Nachrichten vom Höllenhund


Wolff
14. Mai 2021, 13:47
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: , ,

Iris Wolff:
Die Unschärfe der Welt

Lange hatte sie sich eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit eingeredet. Irgendwann, dachte sie, wäre sie unbemerkt vom Rand in die Mitte vorgedrungen. Sie würde sonntags in dieKirche gehen und an allen anderen Feiertagen. Kuchen backen und Hühner schlachten, die noch immer die Glöcknerin für sie köpfen musste, weil sie es nicht über sich brachte. Sie würde mit Samuel Besuche machen, statt mit ihm unterm Pfirsichbaum zu liegen oder über die Felder zu spazieren.
Doch wie leicht täuschte man sich, weil das, was man glaubte und wünschte, unterdessen längst zu etwas anderem geworden war.
   Es gab keine Mitte für sie, keine Zugehörigkeit, und sie fürchtete, dass sie ihr Kind zum Verbündeten gemacht hatte. Etwas würde für alle Zeit hierher zurückkommen, oder ging von hier aus — die Richtung ließ sich nicht bestimmen. Der Grad des Glücks wurde hier festgelegt, der Grad der Freiheit, die notwendig war, doch jedes Dahinterfallen (das unvermeidlich war) würde Samuel feststellen müssen.
   An was würde er sich erinnern?  Das kühle Blech der Schubkarre, in das sie ihn setzte, wenn sie im Garten zu tun hatte. Den Geschmack der Nova-Trauben, deren harte Schalen er in ihre Hand spuckte. Den Geruch des Geißblatts an der rückseitigen Hausmauer. Den Korridor mit den zugigen Fenstern, die Küche mit der Speisekammer, aus der sie regelmäßig Mäuse verjagten. An die Nachmittage bei Nachbarn, wo ihn jeder verwöhnte, die ihm zugemutete Disziplin in der Kirche. An die Gäste, die von Juni bis September im Pfarrhaus übernachteten, den Zungenschlag der Rumänen und Slowaken, ihr Hochdeutsch oder den Banater Dialekt — vielleicht aber wären es ganz andere Dinge, die sie nicht bemerkte, nicht sehen konnte.

Natürlich: die Zugehörigkeit. Man sucht sie, weil man – meint, dass man – sie braucht. Aber: Sie ist brüchig geworden, dort, wo man lebt, wo man lebte. Siebenbürgen, Banat, Hermannstadt, Arad, der Marosch, das Dorf, das kennt man, obwohl auch dort alles anders geworden ist, man fremd geworden ist, die falsche Sprache spricht und weil auch das Land, Rumänien, unsicher geworden ist. Florentine lebt noch dort, ist dort noch zuhause, aber sie ist alt geworden. Die Zukunft der Jüngeren ist „unscharf“.

Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran. Sie mochte es, ihren Gedanken nachzuhängen, während sie Ribisel und Himbeeren zupfte, Trauben erntete, Äpfel pflückte – zuzuhören, was die Wörter miteinander verhandelten, welche Erinnerungen sie anrührten. Sie waren in einem unbestimmten Raum angesiedelt, in dem Denken und Fühlen ineinander übergingen.

Vier Generationen, ein existenzieller Bruch. Karoline und Johannes, die ältesten, sind noch heimisch in der kleinen Welt, die ihre Vorfahren aus der Pfalz und anderen südwest“deutschen“ Regionen donauabwärts besiedelt haben und die ihnen  zur – nicht zuletzt sprachlichen – Heimat geworden ist. Florentine und Hannes, der Pfarrer, versuchen zu bewahren, registrieren aber schon die Veränderungen und reagieren mit Beflissenheit oder, wie Florentine, mit Schweigen, mit Misstrauen den zu eindeutigen Wörtern gegenüber. Samuel, der Sohn, „erbt“ die Sprachenthaltsamkeit, spricht spät sein erstes Wort: zăpadă. Schnee. Nicht deutsch.

 »Erzähl mir von der Transilvania.«   Samuel sah von der Matratze herunter. Karline hob den Blick. Die Lichtschlitze der geschlossenen Fensterläden spiegelten sich in seinen Augen, bildeten eine Linie mit den geraden Brauen. Es herrschte keine Einigkeit darüber, welche Farbe seine Augen hatten. Hellbraun, sagten die meisten, doch Karline, die sich nicht zwischen Gänsegrau und Zimtbraun entscheiden konnte, attestierte ihnen mangelnde Phantasie.
  Sie sahen einander an, Karline auf dem Hocker, mit dem Rücken an den Matratzenturm gelehnt, der Junge auf der wassergrünen Matratze, zwei Handbreit unter dem Plafond.
Etwas beschäftigte ihn. Er war immer stiller geworden, je näher die Abreise rückte, was Karline bemerkte, obwohl oder gerade weil er grundsätzlich still war.
  »Die Transilvania?«
  Der Junge nickte.
  Sie hatte ihm diese Geschichte oft erzählt. Ob er die Abweichungen erkannte? Ob er merkte, was sie ausließ, hervorhob, wo sie aus lauter Lust übertrieb? Man musste beim Erzählen aufpassen. Kam man von einer vorgegebenen Spur in ungewisses Fahrwasser, konnte sich noch etwas anderes zu Wort melden, Sehnsüchte, Ängste, Wahrheiten. Sie waren in jene Kammer eingezogen, mit wandernden Türen und trüben Fenstern, und es schien ausgemacht, dass man nichts, am wenigsten Hoffnungen, ein für alle Mal hinter sich lassen konnte.
  Karline erwartete das Launische, Unberechenbare, Widersprüchliche geradezu. Die Leute erzählten ihre Geschichten auf seltsam feststehende Weise. Als wären sie genau so passiert. Dabei war, das ahnte Karline, jede Geschichte auf hundert mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.

 Das Fremde kommt unerwartet. Anfang der Siebzigerjahre tauchen Bene und sein Freund Lothar, Lehramtsstudenten aus der DDR, als Gäste auf. Sie waschen sich nackt am Brunnen und küssen sich. Später flieht Samuel mit einem Kleinflugzeug nach Deutschland und trifft dort einen der jungen Ostberliner wieder. Bene und Samuel fahren Ende 1989 nach Rumänien. Jetzt erst erfährt Samuel, dass er mit Stana eine Tochter hat: Livia. Schwierige Familienverhältnisse in schwierigen Zeiten. Iris Wolff widmet jedes der Kapitel (jede Erzählung) einer Person. „Wie Räder, die um ihre jeweilige Achse kreisen und zugleich miteinander verbunden sind, zentriert sich das Geschehen um wechselnde Figuren.“ (Meike Fessmann, SZ) Erst nach und nach erfährt man, in welcher Beziehung diese zu den anderen steht. Auch das macht das Erzählen ungewiss. Man muss mitraten, wie die Personen in das Geflecht eingebunden sind. Manches möchte man auch noch einmal lesen.

„Etwas kann so oft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst daran zu erinnern. Einige Geschichten werden immer wieder erzählt, Sinnzusammenhänge erneuern sich, bislang unbekannte Deutungen tauchen auf – und mit jedem Erzählen verändert sie sich, stetig, unmerklich. Einzelheiten werden hinzugefügt, andere ausgelassen. Irgendwo wächst die Unbestimmtheit, etwas rückt immer weiter fort, bis es ganz vergessen ist. An anderer Stelle wird etwas immer deutlicher, als sähe man durch blankes Glas.

Die Sprache ist poetisch, zart, nachdenklich, mit schönen Bildern, Kitsch liegt dabei nicht immer fern. Die Politik und die Geschichte spielen herein und bestimmen das Geschehen, doch Iris Wolff schreibt eher eine einfühlsame, schwebende, fluide Prosa. Die „Unschärfe“ der Welt. Iris Wolff wurde1977 in Hermannstadt geboren, emigrierte 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland und lebt in Freiburg im Breisgau. Die größte Liebe gehört – wie immer  – der Großmutter.

2020 – 215 Seiten

 

 Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

Liebevoller Buchtipp von Matthias Zehnder
(youtube – 6 ½Minuten)

Literarisches Zentrum Gießen: Lesung mit Iris Wolff
(youtube – 1Stunde15)

Druckfrisch-Gespräch mit Iris Wolff (9 Minuten)

+2

Lesefreundliche Darstellung


Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: