Anna Prizkau:
Fast ein neues Leben
(Erzählungen)

Anna Prizkaus Erzählungen sind Mosaiksteine. 12 Geschichten auf 100 Seiten, manche nur fünf Seiten lang, verfugte Splitter, die das „neue“ Leben mit dem „alten“ zu einer Biographie zusammenlegen. Russland, Deutschland. Alte Sprache, neue Sprache, altes Land, neues. Das sind vorläufige Bezeichnungen, man lebt im Zwischenraum, will ankommen, dazugehören, ist aber noch in der Herkunft verhaftet, die einer Steine in den Weg legt, die eine verwurzelt, einer Freiheiten nimmt, zumindest einschränkt. Diese Friktionen sind spannend, sind keine neuen Phänomene, haben aber literarische Konjunktur. Stanišić, Ohde, Othmann …, die Erzählungen von der – kulturellen, sozialen – ‚Eroberung’ des neuen Landes passen recht gut in die „gegenwärtige Mode, zwischen Autor und Erzähler bzw. Protagonist keinen Unterschied zu machen“ (Erik Schilling).
Für die, denen das neue Land ihr altes ist, ist der leise Clash der Kulturen interessant, weil man immer klarer sieht, wenn man von außen blickt, wenn man so im als „normal“ Empfundenen das Absurde entdecken kann. Andere Höflichkeiten, andere Essgewohnheiten, andere Rollenverteilungen, andere Bürokratien. (Als älterer Leser gesellt sich dazu das Erstaunen über die Empfänglichkeit für den kulturellen Austausch, für die Universalität des Schämens über das „Alte“ gegenüber dem vermeintlich überlegenen Neuen.)
Ist es Zufall, dass die letzten Bücher, die ich zu diesem Thema las, von – jungen – Frauen stammen? Anna Prizkau wurde 1986 in Moskau geboren und kam 1994 mit ihrer Familie nach Deutschland. Auch ihre Biografie zeigt, wie offen die Zukunft den Neugierigen steht. (Es bleibt die Frage, wie man diese Wissbegier erwirbt. Wahrscheinlich stehen dahinter anspruchsvolle Eltern. Oder solche, gegen die man ankämpfen kann.) Je jünger man ist, wenn man ins neue Leben eintritt, desto schneller lernt man, auch und besonders die Sprache. (Lustig: Anna Prizkaus Beoabachtung „Er zog die Schultern hoch und runter.” und danach “Ich schob wieder die Schultern hoch und runter.” – Aber vielleicht ist das genauer als das erwartete ‘Achselzucken’.) Weniger genau sind bei den jung Emigrierten wohl die Erinnerungen an das “Alte”. Besonders heikel, wenn Verwandte ins Spiel kommen, Großmütter etwa oder irgendwelche Tanten. Vermittler können hier die Eltern sein, andererseits verzögert sich bei ihnen die Einübung in das “Neue”. Hierbei könnten die Kinder helfen, wenn sie sich nicht ihrer schämen.
“Er wollte mit mir kommen, das wollte ich nicht. Denn meine Eltern waren zu Hause. Ich war mir sicher, wenn er sie sehen, mit ihnen sprechen würde, dann würde er nicht mehr mit mir gehen wollen. Nicht, weil ich glaubte, dass Marcel etwas gegen Fremde hatte. Ich glaubte nur, er würde dann begreifen, dass ich nicht war wie er, nicht einmal wie die anderen.”
Dieses Selbstbild resultiert aus Erfahrungen, die man nicht abwehren kann, wenn man die Mechanismen nicht kennt, wenn man noch nicht perfekt ist in dem neuen Leben. „Das fremde Leben in einer fremden Sprache in einem fremden Land. Das Lügen im neuen Land. Das Schweigen und Verschweigen. Der Wunsch, so auszusehen, so zu sprechen wie alle anderen. So zu sein wie sie. Die Angst vor dieser einen Frage: Woher kommst du?„
»Ein Spiel zum Kennenlernen«, sagte die Studienleiterin damals. Das war drei Jahre vorher, im Herbst gewesen, im Masterstudium. Alle Studenten fühlten sich erkältet und erwachsen. Sechzehn halb junge Menschen, die nach Theater aussahen. Ein Seminarraum, der nach Grundschule aussah. Dann kam das Spiel. Die Studienleiterin sagte, dass der Raum Deutschland sei. Norden an der Tafel, Süden hinten. Man musste dorthin gehen, wo man herkam. Die meisten standen an den Fenstern, weil da der Westen war. Ich stellte mich auch an die Fenster, in den Westen, weil ich schon 18 Jahre an den Fenstern lebte. Die Studienleiterin schaute auf eine Liste, dann zu mir: »Nein, nein, nein! Sie müssen in den Osten, wo Sie geboren worden sind. So geht das Spiel.« Sie öffnete die Tür des Seminarraums. Und ich stand dann allein im Flur, während die anderen an den Fenstern lehnten, sich kennenlernten, Small Talk machten.
Die vielen Beobachtungen verwebt Anna Prizkau in ihr Erzählen und diese Überlagerungen bilden die literarische Qualität ihrer Geschichten. Nicht die Thematik, die findet sich ähnlich in den meisten Migrationserzählungen. (Der Boom wird sich verlaufen: „Hier interessieren die Konflikte Ihrer Protagonisten niemanden. Der Stoff ist OUT.“) ) Die Schlaftabletten der Mutter tauchen schon in der ersten Geschichte auf, in der letzten erfährt man, was zu ihnen führt.
Seit diesem Sommertag, an dem meine Mutter zum Frühstück zwei Packungen Schlaftabletten schluckte und danach immer wieder in der Klinik war. Es gab keine Gespräche mehr. Es gab ein »Wie geht es ihr?« – »Es geht schon, mach dir keine Sorgen« und ein »Was gab’s bei euch zu essen? – »Dies und das«. Sie lebten immer noch zusammen, obwohl sie sich nicht liebten.” (Thanky Panky) – “»Du sollst so was nicht sagen«, sagte sie, setzte sich an ihren Sekretär, fing an zu schreiben. Sie schaute mich nicht an, sie sagte nichts mehr. Ich sagte auch nichts mehr und schlug die Tür hinter mir zu. Das, was sie schrieb, sah ich erst später, nach der Schule, es war auf Deutsch, sie schrieb: »Ich bin an allem schuld.« Der Brief lag auf ihren Zwetajewa-Gedichten, daneben die zwei Tablettendosen. Sie waren leer.
An diesem Tag war Mathe ausgefallen. (Boss)
Ausbruchsversuche der Eltern, Sackgassen ihres Weges in das neue Leben. Anna Prizkau nutzt Symbole, um ihre Beobachtungen zu fokussieren, zu zentrieren: die Hand auf den Oberschenkeln, der nicht ganz geheure Fahrstuhl, die Eisbecher auf der Sonnenterrasse, die Skulptur eines “Fackelläufers”.
Die Stories sind für sich zu knapp, um sie allein verstehen zu können, sie stehen in keiner Chronologie, figurieren im Set aber “fast ein neues Leben” der Erzählerin bzw. Autorin. Anna „Prizkaus kurze, harte Geschichten bezeugen mit ihren kurzen, geschliffenen Sätzen den Triumph der Literatur über ein Schreiben, das seine Autorinnen, Protagonisten und Leserinnen im Käfig der „Identität“ gefangen hält. Die einen sitzen drin, die anderen schauen drauf.“ (Ulrich Gutmair, taz)
Sehr angetane Rezension von Marko Martin in der
Jüdischen Allgemeinen
Anna Prizkau im taz-Gespräch mit Ulrich Gutmair (50 Minuten)
Anna Prizkau – Autorenseite bei der F.A.S.
2020 – 110 Seiten

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