Ronya Othmann:
Die Sommer

Leyla. Sie ist 17, geht in der Nähe von München aufs Gymnasium, interessiert sich für Ausgehen, Abhängen, Klamotten, die Hobbies deutscher Mädchen der Jetztzeit. Leylas Mutter ist Deutsche, eine „falsche Heirat“, wie Vaters Verwandte sagen, denn der Vater ist êzîdischer Kurde (jesidisch, sagt man in Deutschland). Es gibt viele Verwandte und sie leben in einem abgelegenen Dorf im gebirgigen Nordosten Syriens, an der Grenze zur Türkei, Kurdistan. Leyla besucht das karge Dorf in jeden Sommerferien, „Die Sommer“ werden ihr zur Heimat, besonders zur Großmutter fasst sie Vertrauen. Natürlich sind ihr Blick, ihre Beobachtung, ihr Erleben auch von Deutschland bestimmt, aber es ist auch „ihr Dorf“, ihr Leben in einer vergehenden Welt. Die Gerüche, der Geschmack, das Schlafen, Kochen, die Tiere, die Frauen und die Männer, Mythen und Normen, Routinen und Kommunikation, Tee und Musik.
Im Dorf waren ihre Tage und Jahre getaktet in Feste und Erntezeiten, in Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge, in Morgengebete und Abendgebete, in das Füttern der Hühner und die Arbeit auf dem Feld, in das Backen von Brot und das Einlegen von Kohl, in das Bewässern des Gartens und den Tee mit den Nachbarn. (…) Im Dorf war nie niemand da, es gab keine Klingeln, die Türen waren immer offen, die Nachbarn kamen und zogen die Schuhe vor dem Haus aus, ein richtiger Haufen von Schuhen und Plastikschlappen. Die Nachbarn blieben zum Tee, gingen erst irgendwann viel später wieder, und gleich darauf kamen die Freunde des Großvaters, und irgendwann schliefen Leyla und die Cousins auf dem Hochbett in einer Reihe ein, neben ihnen am Rand die Großmutter. (…) Später fragte sich Leyla manchmal, ob sie sich weniger allein fühlen würde, wenn sie nie im Dorf gewesen wäre. Ob sie, wenn sie nicht wüsste, dass sie allein war, sich einfach nicht allein fühlen könnte. (…)Alles bedeutete etwas. Man soll nicht auf die Erde spucken, weil auch die Erde heilig ist, sagte die Großmutter etwa, während sie im Hof vor der Küche saß und das Gemüse für das Abendessen schnitt. (…) Den Namen des Bösen soll man niemals nennen, fuhr die Großmutter fort, als Leyla ihr die Petersilie reichte. Weil Gott keinen Widersacher kennt, sagte sie, aber das habe ich dir schon gesagt. Man soll auch keine Schlangen töten, sagte die Großmutter, während sie die Petersilie im Spülbecken wusch, denn die Schlange ist ein Zeichen der Jahreszeiten, der Zeit und des Weges.
Die Frage nach der Herkunft. Den Wurzeln. Die Frage, wer man ist. Ddie êzidische Version:
Wie die Großmutter es ihr gesagt hatte: Sie, Leyla, vom Stamm der Xaltî, vom Xûdan der Mend, aus der Kaste der Murids, war ein Kind vom Volk des Engels Pfau. Das kam ihr sehr bedeutsam vor.
War jedoch Zozan in der Nähe, vermied Leyla es, das Bild zu küssen. Sie konnte nicht genau sagen, weshalb, vielleicht aus Angst, sich vor Zozan lächerlich zu machen. Sie selbst jedenfalls hatte Zozan nie dabei beobachtet, wie diese das Bild küsste oder auch nur beachtete. Auch sah sie Zozan nie beten.
Als Leyla aber eines Tages das Bild küsste, kam Zozan doch zufällig gerade ins Zimmer. Zozan lachte. Du kannst es so oft küssen, wie du willst, rief sie, das macht aus dir noch lange keine Êzidin. Êzidin ist, sagte sie und klang dabei wie eine Lehrerin, wer einen êzidischen Vater und eine êzidische Mutter hat. Du bist keine Êzidin, denn dein Vater hat eine Deutsche geheiratet.
Das stimmt nicht, sagte Leyla leise und stand trotzig in der Mitte des Zimmers. Es geht immer nach dem Vater.
Die Frage nach der Herkunft. Den Wurzeln. Die Frage, wer man ist. Die individualistische deutsche Version:
Ist es nicht schwierig, so zwischen den Kulturen aufzuwachsen? Dein Vater ist sicher streng? Trägt deine Mutter Kopftuch?
Antwortete Leyla, nein, wir sind keine Muslime, nein, wir sind keine Araber, nein, wir beten zu Hause nicht und fasten auch nicht an Ramadan, aber ja, meine Oma und meine Tanten tragen Kopftücher, dann warf sie nur noch mehr Fragen auf. Sagte Leyla, wir sind Êziden, dann wussten die anderen gar nicht mehr, wovon sie sprach.
Alles an Leyla irritierte immer alle. Die Bäckerin im Ort, den Zahnarzt, die Apothekerin, die Lehrerinnen in der Schule.
Leyla stand vor dem Spiegel, betrachtete das verwässerte Blau ihrer Augen und ihre dunklen, fast schwarzen Haare. Leyla Hassan, dieser verräterische Name.
Mein Vater kommt aus Kurdistan, sagte Leyla, und die Leute antworteten darauf.- Kurdistan gibt es nicht. Mein Vater kommt aus Syrien, sagte Leyla dann, dachte an ihren Vater und schämte sich.
Bist du mehr deutsch oder kurdisch, fragte die Mutter der Schulfreundin. Deutsch, sagte Leyla, und die Mutter der Schulfreundin wirkte zufrieden.
Fühlst du dich mehr deutsch oder kurdisch, fragte Tante Felek. Kurdisch, sagte Leyla, und Tante Felek klatschte vor Freude in die Hände.
Du darfst nie vergessen, dass du Kurdin bist, sagte der Vater. Ich vergesse auch niemals, dass ich Kurde bin. Ich war im Gefängnis, weil ich Kurde bin.
Leyla bedeutet „Nacht“ , ihren Vornamen hat sie von kurdischen Kämpferinnen, Heldinnen der Familie, mit ihrem Familiennamen Hassan ist sie in Deutschland markiert.
Ronya Othmanns Roman hat drei Themen. Das erste ist das Leben im kurdischen Dorf. Ein Kosmos der ethnischen Strukturen. Die zweite Erzählung stammt vom Vater. Er spricht in der Ich-Form mit Leyla von seinen Lebensanschauungen und –entwürfen, von politischen Hintergründen, von seiner gefährlichen Flucht nach Deutschland.
Ich glaube nicht an Gott, sagte der Vater und spuckte die Schale eines Sonnenblumenkerns auf seinen Teller. Leyla nickte, sie hatte es schon tausendmal gehört. Der Vater erzählte es jedem, der es hören oder nicht hören wollte. Religion ist nur etwas für arme oder dumme Menschen. Für Menschen, die es nicht besser wissen. Religion ist Opium für das Volk, diesen Satz sagte der Vater auch immer wieder. Den Armen und den Dummen verzieh er, nicht aber denen, die er Fanatiker nannte.
Er ist politisch links engagiert. In Syrien gelten die Êziden als adschnabi, als staatenlos, sie haben keine Bürgerrechte, der Sprachraum schwankt zwischen Kurdisch, Türkisch, Arabisch. Als der Syrienkrieg beginnt, sitzt der Vater den ganzen Tag vor dem Fernseher oder Computer und schaut aus allen möglichen Sendern Nachrichten aus dem Nahen Osten. Das viele Ich-Erzählen irritiert etwas, da eigentlich Leyla die Protagonistin ist. Wenn von ihr in der dritten Person erzählt wird, wirkt das im Vegleich oft wie ein distanzierender Bericht. Aber es wollen eben auseinanderliegende Teile des Familienschicksals miteinander verbunden werden. Leyla ist zunächst zu jung, um das zu überblicken.
Im dritten Teil konzentriert sich die Geschichte wieder auf Leyla. Sie hat ihr Abitur und zieht zum Studieren nach Leipzig. Leyla will auch Arabisch lernen, ihre Aufmerksamkeit wird aber von Sascha beansprucht. Eine deutsche Liebe, Leylas Eltern sollen davon nichts erfahren.
Die Großmutter sagte oft zu Leyla: Wenn du groß bist, heiratest du Aram. Oder: Wenn du groß bist, heiratest du Nawaf. Auch alle anderen sprachen immerfort über das Heiraten, selbst der Großvater. Die Autokorsos, die dann über die Landstraßen fuhren, von den Dörfern in die Stadt, von der Stadt in die Dörfer, die laute Musik, die aus Lautsprechern dröhnte, die Frauen, deren Haare vor Haarspray starr waren, die geschminkten Gesichter, die langen Kleider, die jubelnden Menschenmengen. Nichts war hier wichtiger als die Hochzeiten, dachte Leyla. (…) Leyla war froh, dass der Vater in allen diesen Dingen auf ihrer Seite war. Ständig erzählte er allen, Leyla werde die Schule fertig machen, sie werde studieren. Leyla, sagte er stolz, wird Medizin studieren, oder Jura. Und dann wird sie an den Internationalen Strafgerichtshof nach Den Haag gehen. Meine Tochter, sagte er und hob den Zeigefinger, wird nicht früh heiraten. Das verbiete ich ihr. Bevor sie ein Studium abgeschlossen hat, darf sie nicht heiraten. Wozu heiraten, sagte der Vater, damit sie einem Mann die Wäsche macht und Essen kocht?
Leyla studiert Germanistik. Sascha ist eine junge Frau. Ronya Othmann hat mit Leyla mehr gemein als das Y im Vornamen. “Die Sommer” enthält mehr Kulturgeschichte, mehr Welt- und Regionalpolitik, mehr gestreute Informationen, als einem Roman eigentlich guttut. “Die Sommer” ist interessant, weil es ein typisches Schicksal eines Flüchtlingskindes der 2. Generation beleuchtet. In Deutschland geboren, aber “du darfst diese Geschichte nicht vergessen, sagte der Vater, das ist deine Geschichte, Leyla.” “Die Sommer” zeigt den schon länger hier Lebenden, die sich “Deutsche” nennen, dass man nicht als irrevelant abtun kann, was sich in anderen Gegenden der Welt abspielt. Dass man seine “Wurzeln” nicht von heute auf morgen kappen kann. Solche Geschichten sind wichtig und werden gerade viel geschrieben und gedruckt und ausgezeichnet und auch gelesen.
2020 – 285 Seiten
Ronya Rothmann liest aus “Die Sommer”
bei zehnseiten.de (15 Minuten)
FAZ-Autorengespräche: Ronya Othmann
über ihren Roman „Die Sommer“ (24 Minuten)
Artikel „Jesiden“ bei wikipedia
Ausführliche Information üder Jesiden
„OrientExpress“ – Kolumne von Ronya Ortmann bei der taz

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