Elizabeth Strout:
Die langen Abende

500 Kilometer sind es von Portland bis New York City. Es ist die Distanz zwischen Provinz und Welt, die Distanz zwischen Jung und Alt, zwischen Leben und Sterben. Maine ist der Bundesstaat ganz rechts oben in den USA, viel Wald und Meer, wenig Menschen, überwiegend katholisch und liberal.
In Bob schwoll eine Traurigkeit an, die er seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. Er hatte seinen Bruder vermisst – seinen Bruder! -, und sein Bruder vermisste Maine. Aber sein Bruder war mit einer Frau verheiratet, die Maine hasste, und Bob machte sich nichts vor: Sie würden nie mehr hierherkommen. Jim würde den Rest seines Lebens im Exil in New York City verbringen. Und Bob den Rest seines Lebens im Exil in Maine. Er würde nicht aufhören, Pam zu vermissen, er würde nicht aufhören, New York zu vermissen, auch wenn er weiterhin einmal im Jahr hinfahren würde. Er war hier im Exil. Und die Seltsamkeit von alldem – wie sich das Leben gefügt hatte, für ihn, für Jim, ja sogar für Pam -, wie ein ganzer Ozean der Traurigkeit fühlte es sich an.
Maine ist die Protagonistin in Elizabeth Strouts Roman „Die langen Abende“. Crosby nennt sie den Ort, an dem Olive Kitteridge lange Lehrerin war, sie ist so nüchtern wie ihre Disziplin. Kurz angebunden, manche empfinden sie als abweisend. Im Original heißt das Buch „Olive, again“, Strout hatte Olive Kitteridge schon 2007 zur Titelheldin eines Romans gemacht, auf Deutsch „Mit Blick aufs Meer“ – und jetzt „Die langen Abende“ so pathetisch banal wie nichtssagend übertragen. (Ja > der Buchmarkt > die Zielgruppe.)
Der Roman ist eigentlich eine Geschichtensammlung. In Crosby treffen sich – meist ältere – Leute und es entwickeln sich Gespräche. Worüber wird gesprochen? Eigentlich über nichts. Also über das Leben. Und das Sterben. Und das, was dazwischen liegt: das Alter. Über den Familien-Knatsch, über die Hoffnungen von früher, die sich als Illusionen erwiesen, über die, die gestorben sind, von selbst oder mit eigener Hilfe, über die, die – noch – leben. Die Kinder sind weggezogen in die Welt, haben keine Zeit für Besuche, sie haben falsch geheiratet, die Enkel sind verzogen. Man ahnt, dass man selbst als Mutter nicht alles richtig gemacht hat. Der Lauf der Dinge wird zurückgedacht aufs Private. Wie soll man sonst seinen Platz behalten. Tiefgreifende Gedanken im Verfliegen. Elizabeth Strout erzählt mehr als „lange Abende“.
Betty seufzte:
Ich denke manchmal, wenn ein Kind so weit wegzieht, dann versucht es, Abstand zu etwas zu gewinnen, und das bin in diesem Fall ja wohl ich.«
Und erst da begriff Olive zur Gänze – in gewisser Weise begriff sie es allen Ernstes erst jetzt-, warum Christopher in New York lebte. »Das stimmt wahrscheinlich«, sagte sie langsam, während sich der Schmerz wie ein feines Netz in ihr ausbreitete.
Das Nichts wird immer beschränkter, immer wichtiger. Olive Kitteridge spricht in vielen der Geschichten mit, läuft in manchen einfach mal kurz durchs Bild. Nachdem auch ihr zweiter Mann gestorben ist, zieht sie sich zunächst ins zu groß gewordene Haus und dann ins Altenheim zurück. Das Weiterleben wird beschwerlich und reduziert sich aufs Wesentliche. Das schien mir zunächst als nebensächlich, ich las es als bieder und spannunglos weg, der Tratsch aber gewinnt Konturen in seiner Reduktion, ja, berührt.
Sie hatte das Einzelbett aus dem Gästezimmer in dem Haus mitgebracht, in dem sie mit ihrem zweiten Mann Jack gelebt hatte, und einen kleinen Holztisch, den sie zusammen mit ihrem ersten Mann besessen hatte. Henry. Und dazu noch ein Schränkchen, ebenfalls aus Henrys Zeiten. Es war Jacks Vorschlag gewesen, diese Möbel bei ihnen im Keller einzulagern, und jetzt war sie darüber sehr froh. Auf diese Weise konnte sie ein Stück von Henry um sich haben. »Danke, Jack«, hatte sie laut gesagt, nachdem die Umzugsleute gegangen waren. Und dann hatte sie gesagt: »Und danke, Henry.« Auf dem Schränkchen hatte sie ein Foto von Henry stehen und daneben ein kleineres von Jack.
“Die langen Abende” ist ein Familienroman. Mit vielen Dialogen, Alltagssprache, leicht und schnell zu lesen. Keine Analysen, kein Kitsch, Klischee schon, viel vertraute Heimeligkeit, die Suche nach Intimität. Die Gesellschaft lässt das immer weniger zu, auch die Provinz ist kein Refugium. Am Rand dosierte Tabubrüche: die eigene Inkontinenz, Empörung über Obsessionen von Bekannten. „Es ist, als klappe Elizabeth Strout die Fassade von Puppenhäusern auf, die mit dem zeitgenössischen Wissen um Zerrüttung, Kindesmissbrauch, Vernachlässigung und häusliche Gewalt möbliert sind.“ (Catrin Lorch, SZ) Das Individuum muss sich seinen Platz finden – oder erträumen. “Über Politik wird hier nicht geredet. Haben Sie mich verstanden?” Da ist Olive rigoros. (Nur einen Schlenker erlaubt sich Elizabeth Strout: Olive ägert sich über Bettys Autoaufkleber „mit dem Namen dieses orangehaarigen Kotzbrockens, der jetzt Präsident war”, sie hätte fast “den nächsten Herzinfarkt bekommen”.)
Wichtiger sind aber doch die Jahreszeiten, das Blühen und Verwelken.
Und so saß sie da und betrachtete den Himmel, die Wolken hoch oben, und dann sah sie hinunter zu ihren Rosen, die sich phantastisch gemacht hatten in dem einen Jahr. Sie beugte sich vor und schaute genauer hin – da, gleich hinter der Blüte dort kam noch eine Knospe! Das machte sie richtig froh, der Anblick dieser neuen kleinen Rosenknospe. Und dann lehnte sie sich wieder zurück und dachte an ihren Tod, und das Staunen und die Beklommenheit ergriffen aufs Neue von ihr Besitz.
Er würde kommen.
»Tja-ja«, sagte sie. Und sie saß noch viele Minuten so, ohne recht zu wissen, was sie dachte.
2019 – 350 Seiten

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