Ingo Schulze:
Die rechtschaffenen Mörder

Norbert Paulini. Man muss ihn nicht kennen, aber man erfährt viel über ihn, wenn man Ingo Schulzes Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ liest, in welchem dieser Norbert Paulini penetrant in den Mittelpunkt gestellt ist. Norbert Paulini. Die ersten 200 Seiten wird er nur mit diesem Namen genannt. Vorname und Familienname, das schafft eine fast bürokratische Distanz, täuscht über subjektive Gestaltung und Wertung hinweg, auch wenn der erste Satz eher an ein Märchen als an eine Biografie denken lässt.
Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss. Paulini übernimmt das Antiquariat von seiner Mutter, baut es aus, macht es zu einem Treffpunkt literarisch Gleichgesinnter, findet darin Lebenssinn und Heimat. Was er liest, ist sekundär, bei einem Antiquar darf man eher an Gestriges denken. Politik, Politisches ist nicht das Interesse Paulinis, nicht seine Heimat. Paulini ist Leser.
»Ich habe mich entschieden, Leser zu werden«, bekannte Norbert Paulini. (…) »Wer selbst schreibt, ist nicht mehr fähig, wirklich zu lesen. Nur der uneigennützige Leser, der sich einem Buch vorbehaltlos und ganz und gar zu öffnen vermag, kann es in seiner Differenziertheit und Komplexität erfassen. Wer hingegen absichtsvoll liest, stutzt das Buch auf seine Bedürfnisse zusammen und unterwirft es den eigenen Kreativitätsgelüsten.«
Dann kommt 1989 und darauf ist Paulini nicht vorbereitet. „Im Herbst 1989 verhielt er sich einfach wie immer.“ Eigentlich ist 1989 ein Glücksfall für den Antiquar. Die Bücher sind nach dem Ende der DDR nichts mehr wert. Paulini muss nur zugreifen, wenig Geld zahlen, oft erhält er Bücher umsonst oder findet sie in aufgegebenen Lagerhallen, fährt sie mit seinem Radanhänger nach Hause. (Einen Führerschein hat Paulini nicht, was sonst.) Die Kehrseite: Es kauft auch niemand mehr Bücher und schon gar nicht solche vom Antiquariat. Der Systemwechsel wird zur Lebenskrise, Paulini fühlt sich getroffen und da er nicht politisch zu denken gelernt hat, gleitet er ins Ressentiment.
Den Herbst 1989 missdeutete Paulini vollkommen. Er steckte wohl bereits zu tief in dem Land, um sich noch vorstellen zu können, dass sich etwas ändern könnte. In jenen Wochen muss Paulini regelrecht manisch den Kafka-Satz vom Käfig, der einen Vogel suchen geht, wiederholt haben. (…) Kümmert Sie das nicht, dass ich hier oben hausen muss, während sich Tausende, Zehntausende frisch zugereister junger Männer aussuchen dürfen, in welcher Stadt sie sich auf unser aller Sozialhilfepolster niederzulassen die Güte haben, um fleißig weiter Kinder zu zeugen und zwischendurch ihre Stirn auf dem Moscheeteppich zu wetzen? Finden Sie das denn gerecht? Ich hab nichts gegen Ausländer, ich werde sogar einen einstellen. Es gibt nämlich solche und solche.
Ingo Schulze hat sich Norbert Paulini als Hauptperson für (s)eine Novelle ausgewählt. Aber er merkt, dass Paulini den Anforderungen nicht allein dadurch genügt, dass er „einen unvergleichlichen Ruf genoss“. Es fehlt das unerhörte Ereignis, der Exitus des Staates ist nicht falkenhaft genug, Paulini fehlt, trotz aller Elogen, die Fallhöhe. Schulze muss nachlegen.
Schon im langen „Teil I“ taucht sporadisch ein Ich auf, ohne dass dessen Name oder Beziehung thematisiert würde. Auf Seite 199 stellt sich im ersten Satz von „Teil II“ ein „Ich“ vor, das Paulini als 17-Jähriger erstmals begegnet sei. Dieses Ich übernimmt die Erzählung und auch Paulinis Freundin Lisa/Elisabeth. Das führt zu Verschlingungen und dazu, dass Paulini schließlich dekretiert: „Sie veröffentlichen nichts über mich. Punkt.“ Man ahnt: Es geht um die Novelle, die der damals junge Schriftsteller geplant und fast fertig hat. Im kurzen „Teil III“ wird die Lektorin dieses Literaten zur Erzählerin und verkündet auch den Namen ihres Schützlings: Schultze. Die Novelle, die in ihrem Teil I abrupt abbricht, wird fortgesetzt und eingebettet. Das kann als kluge und verspielte Idee des Autors gelesen werden, mir erscheint das Verfahren eher als unbeholfen. Und nur auf diese Weise kann er den Titel des Romans einbringen, wie, erklärt sich mir nicht. „Der Autor greift ganz gehörig in die Metafiktions-Kiste. Verunsicherung, Zweifel streuen, Leseerwartungen durcheinanderwirbeln, das ist hier Programm. Uneindeutigkeit und Satire sind die Mittel.“ (Petra Reich, literaturreich.de) Mir fällt es nicht leicht, diese Mittel auf auf die Protagonisten, auf das Erzählte, auf das Thema zu beziehen.
Norbert Paulini mag in literarischen und speziell in Antiquariatskreisen eine schillernde Figur gewesen sein, er steht für eine Zeit des Stillstands, für die auch die DDR steht. Insofern passt er, der von sich aus Unpolitische, gut ins System, insofern ist es plausibel, dass er im fordernden und rasenden Kapitalismus weggeblasen wurde. Insofern ist es auch zu verstehen, dass er sich mit Ressentiments dagegen sträubte. Trotzdem taugt Norbert Paulini nicht als Prototyp des Vereinigungsverlierers. Paulini suhlt sich im kulturbürgerlichen Kokon, macht die Literatur zum Fetisch, verweigert sich aber dem weltbürgerlichen Anspruch als politisches Wesen. Sollte das Widerständigkeit offenbaren, Exil in seiner antiquierten Klause?
Sobald die Rede auf Politisches kam, wirkte er gelangweilt. Er sah darin bestenfalls Zeitverschwendung, im schlimmsten Fall ein sinnloses Opfer. Es würde sich sowieso nichts ändern. Er werde dem Staat nicht den Gefallen tun, ins offene Messer zu laufen und sein Antiquariat zu gefährden. Zukunft gab es nur für sein eigenes Reich.
Ingo Schulze erzählt betont bedächtig, so wie man vielleicht 1977 ff. in der DDR erzählt hat. Der Stil passt aber schön zu Welt und Wesen des Antiquars.
Im Gehen blies er die flackernde Kerze aus und stellte den Kuchen neben der alten Registrierkasse auf dem Tisch ab, der in der Diele vor den beiden Bücherzimmern wachte. Was sollte er mit den Frauen anfangen?
»Nicht alphabetisch?«, unterbrach ihn das Mädchengesicht und schlug sich, als wäre sie vorlaut gewesen, eine Hand vor den Mund.
Er tippte von oben nach unten auf die Bretter der Franzosen, wobei die Berührung seiner Fingernägel auf dem Holz zu hören war.
»Das wird sich zeigen«, erwiderte er.
»Und die Deutschen?«, ragte die mit dem Mädchengesicht.
2020 – 320 Seiten
Gespräch mit Ingo Schulze in „Druckfrisch“ (8 Minuten)
Diskussion über Ingo Schulzes Roman im lesenswert Quartett (14 Minuten)
Lesung und Gespräch im Literaturforum im Brecht-Haus (1:20)
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