Nachrichten vom Höllenhund


Lerner
19. November 2020, 14:41
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Ben Lerner:
Die Topeka Schule

„Der politischen Literatur unserer Tage könnte [das Werk] ein Licht aufstecken.“ So Kai Sina, FAZ. Deshalb ist „unsere Welt ein bisschen heller geworden“. So Barack Obama, Literaturkenner. Der Roman ist, so Felix Stephan, SZ, „ein literarisches Phönomen“, „ein brillantes, einzigartiges Buch“ (Washington Post) „Es geht um (…) die große Krise der Männlichkeit. Brillant!“ (Welt am Sonntag). Sally Rooney, gehypte Jungautorin, weiß “die Zukunft des Romans (…) angebrochen” und Ocean Young, gehypter Junglyriker, liest in Ben Lerners „Die Topeka Schule“ „letztlich ein Werk der Liebe“.

Die vielen Stimmen, mit denen der Suhrkamp-Verlag bewirbt, klingen schwammig und ‚letztlich’ hohl, konterkarieren den im Buch vermuteten Inhalt. Man sollte misstrauisch werden. Ich hab den Roman dennoch gekauft und gelesen und nach dem Licht und der Erleuchtung gesucht. Was werde ich sagen? Finde ich Anknüpfungspunkte zum gehudelten Lob?

„Die Topeka Schule“ ist ein Familienroman, angesiedelt im amerikanischen (gehobenen) akademischen Mittelstand im Mittleren Westen, Topeka, im Gravitationsfeld von Kansas City, mit Ausflügen an die Ost- und Westküste und darüber hinaus. Adam Gordon steht vor seinem Abschluss an der titelgebenden Topeka High School. Die Eltern forschen an der berühmten Menninger Foundation in Topeka. Vater Jonathan kümmert sich neben seinem Sohn psychotherapeutisch um weniger arrivierte, „lost boys“, Mutter Jane ist mit ihrem feministischen Ratgeberbuch sehr erfolgreich, die Überfliegerin in der Familie, und trat sogar bei Oprah auf. Sie wird aber in Shitstorms auch als „Familienzerstörerin“ beschimpft. „Die Grundrisse der Einfamilienhäuser in diesem Vorort sind allesamt identisch, und die Grundrisse des Bewusstseins ihrer Bewohner sind es auch.“ (Felix Stephan, SZ) Alles Leben, ja sogar Räume und Städe sind psychoanalytisch aufgeladen. Auch der Roman.

Ben Lerner wirft seinen Strahl in den Kapiteln abwechselnd auf die drei Gordons, mittelbar durch die Erzählperson oder beschreibend. Es verwundert vielleicht Adam, aber nicht den Leser, dass die Familienkonstellation das Erwachsenwerden des Jungen nicht erleichtert. „Seine Eltern hat­ten mit seltener Entschiedenheit darauf bestanden, dass er entweder Erwood konsultierte oder eine konventionelle Ge­sprächstherapie begann. Die Heftigkeit, sagten sie, sei außer Kontrolle: wie schnell er in Wut gerate, auch wenn er sich relativ rasch wieder beruhige. Er brauche »Strategien«”.

Die Analyse übernimmt die Kontrolle, das Kind hat keine Chance.

Jane übernahm die Führung, versuchte ihn zu unterbrechen, in eine andere Richtung zu lenken, während wir einander immer wieder voller Sorge, mit einem Gefühl der Hilflosigkeit ansahen. Und dann sagte Jane sehr nachdrücklich seinen Namen, und er hörte auf und kehrte zu sich selbst zurück (von wo?). »Was?«, fragte er.
»Ich verstehe dich ganz schlecht«, sagte sie. (Ich warf ihr einen verdutzten Blick zu; wir hörten ihn laut und deutlich.) »Tut mir leid«, sagte sie, »die Verbindung ist nicht so toll. Kannst du uns von einem anderen Telefon aus anrufen?«
»Wieso?«, fragte Adam verwirrt.
»Es ist völlig verrauscht, und du bist einfach zu leise.«
»Vielleicht liegt es am Gewitter«, sagte Adam; mittlerweile regnete es in New York offenbar kräftig.
»Gibt es im Wohnheim oder in der Nähe ein Münztelefon?«, fragte Jane, und jetzt begriff ich, was sie da machte, und es verschlug mir den Atem.
»Ich glaube, es gibt eins im Keller, in der Nähe der Waschmaschinen«, sagte Adam. In der Nähe der Kupferwand. »Aber ich rede einfach lauter«, sagte er und tat es.
»Tut mir leid, wir verstehen dich einfach nicht«, sagte Jane, wie sie es bei den Männern zu tun pflegte. »Du musst uns von unten zurückrufen.«
Er unterschätzte, wie sehr der Wechsel nach New York für ein Semester – ohne Natalia als stabilisierenden Faktor – einem erneuten Auszug von zu Hause gleichkommen würde. Sie hatten sich sehr früh in seinem ersten Studienjahr an der Brown University aufeinander eingelassen; sie war seine Er­satzfamilie. Er hatte keine richtige Erfahrung mit der Stadt, die überwältigend sein kann, zumal wenn man in Topeka aufgewachsen ist. Ihre Bipolarität: eben noch glitzernde Fülle, im nächsten Moment ein Abgrund. Ihre überlegene, ernste Verachtung. Und die Beziehung zwischen den beiden war chaotisch gewesen, wie für dieses Alter typisch; er kam in den Ferien nach Hause (je teurer die Uni, desto länger die Ferien) und ließ sich mit früheren Freundinnen ein; Natalia wartete darauf, dass er erwachsen wurde. Dann ging sie nach Spanien und hatte keine Lust mehr zu warten; sie verliebte sich in einen Spanier, irgendeinen Musiker, einen Under­ground-Rap-Star oder aufstrebenden Rapper, und zog von ihrer Gastfamilie in seine Wohnung.

Ein wichtiger Baustein zu Adams Sozialisation ist das Debating. Wie sein Autor Ben Lerner ist Adam Gordon US-Meister im Debattieren, einer „Kunst“, die das Argumentieren zum bloßen Zweikampf herabzieht. Auch hier ist der Stratege nötig: der Rhetoriktrainer.

Einem Anthropologen oder einem Gespenst, das die Flure der Russen High School durchstreifte, käme das schulüber­greifende Debattieren weniger wie ein Redewettstreit als wie ein rituelles Zungenreden vor. Siehe den mit zystischer Akne geschlagenen ersten Kontra-Redner von der Shawnee Mis­sion, der – in lässigerer Kleidung, typisch für die reichen Kids aus Kansas City – mit einer Geschwindigkeit von 340 Wör­tern pro Minute Belegstellen für seine Behauptung vorliest, dass der Plan der Pro-Seite die Familiengerichte überlasten und damit eine katastrophale Ereigniskette in Gang setzen werde. Er lässt jede Seite auf den Boden fallen, wenn er da­mit fertig ist, dazu Schweißtropfen. Er atmet scharf ein, brüllt einen neuen Leitsatz – »Überlastung der Gerichte führt zum Zusammenbruch des Systems« -, liest dann weitere Belege vor und verheddert sich kurz in einem Stottern, das seinen Vortrag bei dieser Lautstärke und Geschwindigkeit so klingen lässt, als hätte er einen Krampf- oder Schlaganfall. Während die Zeit abläuft, fasst er seine Argumente zusammen, obwohl nur wenige Uneingeweihte ihn verstehen könnten: Gregor be­legt Überlastung der Gerichte infolge zunehmender Durchsetzung von Kindesunterhaltsansprüchen Überlastung der Justiz führt zu Zusammenbruch des Systems Zusammenbruch führt zu Atomkon­flikt chinesischer oder nordkoreanischer Atomschlag in folgendem Machtvakuum wiegt schese-schese-schwerer als sämtliche etwaigen Vorteile des Pro-Plans und und und und Stevenson beweist dass Pro-Plan in jedem Fall keine Lösung weil Widerstand innerer Kräfte Du-Durchführung blockiert Nein-Votum allein schon we­gen nachteiliger Auswirkungen zwingend aber aber auch wenn man Plan als Plan betrachtet keine Lösung weil Hauptquelle für Gerichte in Georgia nicht nicht anwendbar aufBundesprogramm nur auf Einzelstaat also keine andere Möglichkeit als negatives Votum.(…) Seine Rede wurde von Tempo und Intensität überdehnt, bis er spürte, wie sich ihre Sachbedeutung in reine Form auflöste. (…)„Das Letzte, was man mit diesen Tausenden von Wörtern anfangen sollte, war, sie zu verstehen. Derartige Offenlegungen waren zur Verschleierung gedacht.

The „Spread“, Nikolaus Stingl übersetzt es gewitzt mit “Schnellsen”,

In der Highschool bestand das Problem für ihn darin, dass das Debattieren einen zum Nerd und die Lyrik einen zur Pussy machte – auch wenn beides dazu beitragen konnte, einen in die undeutlich imaginierte Stadt an der Ostküste zu bringen, von der aus man mit großer Ironie über seine Erfahrungen in Topeka berichten konnte. Entscheidend war, seine Beteiligung an Debattierwettbewerben als eine Form von sprachlichem Kampf zu erzählen; entscheidend war, zum Rabauken zu werden, geistig beweglich, gemein, jederzeit bereit, einen Gesprächspartner auf die kleinste Provokation hin mit Beleidigungen zu schnellsen. Lyrik ließ sich rechtfertigen, wenn sie einem half, nochmal hochzuschalten, wenn sie Cypher und Flow wurde, wenn sie ein Grund dafür war, dass Amber mit einem vögelte, und nicht mit Reynolds und Konsorten. Wenn sprachliches Können Schaden anrichten und dafür sorgen konnte, dass man Sex hatte, dann konnte man es als Jugendlicher in den Bereich des Sozialen integrieren, ohne von den geläufigen Werten von Intellekt und Ausdruck vollständig abzurücken. Es war keine Versöhnung, aber eine handhabbare Spannung. Sein katastrophaler Frisurenkompromiss. Die Migräneanfälle.

Für Adam ist das “Schnellsen” ein nerdiges Mittel,ein Mann zu werden, hart, erfolgreich, womanizing. Die Credibility verleiht der nächste Schritt auf dem Weg zur Poesie: “Freestyle-Rappen. Das war in vieler Hinsicht die beschämendste aller Posen, die deutlichste Ausprägung einer Krise weißer Männlichkeit und ihrer Repräsentationssysteme, bei der eine kleine Gruppe privilegierter Weißer sehr oft arhythmisch die vorherrschenden und für sie vollkommen unzutreffenden Klischees des Genres recycelten.”

Damit ist viel erzählt und ausreichend analysiert. “Meine Theorie war, dass die Sprechmechanismen bei Überlastung durch Informationen zusammenbrechen”. Ben Lerner aber erzählt weiter. Hört nicht auf, den “Roman” in viele Richtungen zu überladen. Sein Großvater ist als Besucher eines Debattierwettbewerbs gekommen.

Plötzlich gab sein Großvater ein Geräusch von sich. Es war ein Ächzen oder Krächzen – tief, heiser -, und es dauerte zwei, drei Sekunden lang. Am Beginn und am Ende bemerkte Adam kleine Modulationen, die Ansätze von Phonemen, von Sinn, von Sprache gewesen sein mochten. Kleine sprach­liche Phosphene. War es ein Wort, eine Wortverbindung, eine Äußerung von Schmerz oder ein asemantisches, unwillkür­liches Luftausstoßen, sinnleere Vibrationen, die ihn durchlie­fen? Das Gesicht seines Großvaters war ausdruckslos, lieferte keinen Hinweis, obwohl er den Kopf zu Rose gedreht hatte. Adam wusste nicht, ob sich hier die Stimme des alten Man nes oder ihre keinerlei Bedeutung tragende Negation bekun­dete. Was auch immer es war, es war grässlich, unanständig: vielleicht hatte er sich in die Hose gemacht. Gegen seinen Willen stellte Adam es sich als Begleitgeräusch eines Orgas­mus vor.

Viele Kritiker und Kritikerinnen sehen den Roman als den großen aktuellen, Amerika erklärenden Gesellschaftsroman. Insa Wilke weist auf Topeka als Ausgangsort der amerikanischen Pfingstbewegung hin, die der politischen Rechten nahesteht. Deren “In-Zungen-Reden” hört Wilke auch als “Gefasel”. Ben Lerner kreist um die Sprache, ihre Funktionen und ihren Missbrauch. Das ist ein wichtiges Thema der Genwart, nicht nur, aber am erkenntlichsten in den USA. Aber er lässt dem Leser kaum die Chance des Selbterkennens, der Autor schüttet ihn mit Apperzeptionen zu. (Überschrift des letzten Kapitels: “Thematische Apperzeption”) “Die Topeka Schule” ist kein politischer Roman, auch wenn Namen von Politikern vorkommen. Der Roman selbst stiftet die Deuter an, alles Mögliche heraus- oder hineinzulesen und damit Richtung und Perspektive zu verlieren. “Wenn die Zeiten unübersichtlich sind, wird oft die Sehnsucht nach einer great american novel spürbar, dem definitiven Roman, der die vergangenen Jahrzehnte erzählerisch sortiert und wenigstens im Rückblick folgerichtig und plausibel erscheinen lässt.“ (Felix Stephan) Das ist aber doch nicht Aufgabe der Literatur. „Inwiefern sind die rhetorischen Virtuositäten, die wir in der Kunst haben, eigentlich auch etwas, das wie „Schnellsen“ funktioniert? Was soll die Kunst dem entgegensetzen“ (Insa Wilke) Wenn der Roman „aber ins Dozieren gerät, wird sein Selbstwiderspruch offenbar: In seiner raumgreifenden Eloquenz ähnelt er fatal der Sprechweise, die er überwinden will.“ (Felix Stephan) Er nahm „gleichzeitig zwei Blickwinkel ein: er sah sich selbst unter ihren Ästen und betrachtete sie zugleich von oben; er schaute hinauf zu sich selbst, wie er hinabschaute.“ Selbstreferentielles Mansplaining:

Er redete schon eine ganze Weile.
Als er sich umdrehte, um festzustellen, welche Wirkung seine Rede gehabt hatte, war Amber verschwunden.

2-3

Fünf Fragen an Ben Lerner

Ben Lerners Kurzgeschichte The Media vorgelesen von ihm selbst


Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: