Nachrichten vom Höllenhund


Sachbuch 2021/2
5. Juni 2021, 16:22
Filed under: - Sachbuch

Caroline Fourest: Generation beleidigt.
Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei

Die »Beleidigten« der identitären Linken haben die Gewalt des Kampfes   gegen die Rassentrennung, die Apartheid oder den Nazismus   nie kennengelernt. Sie haben sich weder für das Recht auf Abtreibung geschlagen noch für das Recht zu lieben, ohne verhaftet zu werden, wie bei den Stonewall-Unruhen in New York 1969. Sie proben den Aufstand gegen asiatisches Essen in der Kantine und gegen Yoga. Ihre zimperliche Haut reagiert allergisch auf den geringsten Verdruss. Eine zur Verletzlichkeit gesteigerte Empfindsamkeit gibt den Antirassismus der Lächerlichkeit preis.

Caroline Fourest stellt mit kaum gebremstem Entsetzen und Zorn Bespiele für die Absurditäten sogenennten „identitären“ Denkens vor. Es geht um Vorwürfe kultureller „Aneignung“, um „Zensur antirassistischer Werke“ (Kapitel), um einen „Wettbewerb der Opfer“ bis zur „Hexenjagd“.

Da fühlen sich Leute provoziert, wenn weiße Frauen sich die Haare kräuseln lassen oder weil Sängerinnen mit blonden Zöpfen auftreten, die angeblich afrikanischen Ursprungs seien, in Kanada mobilisierte die Jugend (?) gegen einen Yoga-Kurs, weil manche meinten, damit würde man sich „indische Kultur“ aneignen. Anstoß genommen wurde auch an Jamie Olivers „Jerk-Reis“.

Unter den Tausenden von ihm interpretierten Rezepten befand sich auch ein später vermarktetes Reisgericht, dem man vorwarf, es sei nicht rezeptgetreu.   Die Bezeichnung »Jerk-Reis« bezieht sich auf eine von afrikanischen Sklaven im 17. Jahrhundert erfundene Gewürzmischung. In Jamaika, wo sie äußerst beliebt ist, wird sie bei der Zubereitung von Hühnchen verwendet, jedoch nicht für Reis. Das reichte aus, um einen Skandal loszutreten. Internetaktivisten beklagten, das Rezept enthalte nicht alle nötigen Gewürze.“

Die Inquisitoren der kulturellen Aneignung gehen wie Fundamentalisten vor. Ihr Ziel ist es, ein Monopol über die Darstellung des eigenen Glaubens zu wahren, indem sie anderen verbieten, ihre Religion zu malen oder zu zeichnen. Dadurch zeichnen sie selbst sich maßgeblich aus. Im Falle der kulturellen Aneignung treiben Schriftsteller, manchmal auch Künstler oder Aktivisten ihr Spiel mit ihrem Minderheitenstatus, um  ihre  Vorstellungen und  ihre Deutungshoheit umso besser  durchsetzen zu können.

Fourests Beispiele sind nicht alle ganz neu, sie wirken auch manchmal überzeichnet, man hat aber den Eindruck, dass sich die Intensität „identitärer“ Vorwürfe seither erweitert und radikalisiert hat. Fourest sieht die „Inquisitoren“ vor allem an amerikanischen Universitäten, wo – afroamerikanische – Studenten auf das Recht auf Respektierung ihrer kulturellen, farbigen oder auch ihrer Gender-Identität(en) einklagen, teils auch mit rabiaten Methoden. Sie hat – nicht unberechtigte – Angst, dass sich der Gesinnungsterror auch in Europa verbreiten könnte. Noch gebe es aber Widerstände und argumentative Debatten.

Die Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder Homophobie ist weder zweitrangig noch ein bloß »bürgerliches« Gefecht. Diskriminierung tötet, vernichtet und entwürdigt.  Derart giftige Vorurteile muss man weiterhin angreifen, doch auf intelligente Art, mit dem wirklichen Ziel, zu überzeugen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, Stereotypen abzubauen,die Ketten der ethnischen Zugehörigkeiten zu sprengen  und die Aufteilung der Rollen und  Geschlechter zu überprüfen. Der Traum fluider Identitäten, freier Sexualitäten, des Transkulturalismus und einer gemischten Gesellschaft bezeichnet das genaue Gegenteil der Welt der identitären Linken, die sich von Konflikten, die die Menschen in ihre jeweilige Schubladestecken, von Opferkonkurrenz und von endlosen Antagonismen nährt.   Diese Tyrannei der Beleidigung erstickt uns. Es ist Zeit, Luft zu holen und wieder zu lernen, die Gleichheit zu verteidigen, ohne der Freiheit zu schaden.

Fabian Scheidler:
Der Stoff aus dem wir sind

Nein. Die Welt ist nicht mechanistisch. Weder die Physik noch die Biochemie, weder das All noch die kleinste Innenwelt, also sollte es auch die Gesellschaft nicht sein. Es gibt nicht die Teilchen, nicht die gigantischen noch die winzigsten, die einander anstoßen und so zu Reaktionen und Kausalitäten führen, die das Universum erklären oder zu evidenten Prognosen leiten könnten. In der Physik sind es die Quantenverschränkungen, „energetische Beziehungen“. In der Sprache der Quantenphysik bestehen wir und unsere Welt nicht aus Materie, nicht aus Dingen, sondern aus »Anregungen von Energiefeldern«.

Was in der modernen Atomphysik als Kern allen Stoffes bleibt, sind also im Wesentlichen strukturierte Wechselwirkungen von Energiefeldern, die man eher als Vorgang denn als Ding verstehen sollte. Hans-Peter Dürr formulierte dies so: »Auf der Quantenebene gibt es eigentlich nur das, was man Wechselwirkung nennt.  Eine Wechselwirkung ohne Dinge, die miteinander wechselwirken. Und das, was wir dann Materie und Substanz nennen, das sind Verklumpungen dieser Wechselwirkungen. «

„Dieses Buch ist ein großer Wurf.“ (Ernst Ulrich von Weizsäcker) Es gibt aber auch kritischere Stimmen: „Recht hat Scheidler nur insofern, als manche Deutungen der modernen Physik das atomistische Teilchenkonzept relativieren und dafür einem so genannten Strukturenrealismus den Vorzug geben; demzufolge übernehmen quantisierte Felder die fundamentale Rolle, die im klassischen Weltbild Partikel spielen. Mit der Förderung ökologischer Verantwortung, auf die Scheidler ja eigentlich hinauswill, haben solche naturphilosophischen Nuancen freilich nur sehr entfernt etwas zu schaffen.“ (Michael Springer, SPEKTRUM) Mir fehlen im naturwissenschaftlichen Bereich die Kompetenzen zur Beurteilung. Trotzdem oder gerade deswegen finde ich vor allem diese Teile interessant.

»Das Leben hat die Erde nicht durch Kampf erobert, sondern durch Vernetzung« – also durch Kooperation» Lynn (Margulis) Die Endosymbiose ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Evolution oft durch Fulgurationssprünge voranschreitet und   nicht allein durch gleichmäßig auftretende zufällige Mutationen und deren Selektion.

In der Biochemie ist die Selbstorganisation der Zellen die Basis des Lebens. „Was wir hier vor Augen haben, funktioniert tatsächlich »ohne Chef«; selbst die DNA ist, wie wir später noch sehen werden, keineswegs eine Kommandozentrale der Zelle, sondern Teil dieses selbstregulierenden Prozesses.Dass zehn Billionen Einheiten ohne einen dirigierenden Mastermind alle »wissen, was zu tun ist«, und auf sinnvolle Weise miteinander interagieren, ist ein schwindelerregender Grad von Selbstorganisation.
Die Komplexität einer Zelle sprengt nicht nur unsere Vorstellungskraft, sondern auch alle denkbaren maschinellen Rechenleistungen um viele Größenordnungen. (…) Diese Komplexität steigert sich nochmals um viele Größenordnungen, wenn wir von der Ebene der Moleküle und Atome auf die Quantenebene wechseln, wo sich die scheinbar festen »Bausteine des Lebens« als ein pulsierendes Netzwerk von Energiefeldern zeigen, in denen alles im   Universum im Prinzip miteinander verbunden ist. (…)  Und je weiter die Forschung die kleinsten Strukturen, sowohl der Zellen als auch der Atome, erkundet, desto weniger scheint diese Welt tot, sondern immer lebendiger.

Scheidler überträgt diese Beziehungsweisen von unbelebter und belebter Natur auf Gesellschaft und auch Wirtschaft. Auch hier sieht er die „Trennungen“, die alles auf Atomisierung und Profitabilität einschrumpfen, alles als technisierbares Objekt betrachten, ob in Wissenschaft oder Gestaltung.

Die Zerstörung gewachsener Sinngefüge durch die Expansion der modernen Megamaschine   hat in vielen Teilen der Erde ein kosmologisches Vakuum hinterlassen, das mit verschiedenen Namen bedacht wurde. Max   Weber sprach von der   »Entzauberung der Welt«, Georg Lukaćs von »transzendentaler Obdachlosigkeit«   und Albert Camus von der »Absurdität« der menschlichen Existenz. Es ist wichtig, sich hier noch einmal darüber klar zu werden, dass diese »Entzauberung« nicht, wie Monod glaubte, von der Wissenschaft selbst ausging. Die emotional-geistige Entleerung der Welt ist nicht die Folge der wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern das Ergebnis eines gewaltsamen traumatischen Prozesses.

Die grundlegendste dieser Trennungen ist die Abspaltung der Natur, die als tote Verfügungsmasse für das Räderwerk der endlosen Geldvermehrung dient. Diese Entbettung aus der Biosphäre macht die moderne Ökonomie so gefährlich: Sie verhält sich auf der Erde wie eine Armee außerirdischer Kolonisatoren, die alles mitnehmen, was sie kriegen können.“

Dieses Prinzip verdeutlicht er u.a. an der Landwirtschaft (Massentierhaltung), der Ernährung, der Zerstörung der Biosphäre, am Bankensystem, an Bildung und Gesundheit, an Katastrophen und Pandemien. Das ist nicht neu, doch in der Zusammensicht der Systeme, einer „Kosmologie“ als drängend dargestellt.

Die von den technologisch denkenden Ingenieuren angebotenen Lösung wie „Geo-Engineering und die Flucht in den Weltraum“ sieht Scheidler als Wahnbilder und tödliche Illusionen des Homo technocraticus.

Wie sollen Menschen, wenn sie die Symptome der gegenwärtigen Krisen beständig in sich unterdrücken, in die Lage geraten, die dahinterliegenden Ursachen zu erkennen, aus ihrer Isolation herauszukommen und gemeinsam handlungsfähig zu werden? Schon aus diesem Grund ist die Sphäre der Innenwelten nicht von den großen Menschheitsfragen zu trennen. Die Leiden an der Entfremdung ernst zu nehmen und den verdrängten Innenwelten eine Stimme zu geben, ist eine eminent politische Handlung, ohne die ein Tiefenumbau der Gesellschaft nicht gelingen kann.

Vortrag an der Hochschule Stendal, 28. Oktober 2020, zu dem Buch „Der Stoff aus dem wir sind.
Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“
(45 Minuten)

Robert Misik:
Die falschen Freunde der einfachen Leute

Robert Misik ist der wahre Freund, der die einfachen Leute versteht, der sie gegen „Lifestyle-Linke“ in Schutz nimmt, ohne dabei in pseudorechtes Geraune abzugleiten. Die „einfachen Leute“, das sind die Versprengsel der arbeitenden Klasse, sie haben „das Gefühl, jederzeit ersetzbar zu sein“ (Kapitel) „Es ist die ökonomische Realität und die ganz handfeste Erfahrung, nicht der Überbau von Zeitgeisttheoremen, welche die Menschen zu dem   resignierten Schluss gelangen lässt: »Ich kümmere mich nur mehr um mich selbst.« Eine solche Lage begünstigt freilich nicht so sehr Protest als vielmehr frustrierten Rückzug.“

Die empfundene Ohnmacht hat zur Folge, dass die Schuld bei »denen« gesucht wird, was auch nicht immer falsch ist: bei den Eliten, die das nicht interessiert, bei den Stadtpolitikern, die sich nicht kümmern, bei den arbeitslosen Jugendlichen verschiedenster Ethnien, die dem Stadtbild eine bedrohliche Atmosphäre verleihen, sich gelegentlich auch danebenbenehmen. Oder vielleicht auch bei den modernistischen Mittelschichten, die dauernd vom »Wandel« sprechen, von dem diejenigen, die sich an den Rand gedrängt sehen, aber selten etwas haben. Je verletzlicher die Position, umso weniger will man von Wandel hören. Der Verwundbare schätzt nicht den Wandel, sondern Stabilität und Gemeinschaft. Für die oberen Schichten bedeutet Wandel, dass du dich weiterentwickelst oder ein Start-up gründest. Für die Arbeiterklasse heißt Wandel meist, dass du gefeuert wirst.

Misik diskutiert, ob es die „arbeitenden Klassen“ heute noch gibt und wie sich in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage entwickelt haben und von den Armen zum „Volk“ wurden. Und er erklärt differenziert, wie sich daraus ihre Weltanschauung geformt hat. Die ehemalige „rebellische Kultur“ sei latent weiter spürbar, aber sie habe ihre Zielrichtung geändert durch das „Gefühl, an den Rand gedrängt worden zu sein“, sie suche sich neue Adressaten der angereicherten Wut. Misik verklärt die Wut gegen die als „abgehoben“ verstandene Mittelschicht und ihre Schuldzuschreibung an Migranten, die als zu Unrecht geförderte Konkurrenz betrachtet wird, nicht, aber er hat Verständnis dafür. Das Buch stammt von 2019, also noch vor dem weiter verschärften Rechtsruck von beträchtlichen Teilen der Bevölkerung, wie er sich angesichts der Corona-Pandemie gezeigt hat. Was bei Misik zu kurz kommt, ist nicht die Entlastung rechten oder rassistischen Denkens, aber die Forderung an das „Prekariat“, eigene Denkanstrengungen zur Analyse der Zustände zu unternehmen.

In einem Kapitel widmet sich Misik auch einer „Rhetorik, die spaltet“, den „Ambivalenzen der Identitätspolitik“.

 Die Identitätspolitik ist nicht dafür verantwortlich, dass viele Menschen, die sich als »einfache Leute« verstehen, das Gefühl haben, von den Parteien der hergebrachten Linken hingehängt worden zu sein. Aber die Identitätspolitik kann dazu beitragen, diese schon vorhandenen und begründeten Entfremdungen zu verstärken. Indem sie den Populisten und Extremisten die Möglichkeit gibt, die Linken als abgehobene Spinner hinzustellen, die irgendwelche unbedeutenden Sprachoperationen betreiben, sich wie abgehobene Hohepriester aufführen und die zwar keine Ideen haben, wie man die Verhältnisse für die einfachen Leute verbessern könnte, dafür aber umso mehr Ideen zur Verbesserung der einfachen Leute. Und sich selbst können diese rechten Extremisten dann umso leichter als Vertreter der »normalen Leute« präsentieren. Wo linke Identitätspolitik den »einfachen Leuten« sagt, »Ihr müsst euch ändern«, signalisieren rechte Populisten   ihnen:  »Ihr seid okay, so wie ihr seid.« Das ist letztendlich das   Fundament ihres Erfolges.

Misiks Plus ist, dass er die angeschnittenen Probleme in klarer Sprache kenntlich macht. Er stützt sich dabei auf Untersuchungen und fügt die Ergebnisse in die ausführliche eigene Analyse ein. Die Erscheinungen haben kaum auf Misiks Befunde reagiert, sondern haben sich mit dem ausufernden – und ablenkenden – Identitätsdiskurs oder der AfD/FPÖ oder den sich selbst als „Querdenker“ bezeichnenden abgehängten Mitläufern, die Bedeutsamkeit auf verqueren Wegen – auch sich selbst – vortäuschen wollen, seit 2019 weiter verschärft. Man sollte Misiks Ansagen als Anregung in die eigenen Gedanken mit einbeziehen.

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag

Zusammenfassung bei falter.at

Rezension von Frauke Hamann in den „Frankfurter Heften“ für „Neue Gesellschaft“

Corona, Krise, Crash? Robert Misik im Gespräch mit Ulrike Herrmann am 30. April 2020 (1 Stunde)

Wolfram Eilenberger:
Feuer der Freiheit.
Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten – 1933 – 1943

FREIHEIT ist ein dermaßen verwaschener Begriff, dass ihn alle im Munde führen und auf ihre Fahnen pinseln, dass man allen, die „Freiheit“ – angeblich oder real – verweigern, mit Verachtung oder Sanktionen begegnen kann und sollte. Was man selbst als FREIHEIT versteht, muss man nicht mehr erklären oder begründen. Für Freiheitsberaubung braucht man keine Gefängnisse, es genügt Nahrung, Wohnung, Bildung, soziale Teilhabe vorzuenthalten. Freiheit steht immer im Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft.

Wolfram Eilenberger zeigt diesen Kampf um persönliche Freiheit als Voraussetzung oder Ergebnis sozialer und politischer Freiheit anhand des – philosophischen – Denkens von vier Frauen, die sich in exemplarischer Form mit dem Thema auseinandersetzen. Jede von ihnen getrieben vom „Feuer“ persönlicher und geschichtlicher Nöte, jede mit furiosem Eifer und unerbittlicher (Selbst)Disziplin, jede am „äußersten Rand“ der Selbstvernichtung.

Wolfram Eilenberger zeigt diesen Kampf um persönliche Freiheit als Voraussetzung oder Ergebnis sozialer und politischer Freiheit anhand des – philosophischen – Denkens von vier Frauen, die sich in exemplarischer Form mit dem Thema auseinandersetzen. Jede von ihnen getrieben vom „Feuer“ persönlicher und geschichtlicher Nöte, jede mit furiosem Eifer und unerbittlicher (Selbst)Disziplin, jede am „äußersten Rand“ der Selbstvernichtung.

Was Arendt — ebenso wie Beauvoir, Weil und Rand — damals als Philosophierende in realpolitischer Mission anstrebte, es wäre zu jeder Zeit schwer zu erreichen gewesen: politische Wirksamkeit bei gleichzeitiger Prinzipientreue, philosophische Tiefenschärfe und konkrete Umsetzung.  Um das Jahr 1941/1942. herum war es indes ein ganz und gar aussichtsloses Unterfangen. Sei es in Paris oder in New York. Sei es im Namen des wahren Sozialismus, des Christentums, Zionismus oder Amerikas; sei es im Namen existentialistischer Solidarität, des Herrn Jesu, eines kantischen Weltbürgertums oder aber eines radikalen Libertarismus. Gerade weil sie Politik in erster Linie denken wollten, waren sie politisch an den Rand gedrängt. Für Philosophierende ist das, blickt man in die Geschichte der Zunft zurück, keine wirklich neue Erfahrung.  Und nicht einmal eine des notwendigen Freiheitsverlusts. Von wo aus schließlich sah man klarer auf das Geschehen: wirklich aus dessen Zentrum heraus oder nicht vielmehr aus der Distanz, von seinen äußersten Rändern und Abgründen her?

Simone de Beauvoir (Wer war Simone de Beauvoir? | Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Kate Kirkpatrick | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur (youtube – 0:55) wurde katholisch erzogen, Hannah Arendt (Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus („Zur Person“, 1964 – 1:15) , Ayn Rand (geboren in St. Petersburg als Alissa Rosenbaum) und Simone Weil (Eine Denkerin der radikalen Hoffnung: Martina Bengert und Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Simone Miller) hatten einen jüdischen Hintergrund. Die vier Frauen wurden zwischen 1905 und 1909 geboren, waren also im Untersuchungszeitraum von Eilenberger um die 30 Jahre alt, persönlich und beruflich noch auf der Suche, tastend, reflektierend, aber jede in unterschiedliche Richtung. Rand spürte nach der sozial unbeschränkten Selbstverwirklichung und meinte ihn im Programm des „radikalen Libertarismus zu finden, einem Konzept, das gerade in den letzten Jahren in den USA wieder hervorgezogen wurde, um einen fürsorgenden Staat brutal abzulehnen. Hannah Arendt sah sich als Philosophin mit der Nazi-Diktatur und der französischen Kollaboration konfrontiert und versuchte ihrer antitotalitären Weltbürgerhoffnung auch gegen einschüchternden Zionismus zu verteidigen. Simone de Beauvoir entwickelte ihr Leben entlang der selbstgestellten Forderung nach unbedingter – existenzieller – Selbstverwirklichung. Dabei reflektierte sie immer stärker die Rolle der Frau als soziales Konstrukt. Simone Weil suchte die Freiheit in tätiger Solidarität und erfuhr sie letztlich in einer Christus-Erscheinung.

Wolfram Eilenberger beleuchtet die Such-Prozesse in kontrastiver Gegenüberstellung der Entwürfe „in finsteren Zeiten 1933 – 1943“. Durch die Stückelung der Zeiträume lässt sich die Gedankenarbeit gut als Reaktion auf die historischen Vorgaben formulieren, jede der vier Frauen will aber auch öffentlich werden und die Gesellschaft beeinflussen. Man wartet immer schon, wie die Philosophinnen die Herausforderungen annehmen, Eilenberger kündigt das pointiert auf den Kapitelvorsätzen an. Er ist Kenner der Philosophien, äußert sich auch im Fernsehen, seine Darstellung ist gut verständlich, auch weil sie die Schicksale des Lebens mit deren gedanklicher Bewältigung mixt. Er verarbeitet Biografien und zitiert aus den Werken. Natürlich lässt sich Wissenschaft nicht immer in einfacher Sprache ausdrücken.

Auf die Frage nach der weltverbürgenden und damit unbedingt zu wahrenden »Relevanz des Anderen« als diesem einen und einzigen Menschen wird es auch im Rahmen dieses Denkgestells keine plausible Antwort mehr geben. Extremer noch: Sie ist als Frage nicht einmal verständlich zu machen. Plausibilität gewann sie allenfalls noch im Rahmen von sogenannt rein zwischenmenschlichen Beziehungen des privaten Bereichs und damit Beziehungen, die nach dem Ideal eines total gewordenen Staates gerade nicht mehr   existieren sollten. Die private Zweisamkeit der Liebenden als letztes und erstes Widerstandsnest gegen eine von der totalen öffentlichen Gleichstellung bedrohten Gesellschaft … wie hatte Arendt ihrem Heinrich so schön von Genf aus geschrieben: »Wir wollen es versuchen — um unserer Liebe willen.« Um keiner anderen Liebe willen. Auch nicht der eines Gottes. Oder mit anderen Worten:  Rein um unser selbst willen, unseres jeweiligen Glücks und Stands in dieser Welt, und vor allem auch um der liebestypischen Angstfreiheit vor der eigenen Endlichkeit willen.

Eilenberger referiert, er diskutiert nicht den Begriff der Freiheit als solcher, er ist Philosoph, nicht Politiker oder Historiker. Er denkt sich in die Frauen hinein und macht dabei durchaus Gebrauch von literarischer Freiheit des Einfühlens.

Der Untertitel ist natürlich ein Schmarrn. Nicht um die Rettung „der Philosophie“ geht es, sondern um die Hoffnung der vier Frauen durch „Philosophieren“ ihr Leben zu konsolidieren.

Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

Harald Haarmann:
Die seltsamsten Sprachen der Welt.
Von Klicklauten und hundert Arten, ich zu sagen

Harald Haarmann hast viel veröffentlicht: zu Zivilisationen und Kulturen, Sprachen in Europa und der Welt, zu Schriften, lexikalisch und historisch, Einzel- und Zusammenschauen, erst 2017 erschien ein „Kleines Lexikon der Sprachen“. Jetzt, 2021, „Die seltsamsten Sprachen der Welt“, ein Titel, der auch Leser einsammelt, die weniger an dröger Wissenschaft denn an Absurditäten interessiert sind. Also auch mich. Es geht um „eigenartige Lautsysteme“, „Seltsamkeiten“ der Grammatik und der Arten zu zählen, um „Ritual- und Tabusprachen“, „merkwürdige Schriften“ und – ein Blick in die Zukunft – um „geplante Sprachen“.

Vieles davon verspricht interessant zu sein, aber, wie auch sonst, von vielem hat man auch schon gelesen. Ich reise zu den Basken, den Finnen, den Ungarn und Vietnamesen, aber auch zu fast oder ganz ausgestorbenen Kulturen: den „Parallelwelten der Katu“, den Kommunikationsregeln der Dyirbal, den „Bongorongo-Tafeln auf der Osterinsel. Haarmann kennt sich überall aus, für das einzelne Thema bleiben wenige Seiten. Oft sind die Notizen zur Sprache (oder Schrift) an Erläuterungen zu Kultur oder Mythologie angelehnt, die Sprach- und Schriftbeispiele zählen häufig bloß auf, ein Uneingeweihter wird daraus wenig Gewinn ziehen. (Mitsprechen wird man die Aufzählungen nicht, weil es a) zu viele sind und man b) ja nicht weiß, wie man sie aussprechen soll.)

Das beginnt schon bei den im Titel genannten „Klicklauten“, die man ja hören müsste und über die man im Buch nur lesen kann. (Klangbeispiele hier) Was mich stärker interessiert hätte, sind die räumlich naheliegenden Seltsamkeiten: das kleine Kapitel über „Kanakendeutsch“ oder „Höflichkeitscodes im Englischen“. Letztendlich wird aus den vielen gesammelten Fundstücken ein Sammelsurium. Antworten auf Fragen wie: „Wie schreit der Hahn in den Sprachen der Welt?“ schaut man sich hübscher präsentiert in den Büchern des „Katapult“-Verlags an.

Gedanken, die man sich angesichts der Information machen kann und sollte: Die Sprache ist nichts Unveränderliches, sie entwickelt sich in den Zeiten des Gebrauchs, sie passt sich an Veränderung von Kultur- und Denkweisen an, sie modifiziert sich sozial oder auch politisch, sie verjüngt oder verjugendlicht sich, sie „gendert“. (Über die Gender-Modifikationen von unterschiedlichen Sprachen könnte Haarmann seine nächste Publikation planen.)

Die Vielzahl sprachlicher Sonderformen ist als Reichtum zu begreifen und als Einladung, die Welt mit anderen Augen — oder besser: mit anderen Sprachen — zu sehen. Das Seltsame in seinem Eigenwert und als Bereicherung zu verstehen, dazu will dieses Buchs anregen. Wer   das scheinbar Seltsame so versteht, der blickt zugleich in einen Spiegel, in dem er sich selbst und seine eigene Sprache neu wahrnehmen und verstehen kann.

Das ist gut gemeint, aber diesen Anspruch erfüllt das Buch – für mich – nicht. Man könnte sich von der erweckten Neugier motivieren lassen und selbst vertiefen, was man wissen will. Vielleicht ist das Thema auch besser für eine multimediale Aufbereitung geeignet, wobei man den Clickbaits stracks folgen könnte.

Mai Thi Nguyen-Kim:
Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit

Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft

Mai Thi Nguyen-Kim kommt aus dem Fernsehen und aus dem MaiLab so herzlich direkt heraus, dass man sich schon deshalb auf die wissenschaftlichen Themen einlässt. Jetzt bieten die visuellen Medien natürlich viele Möglichkeiten der (optischen) Aufbereitung, welche die Vermittlung des Wissens anschaulich und lebendig präsentieren. Das Buch hat es da schwerer, ein Schaubild ist ein Schaubild, man muss in es hineinschauen, es bewegt (sich) nicht, eine Abbildung bildet ab, sie motiviert nicht.

Mai Thi Nguyen-Kim versucht einige der Möglichkeiten der Visualisierung ins Buch zu retten: „Boxen“ zur Zusammenfassung, Illustrationen, rote Schrift zur augenfälligen Hervorhebung. Auch die Sprache orientiert sich an der gesprochenen (jugendlichen) Vitalität: Ich werde geduzt, Mai schreibt das Buch für mich. „Stell dir vor, du nimmst an einer wissenschaftlichen Studie teil. … Joa, wahrscheinlich runzelt ihr schon die Stirn.   Hui, was ist da los? … Pfft.“ Gedruckt ist das gesprochene Wort. Sogar die wissenschaftlichen Begriffe sind knackig: Noise Blast, Cherrypicking, Unkrautargument, So-lala-Daten, Teufligkeit, Riesenarsch.

Ich darf mich nicht täuschen lassen. Es geht um DIE LEGALISIERUNG VON DROGEN, VIDEOSPIELE UND GEWALT, um den GENDER PAY GAP, um die SICHERHEIT VON IMPFUNGEN, um TIERVERSUCHE oder um die ERBLICHKEIT VON INTELLIGENZ. Aber es geht nicht um die Ergebnisse, sondern darum, wie man zu Ergebnissen kommt – oder auch nicht. Es geht um die WISSENSCHAFT. Es geht um METHODEN METHODEN METHODEN. Wahr, falsch, plausibel?, heißt es im Untertitel. „Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft.“

Wissenschaftliche Qualität zeigt sich nicht nur im   Sammeln von Daten, sondern ganz besonders in deren Auswertung — dies werden wir im Laufe dieses Buches noch oft sehen. Zahlen sagen meist wenig aus, wenn man nicht weiß, auf welche Weise sie ermittelt wurden. Kneifen wir also kritisch die Augen zusammen und schauen, wie die Zahlen des Drogenrankings zustande kamen.   Nachdem Nuns erstes Ranking von 2007 wie gesagt mit recht groben Methoden erstellt wurde, erfolgte die neue Bewertung nach dem MCDA-Prinzip: Multicriteria Decision Analysis. (…) Als Chemikerin finde ich psychologische   Methoden ziemlich unbefriedigend. Während man    Moleküle in eine Art MRT-Röhre schieben kann und die Schwingungen ihrer Atomkerne die chemische Struktur preisgeben, müssen Forschende in der Psychologie auf Methoden wie Befragungen zurückgreifen. Natürlich folgen wissenschaftliche Befragungen auch einer wissenschaftlichen Methodik und sind nicht dasselbe wie eine Twitter-Umfrage. Dennoch können allerhand Verzerrungen entstehen, zum Beispiel weil Menschen sich falsch einschätzen oder nicht ganz ehrlich sind.

Die Auszeichnung „SPIEGEL Bestseller“ beruht wohl nicht auf der ausführlich analysierten und diskutierten wissenschaftlichen Methodik, sondern auf den thematisierten Problemen und – nicht zu vergessen – der Popularität der Autorin. „Heute ist sie der Shooting Star im deutschen Wissenschaftsjournalismus.“ Durchgehend seriös. „Ihre Themen sind so vielfältig wie die Chemie, mit der man, wie sie sagt, fast alles erklären könne, seien es die Folgen von Alkoholgenuss oder die Ausbreitung des Coronavirus. Sachlichkeit ist ihr dabei oberste Pflicht. Bei Mai Thi Nguyen-Kim lernen schon die Jüngsten: Wissenschaft kann begeistern – und gemeinsam vernünftig zu handeln, bringt eine Gesellschaft voran.“ (Bundespräsident Steinmeier) Aber ja, puh.“

MaiLab – youtube-Kanal von Mai Thi Nguyen-Kim

musstewissen Chemie


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