Nachrichten vom Höllenhund


Adler
25. Dezember 2020, 16:34
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Helena Adler:
Die Infantin trägt den Scheitel links

Home Sweet Home“ (Kapitel 1). Die Hölle. Die Barbaren. „Meine Hände sind klein, babyweich wie Pfoten. Ich blicke in die Runde der Bestien. Der Vater ein Grizz­ly, die Mutter ein Greifvogel mit Frauenkopf und die Schwestern, o Gott, die Schwestern! Zum Nachtisch riecht es milchig süß und leicht nach Verderben. Ein verstörender Geruch nach Frischgeborenem und Er­würgtem.

Helena Adler holt sich Inspirationen aus dem 16. Jahrhundert: “Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun ani­mieren Sie es.” Das österreichische Dorf kann man im Renaissance-Panoptikum wiederfinden, “Kinderspiele”, eingefroren im Inferno des Zuhauses.

Die Mutter, der Vater, die etwas älteren Zwillingsschwestern. “Krallen, Klauen, Hackebeil.” “  “Denn dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit«, sagen sie feierlich, und ich wünschte nichts sehnlicher, als dass ich an Gott glaubte. “Im Dorf nennt man mich Satansbrut. Oder Satansbraut. Beides verstehe ich nicht.” Un dann fällt die Kerze um, das Stroh beginnt zu lodern. „Ich bemerke nicht, wie die Kerze umfällt. Das Stroh zu lodern beginnt. “Die Holzwände zu knistern. Ich suhle mich im Dreck meiner selbst diagnostizierten Sozialverwaisung, während neben mir der Stall abbrennt und mein Kinderreich rodet.”

Die Familie bietet Schutz vor Ungemach und ist deshalb ein bitter umkämpfter Platz. Das jüngste Kind ist der besonderen Obhut ausgesetzt und kann nur überleben, kann nur ein ICH werden, wenn es lernt und übt, Widerstand zu leisten. Für Mädchen gilt das doppelt. Das Dorf ist eine Gemein-Schaft und bietet Schutz vor Fremden und solchen, die nicht so sind, wie das Dorf-WIR. Man darf der Gemeinschaft aller gegen alle nicht  abhanden kommen, beschützt werden kann nur, wer beobachtet wird – und beobachtet wird jeder. Und jede erst recht. Beobachtung heißt Kontrolle, nur dabei steht das Dorf zusammen. Der “Irrgarten der Gnadenlosigkeit”. Jeder Dorfroman lässt das ahnen, verkauft sich aber in seiner “charmant idyllisierenden oder mild elegischen Ausprägung“ (Kristina Maidt-Zinke, SZ) als Idylle. Die Zeit vergeht nur als Jahreszeit, die Festtage planieren alles. Sogar der Pfarrer wird erträglich ertragen.

Helena Adler preist ihre “Abscheu vor dem Dickflüssigen”. Sie macht die Verhältnisse transparent. Ein knallharter Reality-Roman, mit Lust am Dreckigen, an Infamem, der “Nachgeburt”. »Die Nachgeburt ist etwas ganz Natürli­ches, der Rest von der Geburt, so wie beim Kuchenes­sen die Brösel. Oder vom Apfel das Gehäuse. Nicht gif­tig, aber ungenießbar. Das mit dem Teufel ist wieder eine andere Sache.« Das nachgeborene Mädchen härtet sich ab, kämpft sich durch, wird cool. “Ich zeige ihnen beide Mittelfinger und wachse einen Meter.”

Ich möchte einmal Kunst studieren. Ich möchte auf einer Body Farm nackt Verwesungs­prozesse dokumentieren. Ich möchte ein Stück von meinem Bauchfett kosten. Ich möchte mit Rilke, John Steinbeck und Samuel Beckett vögeln. Nein, ich will von ihnen gevögelt werden. Ich will meinen Schwes­tern einen Testflug ins Weltall spendieren. Ohne Rückfahrticket. Ich will die Schwestern zur Ernte am Watschenbaum zwingen. Ich möchte meinen Namen auf Infantin ändern. Und den der Schwestern auf Wol­pertinger. Ich möchte unseren Stammbaum fällen, die einzelnen Äste mit der Axt zerteilen und mit fremden Ästen veredeln. (aus Kapitel 13: Die Freiheit führt das Volk)

Die Flucht gelingt, die Erinnerung bleibt. Sie bleibt böse, aber der Abstand relativiert manches. “Ich lege meine Waffen nieder. Dann trinke ich Glet­schermilch zum Frühstück und stille mein Kind. Da­bei bemerke ich, wie ich selbst zu einer Wundergläu­bigen geworden bin. Und zu einer Mutter. Wie meine Mutter.

Die Zutaten sind die gleichen, wie sich auch die Dörfer gleichen. Helena Adler würzt deftiger, haut auf die Realitäten, findet schön brutale Bilder, Vergleiche, Anspielungen, aus dem Fernsehen, aus den Märchen, aus Sagen, “Überzeichnung, Übertreibung und die groteske Zuspitzung von Bauernhof-Klischees sind Adlers liebste Stilmittel“ (Kristina Maidt-Zinke). Das hebt ihren “Dorfroman” von anderen ab, das hat sie auf die Listen des deutschen und österreichischen Buchpreises gehoben. Sie hat einen neuen Namen angenommen, lebt aber nicht weit entfernt von ihrem Geburtsort. Was authentisch ist an ihrer rustikalenVivisektion ist nebensächlich, man freut sich an ihrer auch sprachlichen Phantasie. Die Anklage ist eher existenziell als sozial oder politisch. Die Kapitel tragen die Namen bekannter Kunstwerke, meist Gemälde, manchmal auch Installationen (Beuys, Zeige deine Wunde). Dank einer Liste im Anhang sind sie leicht nachzuschauen.

»Gussi, Gussi, Hola, Hola«, hast du geschrien, wenn du die Kühe in den Stall getrieben hast, und ich habe es dir nachgemacht. Du hast nur den Vater verdro­schen, nicht aber die Kühe. Und der Vater hat dann die Kühe verdroschen, nicht aber uns. »Wen soll man auch verdreschen, wenn man lauter Mädchen hat«, fragte der Vater im Wirtshaus in die Runde und wurde von allen anderen Säufern bedauert. Mädchen durften nur von Müttern verdroschen werden. Die Mutter hat sich beklagt, während sie die Ärmel hochgekrempelt hat, »aber einer muss es ja machen, Himmel, Arsch und Zwirn!« Denn irgendwer muss auf einem Bauernhof immer verdroschen werden. Irgendwer muss sein Ge­sicht und seinen Arsch hinhalten. Und irgendwer muss Stock und Gürtel in die Hand nehmen und zu­schlagen. bis sich der Orkus öffnet.

2020 – 185 Seiten

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