Schriftstellerin habe offenbar die Nerven verloren. Zuvor war ihre „schwankende ideologische Haltung“ mehrfach in Rundschreiben der SED gerügt worden. Susannes Halbbruder Wolfgang Harich (s. SPIEGEL Nr. 1/50) hat ebenfalls einen Nervenknacks. Als sich Hannelore Schroth bei ihrem letzten Berlin-Besuch aus alter Freundschaft nach ihm erkundigte, wurde ihr sowjetamtlich mitgeteilt, Wolfgang Harich habe zur Zeit eine neue Adresse. Es handelte sich um die Anschrift einer Nervenheilanstalt in Thüringen.
SPIEGEL 23.03.1950
Ihre Selbst-Einordnung: »In ein bestimmtes Lager gehöre ich – in das Lager derjenigen, die sich noch in gar keiner Weise beruhigt haben. Über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne kann ich mich nicht beruhigen.«
Eines ist von Anfang des Endes an schlecht gelungen:
der deutschen Allgemeinheit Schuldgefühl und Sühnebereitschaft aufzunötigen. Die Erfolglosigkeit aller Erziehung zur Einsicht war von vornherein zu befürchten. Ein besiegtes Volk läßt sich von den Siegern höchst widerwillig belehren. Fahre in Gedanken mit mir in der Stadtbahn, stehe mit mir in der Schlange vor dem Fleischerladen und höre zu:
„Wenn wir gesiegt hätten, dann wären Stalin und Churchill in Nürnberg aufgehängt worden!“ „Wir sind ja das schlechteste Volk der Welt – ehe nicht Millionen von uns draufgegangen sind, sind die nicht zufrieden!“ „Nächsten Winter soll es noch weniger Kohlen geben – Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ „Unsere Konzentrationslager? Kommen Se mal nach Sachsenhausen, wo die kleinen Pgs schuften und Kohldampf schieben!“
Lieber – wozu noch mehr dieser Phrasen! Sie drücken alle das gleiche aus. Äußerungen Unterlegener, die sich gegen die moralische Diskriminierung wehren und durch ihre Art des Wehrens sich noch schärfer ins Unrecht setzen. Ich kenne diese Menschen von früher her, wo sie mit bitterböser Arroganz und dümmlicher Gefolgschaftstreue in ihren Herzen achtlos über Leichen gingen, ehrpußlig Mordorden einklaubten.
(Aus dem dritten Brief)
Die „Berliner Briefe“ erschienen 1948. Susanne Kerckhoff nimmt wahr, wie sich die Menschen in Berlin verhalten, hört, was sie sprechen, schließt daraus auf das Denken der Leute kurz nach dem verlorenen Krieg, verzweifelt über das, was sie nicht verstehen kann. Keine Einsicht, keine Menschlichkeit, keine Reflexion. Ihre strikte Humanität gebietet ihr, trotzdem daran zu glauben, dass diese Menschen sich zu etwas Anderem, etwas Besserem, zur Demokratie bewegen lassen müssen. Dem Brieffreund, einem Juden, nach Frankreich ausgewandert ist, schildert sie ihre Beobachtungen, lässt ihn daran teilhaben, wie sie ihre Ansprüche umtreiben. Ob es Antwortbriefe gibt, bleibt offen, zumindest nimmt sie Susanne Kerckhoff nicht in ihr Buch auf.
Sie hat ihre Illusionen von Humanität nicht aufgegeben.
Unter Hitlers Herrschaft haben sich meine Träume von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit konserviert, sie haben sich gehalten, ohne sich in positiver oder negativer Richtung zu entwickeln. Ich konnte mit dem Pfund, das ich in mir trug, nicht arbeiten. Ich mußte es vergraben – es blieb ein Pfund. Politische Naivität blieb politische Naivität. Schwarz waren die Totenkopfmachthaber für mich, die sich die Menge dienstbar machten, indem sie ihre niedrigsten und dumpfsten Triebe glorifizierten.
Nein – die Märtyrer ließen es nicht zu, daß ich mich in eine höhere Gelassenheit finden konnte! Wie ich Deinen Vater auf dem Kurfürstendamm traf. Er versuchte, grußlos an mir vorüberzugehen, um mich nicht in den vergifteten Kreis seines gelben Sterns zu ziehen. Ich ließ mir diese Rücksichtnahme nicht gefallen. Da blieb er stehen und hielt den Hut vor seinen Stern. Ich wollte sprechen, dazu hatte ich mich ihm ja in den Weg gestellt, und nun konnte ich es kaum. Ich fühlte die mechanische Zermalmung des flutenden Verkehrs um uns, die tödliche Gleichgültigkeit des Asphalts, auf dem wir standen. Sein Blick kam auf mich zu mit der grauen Größe eines Schmerzes, der ihm noch bevorstand, und den er bereits überwunden hatte. Plötzlich merkte ich, daß i c h ihm leid tat. Was soll ich daran noch schildern? Am nächsten Tag wollte ich ihn aufsuchen, aber er war nicht mehr in der Uhlandstraße. Eure Wohnung war mit einer Plombe der Gestapo versiegelt.
(Aus dem zweiten Brief)
Susanne Kerckhoff will sich einmischen, will dabeisein bei der Neuausrichtung der Gesellschaft. In ihren Überlegungen testet sie als moralische Instanz sogar die Kirche. In der politischen Welt zeichnen sich schon bald nach der Nazizeit zwei Systementwürfe ab. Kerckhoff wägt sie ab, kann aber keinen erkennen, die ihrer moralischen Rigorosität gewachsen sind.
Mich graust es vor den Folgen einer konsequenten Formal-Demokratie! Warum? Um der menschlichen Schwäche willen! Darum, weil der deutsche Nazi der gesunde Teil der Bevölkerung ist, gesund, das heißt skrupellos genug, jeden Vorteil für sich auszunutzen und den Gegner wie ein Skorpion von hinten zu stechen! Sie nehmen Gerechtigkeit in Anspruch, um desto schneller wieder zu ihrer Art von Gerechtigkeit zu gelangen! Sie lassen sich von der Demokratie schützen, werden in ihrem Schutze wie vordem korpulent und kräftig – um die Demokratie zu stürzen. Eines Tages, wenn die Alliierten es nicht hindern, werden diese „braven Jungen“ wieder Ordnung machen, eines Tages, wenn die Demokratie, die schon jetzt auf dem Wege dazu ist, sich endgültig lächerlich gemacht hat!
Aber:
Welcher Sozialist, der mit sich allein und ehrlich ist, hat sich nicht schon die bängliche Frage vorgelegt, ob die Erfassung durch materielle und geistige Planwirtschaft nicht noch grausiger ist als der Machthaber Kapitalismus?
„Gut sein – gut sein! ist viel getan;
Erobern ist nur wenig.
Der König sei der beste Mann,
sonst sei der bessre König!“
Der Claudius-Vers ist eine wunderschöne, leichte, unmögliche Lösung aller Probleme. Sind wir zu der Auffassung verführt, daß alle Systeme an der menschlichen Schwäche scheitern oder an der menschlichen Tugend gewinnen können? Daß es also gar nicht darauf ankommt, ob Kapitalismus oder Sozialismus in der Welt herrschen, sondern allein darauf, ob hochwertige Menschen oder Kreaturen regieren?
(Aus dem zehnten Brief)
Es gibt viele Fragezeichen in den Briefen. Aber keine Antwortzeichen. Die findet Helene nicht bei ihrem angeschriebenen Hans und auch bicht in sich selbst. Susanne Kerckhoff passte nicht in die SPD, nicht in die SED, nicht in einen der deutschen Nachkriegsstaaten. Und deshalb taucht sie auch nicht in den Literaturgeschichten auf, weder der BRD, noch der DDR. Erst ab 1999 wird man wieder auf sie aufmerksam, 2000 werden die “Berliner Briefe” im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis wiederveröffentlicht. Interessant ist das Buch wegen der Zeitzeugin, die durch die unmittelbare Nachkriegszeit authentisch ist un durch die existenzielle Annäherung an die Welt. Die Wiederauflage wurde teils begeistert aufgenommen, wobei der direkt politische Bezug eher ausgeblendet wurde. Auch heute tut man sich schwer, wenn man grundsätzlich wird.
Das ist es, was ich nicht möchte, aber muß: um die Probleme herumgehen, sie von allen Seiten betrachten, subjektiv, weil ich zu einer Objektivität gar nicht imstande bin! Auf meinen Wanderungen im politisch-psychologischen Mischwald gibt es dornige Flecken, wo meine Wünschelrute ausschlägt, dann wieder sehe ich gar liebliche Quellen, an denen ich mich nicht erlaben kann.
1948 – 110 Seiten
Artikel über Susanne Kerckhoff in neues-deutschland von 1998
Gespräch im Literarischen Quartett des ZDF (ab 0:34)
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