Nachrichten vom Höllenhund


Kapitelman
9. August 2021, 14:47
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Dmitrij Kapitelman:
Eine Formalie in Kiew

Dima braucht die Apostille. Er will endlich Deutscher werden. 1998 kam er mit seinen Eltern als „Kontingentflüchtling“ aus Kiew nach Leipzig, für die Einbürgerung benötigt er eine in der Ukraine ausgestellte Geburtsbescheinigung. Also fliegt er nach Kiew. Deutsche Bürokratie, ukrainische „Entdankung“.

»Vergiss nicht, dich bei Tante Jana zu bedanken, Dim. Die Gehälter hier sind lächerlich. Gib ihr fünfhundert Griwna oder so. Otblagodari.«   
Außer uns gesprochen:
Otblagodari ist der gängige Euphemismus für Bestechung.  Man entdankt sich, dankt sich quitt, dankt sich frei.

Für Dmitrij Kapitelman ist das die Möglichkeit, sich ein Bild von den Zuständen zu machen im Land, von dem er selbst nicht viel weiß, dessen Sprache er schlechter spricht als Sächsisch. Das Schlimmste, vor dem ihn seine Mutter streng warnte, scheinen die Gullydeckel zu sein.

Viel zu früh am Abfluggate in Leipzig und allein zwischen den leeren Sitzreihen, kommt mir ein Rat meiner Mutter in den Sinn. Ein ukrainischer Rat, eigentlich eher ein Verbot. Ich musste es seit Ewigkeiten nicht mehr bedenken, es war nicht nötig hierzulande.    In meinem ersten Leben aber, meinem ersten Land, schlenderten wir durch die Straßen Kiews, als mich Mama ruckartig anhielt. Ich war bedenkenlos auf einen Gullydeckel getreten. Damals-Mama   beugte sich herunter, sah mir ernst in die Augen und sprach: »Zaja«, mein   Häschen, »in diesem Land darfst du niemals auf Gullydeckel treten, hörst du? Du weißt nie, ob sie festgeschraubt sind, und dann fällst du rein und kommst nie wieder zu uns hoch! Versprich mir, dir das zu merken.«

Nachdem er das benötigte Dokument wider Erwarten rasch erhält, hat das Buch noch viele leere Seiten. Um sie zu füllen, lässt Kapitelman seinen Vater in Kiew einfliegen. Dessen Gesundheit ist ramponiert. Er braucht ein Gebiss und er hat mentale Ausfälle, die von einem verschleppten Schlaganfall herrühren. Zeit, die Stadt und ihre Ärzte und Krankenhäuser näher kennenzulernen, aber auch langsam durch die Plätze und ihre Vergangenheit zu schlendern. Trotz der lakonischen Denk- und Sprechweise des Erzählers stellt sich so etwas wie Rührung ein, das gespannte Verhältnis zu den Eltern zeigt Anzeichen von Verfugung. Ist Mutters „Katzistan“ gar zu tolerieren?

Der Streifzug durch Kiew und Umgebung zeigt nichts wesentlich Neues über die Zustände dort. Marode Häuser, lose Gullydeckel, Korruption auf allen Ebenen. Interessant sind Kapitelmans spezieller Blick und seine lakonisch amüsanten Beschreibungen, gewürzt mit Running-Gags (Deckel, Salo, der Würzspeck, Vaters Schrullen), und durch seine ironische Infragestellung der eigenen Überheblichkeit. Aus dem Kapitel „Zeitreise durch den Stillstand“:

War hier in der Nähe nicht ein Basar? Da habe ich Damals-Mama verboten, das Fleisch der Schlachtfrauen anzufassen, weil es so dreckig aussah. Nicht dass sie mir noch krank wird. Heute sitzen in der gelb gekachelten Schlachthalle drei gelangweilte Fleischerfrauen und essen einsam Eis. Vor sich tot riechende Tierteile, faden Würzspeck, Tüten mit   Gedärmen, mal auf einer Tischdecke, mal in einer Plastikschüssel oder einfach nackt auf dem Stein abgelegt. »Das Fleisch ist da, aber die Leute haben kein Geld«, klagen sie angeödet. Während die Eiscreme an ihren goldenen Plomben schimmert. Ich verstehe ihr Ukrainisch nur teilweise, tue aber, als würde ich alles begreifen. Was erstaunlicherweise dazu führt, dass ich das Gefühl habe, fast alles zu verstehen. Unter uns Landsleuten aller Herren Länder gesprochen: Vielleicht sind wir allesamt viel zu vokabelfixiert im Verstehen und läuten die Alarmglocke der Fremdheit beim ersten unbekannten Wort, anstatt kommunizierend die nachfolgenden abzuwarten.

Da und dort wird Kapitelman direkt politisch und zitiert Stimmen von Kiewern:

»Klauen tun alle. Am schlimmsten war es unter Poroschenko (der Pralinenpräsident). Janukowitsch (der zweifach Verurteilte im Hubschrauber) hat zwar auch gestohlen und gestohlen, aber zumindest hat der auch viel gemacht. Und die Preise gingen nicht so in die Höhe.«   »Andererseits  war  unter Janukowitsch  auch noch   kein Krieg, der die Preise steigen ließ, Oksana.«   »Ja, das stimmt wohl. Viele Reiche, die sich die Flucht aus dem Donbass leisten konnten, leben jetzt in Kiew. Da sind die Wohnungen noch mal teurer geworden.« (…)

Im unbeachteten Fernseher läuft eine Sendung des Komikerpräsidenten, »Die Liga der Lustigen«. Aus der Zeit, als er noch nicht Präsident war. Meist einen Kopf kürzer, interviewt er schalknackig andere Komiker (die nicht Präsidenten wurden). Nahbar, etwas heiser und verschwitzt. Ein kleiner energetischer Flummi,  der mich fast ein wenig  an Damals-Papa erinnert.

Und manchmal wird er wütend:

Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. (…) Trotz seiner Verfassung bittet mich Für-immer-Papa, neue Heldengeschichten davon zu erzählen, wie ich in Deutschland prosperiere — meinem Deutschland.  Die hört er am liebsten. Für-immer-Papa sagt, dass er mich liebt und stolz auf mich ist. Fast hinterherrufen muss er es mir, als ich zur schweren Holztür am Eingang des Grundstücks meiner Eltern haste. Absolut nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. (…) Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. Wollen wir wirklich an etwas so Gleichgültigem zu Grunde gehen, liebe Landsleute?

»Schlüss jetz! Keeine Wiedarwörte! Das is für EU!  Abmoarsch nach hint’n, hab isch gesacht! Odar ich schick euch klej wieder dahin, wo ihr alle hergekomm’nn seid.«

Und da geht mich die „Formalie in Kiew“ doch was an.

2021 – 175 Seiten

Leseprobe beim Hanser-Verlag

taz-talk: Gespräch von Doris Akrap mit Dimitrij Kapitelman über „Eine Formalie in Kiew“ (1:05)

 


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