Giulia Caminito:
Ein Tag wird kommen

Nicola und Lupo. Brüder – vielleicht. Die Familienverhältnisse in Serra de’ Conti sind nicht so, dass man die Stammbäume zuverlässig zeichnen könnte. Die Not ist groß im Dorf im Hinterland der Marken, die Mutter ist fast blind, der Vater ein Tunichtgut, die Kinder sterben früh, die Bäckerei der Ceresa arbeitet am Rande der Existenz. Der Pfarrer ist nicht nur fürs Heil der Seele da, Nella, die Schwester, wird ins Kloster gesteckt – und das gewiss nicht wegen ihrer Frömmigkeit.
Nicola ist der Schwache, er lernt lieber lesen als arbeiten, fürs Leben taugt er kaum, er zieht sich in sich zurück. Lupo, der Name gebietet es, ist der Kämpfer. Serra de’ Conti ist ihm zu eng, seine Wut führt ihn zu den Anarchisten, er will die Macht der Herren, des Staates, der Kirche wegbomben, er will ein rechtes Leben für alle. Nicola und Lupo, so unterschiedlich sie in allem sind, so sehr klammern sie sich aneinander, sie schlafen in einem Bett. Unter dem Bett liegt Cane, der kleine Wolf, den Lupo aufgelesen und an sich gebunden hat.
Um vier Uhr morgens kamen sie in ein verlassenes Dorf, nach drei Stunden Fußmarsch, die Nicola wie Tage erschienen waren, noch nie in seinem Leben hatte er sich so verausgabt, doch wenn er angefangen hätte zu weinen, wenn er angefangen hätte zu schreien, hätten sie ihn mit Fußtritten an die Front befördert, so hatte man ihm gesagt, entweder er spurte oder er war tot. (…)Ihr seid hier für Italien, hieß es immer wieder, ihr seid hier für Kalabrien und Sizilien, Ligurien und die Basilicata, Ancona und Rom, ihr seid hier für Männer und Frauen, ihr seid hier für die Kinder, die Neugeborenen, für die, die erst noch kommen, für die Straßen, die Kirchen, Paläste und Felder, ihr seid hier für das Land, ihr seid hier für den König. (…) Nicola war vorher noch nicht einmal in Senigallia gewesen.
Der Krieg reicht bis in die Marken. Die Österreicher fliegen Angriffe, Lupo muss sich verstecken, Nicola aber wird eingezogen, der sanfte Nicola. Wie alle leidet er, wie alle gerät er ans Ende seiner geringen Kräfte. “Man hatte ihnen gesagt, dass der Feind, wenn es ihnen nicht gelänge, ihn zurückzuschlagen, in die Ebene und die Täler hinuntersteigen und schließlich in ihre Dörfer gelangen würde, er würde in ihre Häuser eindringen, jeder einzelne Österreicher und jeder Deutsche würden in ihren Betten schlafen.”
Alle Körper werden bestattet, sagte der Kaplan immer, alle Körper, auch die zerfetzten, denn jedes Körperteil muss gesegnet werden.
Nicola ging näher hin, er roch den Gestank von Verbranntem und schmeckte die Säure des Gebräus, das er im Magen hatte und das ihm bis zur Zunge herauf aufstieß, von den beiden waren drei Arme geblieben, ein Fuß, ein halbes Gesicht, verstreute Knochen, vor allem aber Blut und alles, was aus dem Körper nie hätte austreten dürfen, das, was ihre Mütter in neun langen Monaten in Leber, Lunge und Darm verwandelt hatten und was der Krieg jetzt über Steine und Sträucher verstreut hatte.
Nicola überlebt, kehrt vom Heimaturlaub nicht zurück an die Front, schlägt sich zu Fuß durch in sein Heimatdorf. Lupo ist nicht mehr da, die Dorfbewohner werden von der Spanischen Gripe dahingerafft. Zur sozialen Not kommt die politische, der Krieg, und dann die Pandemie. „Der Krieg ging zu Ende, aber, wie die Priester sagten: Gott war noch nicht fertig mit ihnen.”
Das Kloster bietet ein gottverschriebenes Refugium. Für Suor Clara, die dunkelhäutige Äbtissin, die aus Äthiopien in den Norden geflohen ist, für Schwester Nella, für die Dorfbewohner, denen, wenn überhaupt, nur Gott geblieben ist. Das Kloster ist, wie der Name sagt, aber auch Klause, man kommt nicht mehr heraus, auch das Verhältnis zu den Dorfbewohnern ist ambivalent. Ein archaischer Ort, ein Relikt in einer Welt, die sich am modernen Nationalismus übt und dabei im Krieg versinkt. Nella hat keine Zukunft, Nicola überlebt und weiß nicht, wozu, Lupo will seine Anarchie in Amerika weiterentwickeln und landet im Treibsand der kapitalistischen Demokratie.
Ein Land ohne König, ohne Monarchie, ohne Tyrannen, ohne Papst und mit tausend Göttern, es war riesig, es enthielt alle und alles, es konnte dich verschlingen, aber auch deine Wunden lecken, so viele schon waren aufgebrochen, und so viele brachen noch immer auf mit der Vorstellung, den Lauf ihres Lebens zu ändern, den Krankheiten zu entfliehen, den Toten, den verfallenen Häusern, den müden alten Dörfchen, die an den italienischen Berghängen klebten und das Andenken an längst begrabene Mütter bewahrten.
Die Spanische Grippe forderte weiterhin Tote, der Krieg hatte nur Luft geholt, der Faschismus würde kommen, das Große Amerika würde Unschuldige auf den elektrischen Stuhl schicken, die Anarchie würde sich verstecken müssen, schuldig, verleugnet, verpönt und erinnert nur durch Bomben und Attentate, der Glaube würde zusammenbrechen, leer, falsch, elend, denkbar nur als Zepter, Krone und Inszenierung.
Die Halbpacht dagegen würde noch lange fortbestehen, und die Felder und die Weinberge, die Nussbaumhaine und die Eicheln und das Mehl würden in den Marken noch lange herrschen.
Denn, wie man weiß: Die Erde bleibt, während die Menschen fortgehen.
Giulia Caminito kokettiert im Nachwort mit derFiktionalität, die Nähe nicht ausschließt.
Trotz gründlicher Recherchen, der Sichtung von Dokumenten, der Besuche vor Ort, gibt es in diesem Roman nicht nur einige Wahrheiten, sondern auch viele Lügen.
Ich möchte die Leserinnen und Leser also dazu ermuntern, nicht alles zu glauben und von diesen Seiten keine verlässliche historische Zeugenschaft zu erwarten, sie haben andere Wurzeln, auch meine, durch die ich versuche, mich selbst kennenzulernen und zu wachsen; denn im Grunde bin ich Nicola Ceresa, derjenige, der Angst hat und im Kopf nicht ganz richtig ist, dem die Hände zittern und der auf Lupos schaukelnden Nacken blickt, während er die Dorfstraße hinuntergeht.
Die Erzählung beschwört die Archaik des ländlichen Italien Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie lädt ihren Roman mit gewichtigen Worten und einer ruralen Metaphorik auf. “Das Bett war zu schmal und zu kurz geworden, Laken und Decken reichten nie aus, und um es beim Schlafen warm zu haben, mussten sie beide eng aneinandergeschmiegt schlafen wie die zwei perfekt zusammenpassenden Hälften eines nie gepflückten Apfels.
Lupo fühlte, wie sein Körper größer wurde und sich streckte, anders wurde, als er immer gewesen war, und für ihn ungewohnte Dinge tat, er ächzte wie ein mit Wasser vollgelaufenes Boot, bereit zu kentern, die Planken zu sprengen. (…) Lupos Schultern waren Gebirge geworden, der Körper hatte sich zu den Wolken gestreckt, die Arme waren mächtiger, beim Gehen riss er mit Gewalt das hohe Gras an den Wegrändern aus, und Nicola hatte Angst, er könne sich verletzen, könne anfangen zu bluten wegen all des Grolls, den er im Lauf der Jahre still eingesteckt hatte, wie man es mit reifem Weizen tut.“
Die Abschnitte bestehen aus einem Satz, kein Punkt hält den Lesefluss an, wenig Zeit, um Atem zu holen, der Leser wird hineingezogen in den Strudel der Geschichte.
Wüstes Gestrüpp umzingelt die Stadt,
auf Stufen voller Blut verfolgt der Mond
entsetzte Frauen. Heulend sind durch
das Tor die Wölfe hereingekommen
Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich
Istituto Italiano di Cultura Berlino :
Incontro con l’autrice Giulia Caminito – Lesung (deutsch) und Gespräch (italienisch/deutsch)
2019 – 265 Seiten

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