Mithu Sanyal: Identitti

Wow, dachte Nivedita, also sagte sie: »Wow.«
Postkolonialismus und Identitätsflausen. Privates bleibt Hirngespinst, Politisches wird absorbiert, in die Blase eingemeindet, in Wortbrei gegossen. Die Relevanz ist natürlich innerhalb der Gemeinde hoch, ja, füllt das ganze Denken, außerhalb derer, die sich ge- und betroffen fühlen, stelle ich mir die Frage: Will ich das wissen, will ich das lesen, will ich das nicht an anderer Stelle konkreter lesen? Ist/sind die Autorin und ihr Roman-Personal nicht Teil jener Kraft, die Erkenntnis will und Verwirrung schafft?
Saraswati schenkte Nivedita ein Vokabular und eine Sprache für ihr Leben. Und nicht nur ihr. Im Kreis der von Saraswati ausgewählten Studierenden kommunizierten sie in einem fantastischen akademischen Abkürzungscode miteinander in dem ein Wort ganze gewaltige Gedankenkonzepte ersetzen konnte: desi, happa, subaltern. Imagined communities, critical race theory, Interselectionalität. Und alle nickten wissend und bei jedem dieser Worte, zwei Silben, drei Silben, ein paar Zungenbewegungen nur, entstand ein ungeheuerliches, nie gekanntes Gefühl von Gemeinsamkeit, auch wenn die meisten nur vage Vorstellungen davon hatten, was eine imagined community sein sollte und Subalterne nicht einmal erkannt hätten, wenn sie ihnen mit Petersilie garniert auf einem Tablett serviert worden wären.
Nivedita fühlt sich als Inkarnation von Kali (> Cover), der Göttin des Todes/der Zerstörung/der Erneuerung. Kali ist „Die Schwarze“. Nivedita fühlt sich nicht zuhause in ihrem „Indischsein“, sie ist Tochter einer Deutschen und eines indischen Vaters, sie lebt in Düsseldorf-Oberbilk, studiert an der Heinrich-Heine-Universität Postcolonial Studies, sie bloggt als @identitti über Gender/Rassismus/Sexualität. Sie nennt sich ‚Mixed Race-Wonder-Woman‘.
„Ich war in Düsseldorf in meinem Großwerden immer irgendwie ‚falsch‘. Wenn ich nach Indien gegangen bin, habe ich zwar die richtige Hautfarbe gehabt, aber die falsche Körpersprache. Es war immer das Gefühl, irgendwas stimmt mit mir nicht. Das ging so weit, dass wenn ich in den Spiegel geguckt habe, ich mich ja nicht als Person of Colour gesehen habe, sondern als Weiße mit irgendwie komischer Haut.“
Niveditas Sonne, ihr Gravitationszentrum ist ihre Professorin. Die Affinität zwischen Lehrerin und Studentin ist überwältigend. Saraswati (Sanskrit „die Fließende“) ist die Göttin der Weisheit und Gelehrsamkeit. Nivedita vergöttert vergöttinnt sie. Saraswati heißt bürgerlich Sarah Vera Thielmann. Eine „Weiße“! Ein Schock! Ein Shitstorm!
Und jetzt sollte also auch noch Saraswati weiß sein. What’s happening, Saraswati?, tippte Nivedita probeweise unter dasselbe Selfie, postete es jedoch nicht, weil bereits zu viele Twitterati ihre Wut über Saraswati auskippten. Barbara stach in ihr Ei, ließ den Dotter über die Bohnensprossen laufen und seufzte: »Ah, Soul Food!«
»Comfort Food«, korrigierte Nivedita automatisch.
»Na, was habe ich dir gesagt«, sagte Barbara zu Paul, »sogar in einer Krise ist sie noch pc.«
»Was ist un-pc an Soul Food?«, fragte Paul Barbara, und Barbara fragte Nivedita: »Richtig, was ist un-political correct an Soul Food?«
»Nichts, aber nur nichts, wenn du damit afroamerikanisches Essen und afroamerikanische Kultur meinst. Hast du Amiri Baralcas Essay über Soul Food gelesen?«
Barbara kräuselte ihren ironischen Mund zu einem noch ironischeren Lächeln: »Was denkst du?«
»Tschuldigung, ich wollte nicht …«, sagte Nivedita peinlich berührt.
»Predigen?«, schlug Barbara vor.
»Dozieren«, sagte Nivedita. »Es ist nur so, dass Soul Food eine ganz spezifische Bedeutung hat und wenn wir es einfach für alles verwenden, was lecker ist, ist das cultural appropriation …«
»Was?«, fragte Paul.
»Kulturelle Aneignung – ich habe dir doch gesagt, dass sie nicht so gut Deutsch spricht«, sagte Barbara.
»Und damit wären wir zurück beim Thema!«, bemerkte Paul. »Ist die AfD schon auf den Zug aufgesprungen?«
Und ob, war sie!
Die AfD Echte Werte @DieAfDEchteWerte So weit ist es bereits gekommen: Deutsche Professorin verkleidet sich als Negerin, um Gendergaga unterrichten zu dürfen #KündigtSaraswati
Bernd Höcke @BerndHoecke Heimatzerstörung im deutschen Bildungssystem #KündigtSaraswati
Trotzki im Exil @DefendThe Indefensible Saraswati spielt Rechten in die Hände #SaraswatiShame
Jürgen Brings @Jürgen_der_Schäfer Der Islam gehört nicht zu Deutschland! #KündigtSaraswati
Diese Doppel-Entlarvung ist ein klug gesetzter Aufhänger für die komplexen identikativen Diskurse, ein Zentrum mit immer unendlicheren Verästelungen. Was aber für die Kennerinnen spannendes Wieder- oder Selbsterkennen sein wird, wird für den Unbelasteten lang und länger. „Nivedita fühlte ein Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern.“ „Die Wärme kehrte zurück in Niveditas Glieder.“ Ich mag oft den Namen Nivedita Nivedita nicht mehr hören. Der/die Eingeweihte wird/kann sich an der Ironie erfreuen (sofern er/sie die Ironie von innen her erkennt), der Nichteingeweihte hat zumindest die Gelegenheit die vielen eingeweihten Termini durchzugoogeln. (https://de.wikipedia.org/wiki/Postkolonialismus / https://de.wikipedia.org/wiki/Subalternit%C3%A4t / https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturelle_Aneignung / https://de.wikipedia.org/wiki/Rachel_Dolezal / https://de.wikipedia.org/wiki/Bell_hooks /// https://de.wiktionary.org/wiki/Debunking …)
Aber dann lässt Mithu Sanyal Saraswati wieder auf Gustav Landauer stoßen und spielt zugleich postmodern mit der Authentizität von Zitaten.
Saraswatis Lieblingssatz lautete: »Wie Gustav Landauer sagt, ist die erste revolutionäre Handlung, gut mit den Menschen, die wir lieben, umzugehen.« Nivedita hatte es nie geschafft, dieses Zitat bei Landauer zu finden. Am nächsten kam vielleicht: Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen Menschen, ist eine Art, wie Menschen sich zueinander verhalten; man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht.
Nivedita hatte das immer als Kommentar zu ihrer Beziehung mit Simon gelesen – als Aufforderung, sich einen Mann zu suchen, der sie nicht nur liebte, solange sie ihm unerreichbar war.
Wir müssen schreiben, als würden unsere Seelen und unser Geist bereits in jener besseren Welt leben, die wir herbeischreiben wollen, wenn wir die bestehenden Verhältnisse kritisieren – vor allem, wenn wir die bestehenden Verhältnisse kritisieren. Denn Veränderung ist nur möglich, wenn zumindest ein Teil von uns bereits in der Zukunft lebt und der Rest dorthin nur noch folgen muss. So zeigen wir, dass Veränderung nicht nur erstrebenswert ist, sondern möglich.
Nivedita hatte das letzte Wort unterstrichen – doppelt! -, damals, als sie dieses Buch wie komplett alle Bücher Saraswatis mit glühendem Eifer gelesen hatte, weil sie Saraswati sein wollte. So zu lesen war für sie die einzige vorstellbare Form gewesen, unter die Haut einer anderen Person zu schlüpfen. Aber ich habe sie dabei nicht wirklich verstanden. Zumindest nicht so, wie ich sie jetzt lese und verstehe, mit all dem Wissen um ihren Verrat. Oder handelte es sich gar nicht um Verrat, sondern um eine radikale Form von »in der Zukunft leben«? Vielleicht war Saraswati weniger transrace als beyond-race. Over-the-racebow?
Saraswati schließt Nivedita in ihrem Kokon selbstermächtigten Wohlwollens ein. Nivedita erhofft sich den ganzen langen Roman über von Saraswati Befreiung von ihrem diffusen Leidensdruck, checkt aber nicht, dass sie sich – nicht zuletzt – von Saraswati emanzipieren muss. Niveditas Cousine/Spiegel-Image Priti ist pragmatischer: „Nivedita’s got a broken heart.“ (Zwischenfrage: Ist es denkbar, dass die Ursache für gebrochene Herzen gern in der Hautfarbe gesucht wird?) Saraswati: „Dein Problem ist … dass dir … eine Grundsicherheit fehlt … weil du dich nirgends richtig zugehörig fühlst.“
„Identitti“ ist ein Postroman. Ein Roman, der locker ironisch mit seinen Themen-Hypes umgeht und sie zu beyond erklärt. Ein Roman mit einer bemüht verzweifelten „Heldin“, die noch im opfergeschwängerten Hierundjetzt steckt, die aber in der Lehrerin eine Weg-Weiserin in die transfuture findet, auch wenn sie sich den ganzen Roman über an deren fließender (flow!) Abgeklärtheit abarbeitet. Ein Roman, der in einen „Exorzismus“ mündet (Handys aus!), die Seelenstimmungen spiegeln sich auch hier in den Wolken: „Ein Windstoß erfasste Nivedita und sie bemerkte, dass die Wolken nicht mehr grau, sondern schwefelgrün waren und sichunheilvoll aufzutürmen begannen.“ Sollte das ironisch gelesen werden, passt Kali nicht herein, die Göttinnen vertragen sich nicht mit ‚Aufklärung‘, auch wenn sie weiblich und blau sind und in Indien designt wurden. Ich lese es als, ja doch, Schwulst.
Es geht gut aus. In langen Windungen schreibt Mithu Sanyal Niveditas „Heilung“ herbei und diese kann ihren unzuverlässigen Simon ablegen und sich neuen Bestimmungen und Zugehörigkeiten zuwenden. Im Nachwort erklärt Mithu Sanyal ihr Thema: „trans. Gender and Race in an Age of Unsettled Identities“ (entlehnt von Rogers Brubaker) und erläutert das Mashup-Verfahren, das Sampeln von Stimmen, Namen, Anspielungen, Sprachen, das Spiel von Fiktionen und Wirklichkeiten. Der letzte Satz des Romans gehört Nivedita: „Let love flow like a river.“ (Kali zugeschrieben)
Gert Scobel (Diplom-Katholik) maßt sich an, das als „echte Weltliteratur“ zu dekretieren und drängt: „Unbedingt lesen! Und wenn Sie das ganze Jahr nix anderes lesen – das Buch lesen!“ Das ist hoch gegriffen. Vieles ist Mithu Sanyal aber gelungen: die Verarbeitung des vieldiskutierten Problems zu einem in Inhalt und Form zeitgemäßen Roman, die Lockerheit und Ironie, die man diesem Diskurs nicht zugetraut hätte, die umfassende Empathie, die vermittelte und stets relativierte Gelehrsamkeit. Die privaten Teile der Erzählung werden bei jüngeren Leser:innen besser ankommen.
Nachtrag: „Die ganzen Menschen sind komplett verhext von Identitätspolitik. Es ist die Hölle. Die reden nur noch über Farben, nur noch über Farben … Und da gelingt es dieser Autorin und diesem Roman nicht, auf Abstand zu gehen. … Nein. Die ganze Auseinandersetzung als solche ist der absolute Wahnsinn, das ist die Farbtheologie, die alles, was wir je an Errungenschaften hatten, rückabwickelt. Rückabwickelt.“ (Mansplainer Ijoma Mangold, outragiert im Gespräch) Er ist der Zeit voraus, aber so kann man es auch sehen.
2021 – 430 Seiten
Leseprobe und anderes beim Hanser-Verlag
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