Filed under: - Belletristik
Bov Bjerg: Serpentinen

Der Vater trägt zwei Hypotheken: Vorfahren hatten sich im Nationalsozialismus verfangen und viele männliche Mitglieder der Familie hatten ihr Leben durch Suizid beendet. Traumata, die man aufarbeiten müsste, die man aber auch pflegen kann. Alleinstellungsmerkmale, zwiegespalten zwischen Stolz und Niedergeschlagenheit. Bedrückend aber wird der „Fluch“, weil man befürchten muss, dass auch die Kinder von ihm erfasst sind. Der Vater nimmt seinen Sohn (7) mit auf eine Fahrt über die Höhenwege der Schwäbischen Alb, deren Serpentinen natürlich auch die schicksalhaften Windungen des Lebenswegs symbolisieren.
Solange der Vater da war, warst du unsterblich. Wenn der Vater tot war, wusstest du: Du bist als Nächster dran.
Mein Vater war nicht nur tot. Er zeigte auch den Weg. Ich konnte ihm hinterhergehen.
Jedes Scheitern erinnerte an diesen Weg.
Bald war es so weit. Ich würde den Jungen nicht im Stich lassen.
Wie kann man das Kind vor dem ungewissen, aber doch dräuenden Schicksal bewahren? Für die Auflösung in der (Gesprächs-)Therapie ist der Sohn noch zu jung, viel Betreuung kann aber auch zu viel Belastung werden. Der Vater ist ja der alles andere als der zuverlässige Für-Sorger. (Wäre es nicht am besten, dem Kind das Weiterleben ganz zu ersparen?)
Das Kissen war frisch bezogen.
Der rote Schienenbus war verschwunden.
Ich las laut: »Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn. Er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.«
Der Junge hatte die Augen geschlossen. Er rückte noch näher an mich heran.
Ich las: »Denn dieser mein Vater war tot und ist wieder lebendig geworden. Er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.«
Die Übersetzung störte mich.
Ich sagte: »Das muss heißen: Und sie feierten ein Fest. Fingen an, fröhlich zu sein? Das ist doch blöd. Ein Fest! Sie feierten ein Fest!«
Der Junge murmelte: »Mein Sohn.« Ich sagte: »Was?«
Der Junge murmelte: »Mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, nicht mein Vater.« Der Junge schlief ein.
Ich wartete noch einen Moment.
Dann stand ich auf.
Ich deckte den Jungen zu. Ich hob seinen Kopf an und zog das Kissen darunter heraus. Ich legte den Kopf auf das Laken, flach.
Ich hielt das Kissen in meinen Händen.
Der Junge hatte die Wimpern und den Mund seiner Mutter.
So weit waren wir gekommen.
Bald hatten wir es hinter uns.
Nein. Er tut es nicht. Er versucht, sein Kind zu behätscheln, ihm manches zu erklären, vieles zu ersparen. Kauft ihm auch ein Eis. Die Vater-und-Sohn-Fahrt will den Sohn vor dem Bösen bewahren, hätte er ihm die Fahrt erspart, hätte dies mehr geholfen. Beiden. Der Vater ist trotz seiner Beflissentlichkeit zu wenig kontrolliert. Das darf ein Roman-Vater natürlich sein, er darf seine Anstrengungen ausstellen, er wird ja in den Roman geschrieben, um seine Gedankenverwerfungen sichtbar, im besseren Fall spürbar zu machen. „Die Geschichte vom „verlorenen Vater“.
Ich gehörte nicht zur Hochschule. Als Student nicht und als Professor erst recht nicht. Ich würde nie dazugehören.
Gesellschaftliche Anlässe waren schwer zu ertragen, die Universitätsempfänge, die akademischen Feiern, die Preisverleihungen, selbst das banalste Meet and Greet hielt ich kaum aus. Herumstehen. Joviales Nicken.
Am Schreibtisch war ich allein, da gehörte ich dazu. Da gehörte ich zu mir. Sobald ich nicht mehr allein war, gehörte ich nicht mehr dazu.
Er findet keinen Platz in der Small-Talk-Häppchen-Gesellschaft der BRD. Er sieht seine Zugehörigkeit verbaut durch seine Ahnenreihen, auch durch seinen sozialen Status. Vieles davon wirkt kokettiert, Beiläufiges kippt ins Unbehagliche, lädt sich mit Bedeutung auf. Der Sohn ist der Therapeut, der sich die Geschichten des Vaters anhören soll. „Gibst du mir ein Bier, bitte?“ Der Vater trinkt ständig, der Vater hält alle für Nazis. „M. sagte: »Du mit deinen Nazis. Du siehst überall Nazis!« Ich sagte: »Nazis SIND überall!«”
Die Gedanken mäandern, von der Alb-Reise in die Vergangenheit, in die Befindlichkeit, in … Gedanken sind nicht linear, nicht chronologisch, nicht vernunftlogisch. Bov Bjerg überträgt dem Leser die Ordnungs-, die Kontrollarbeit.Die Lese-Mühe hat sich für mich nur bedingt gelohnt. Es dauert, bis ich mich in Komposition und Stil eingelesen habe. Es kommt der Verdacht auf, die Bewältigungsleistung von Autor/Erzähler erschöpfe sich in gespreizter Ambition.
Kunst war für Bonzen und Schwuchteln. Lange hatte ich in das Geläster der Alten eingestimmt. Ich war ein verständiger Junge. Ich konnte gut verachten.
Jetzt ahnte ich, dass das falsch war.
Und ich ahnte, dass der Gott der Erwachsenen erfunden war und ihre Beterei gelogen.
Kunst bedeutete: Es gab noch etwas anderes.
Kunst war das, von dem die Herkunft keine Ahnung hatte.
Ich befreite mich von Arschlöchern wie mir. Kunst war vielleicht Liebe.
Anderen Lesern ergeht es ähnlich. „Sehr konstruiert wirkte alles – Depression plus Familiengeschichte plus Klassismus plus Provinz-Bashing, alles nur grob angedeutet und etwas lieblos gewürzt mit eingestreuter Nazi-Vergangenheitsbewältigung.“ Uwe Kalkowski) „Letztlich fehlt der Figur, die ernst genommen werden will (und muss), das Geheimnis. Seine Larmoyanz ist nicht nur platt, sie ist auch kalkulierbar.“ (Gregor Keuschnig)
„Bjerg (…) will mehr, er präsentiert seinen – ständig Bier trinkenden – Erzähler als einen unwilligen, sich selbst kasteienden Kommentator. Überall sieht dieser Spuren einer braunen Vergangenheit, wettert gegen den Autobahnausbau am Albaufstieg, gegen „prototypische Faschismusbächlein“, die sich durch die Dörfer ziehen, und gegen „Schwabenkitsch“. Und natürlich gegen sein bourgeoises Professorendasein, das er zusammen mit seiner Frau, einer Anwältin, führt und das er in einer der schwächsten Passagen, bei einem Honoratiorenempfang, wohlfeil denunziert. (…) So regt sich der Verdacht, dass „Serpentinen“ trotz seiner großen Momente ein Buch ist, das vor allem Eindruck machen will – mit seinem Suizidthema, seiner „Alles Nazis überall“-Perspektive und seinem parataktischen Stil, der Bedeutung suggeriert, wo nicht immer eine ist.“ (Rainer Moritz)
Ich sagte: »Erinnerst du dich an das Plakat mit dem Clown?«
Der Junge überlegte.
Er sagte: »Das hing an einer Hoftür, auf dem Weg zum Kindergarten.«
»Wenn wir daran vorbeigegangen sind, hast du immer gesagt, dass Clowns erschossen gehören.« »Wirklich?«
»Das hast du sogar noch gesagt, da war das Plakat schon lange fort.«
Der Junge lachte.
»Warum hast du das gesagt? Warum konntest du Clowns nicht leiden?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, weil sie mich nicht in Ruhe lassen. Ein Clown will immer was. Dass man lustig ist und so. Und er hört einfach nicht auf damit. Ja, eigentlich finde ich wirklich, dass alle Clowns erschossen gehören.«
Das „lesenswert“-Quartett diskutiert windungsreich über „Serpentinen“ von Bov Bjerg
2020 – 270 Seiten

Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar