Steffen Kopetzky: Monschau

Deutsche Geschichte – Deutsche Geschichten. Fakten & Fiktion. Der Roman spielt vor beinahe 60 Jahren, 1962, den Ort gibt’s wirklich: Monschau, Eifel, nahe an Belgien, Tuchmacherstadt. Es könnte aber auch eine andere Stadt sein, Deutschland 1962 war noch Nach-Nazizeit, die zu Mitläufern gewordenen Täter mischten überall mit, in Politik, Wirtschaft usw.
In Monschau stand die Otto Junker GmbH, die Industrieofenanlagen produziert (und die es noch heute gibt), im Roman heißt die Firma „Rither-Werke“, ist international vernetzt, ein Beispiel deutschen „Wirtschaftswunders“. Da die Inhaber verstarben, wurde sie geleitet von Richard Seuss, der alte Nazi-Seilschaften pflegt. Die junge Erbin Vera studiert in Paris, will Journalistin werden, hat wenig Interessen an der väterlichen Firma und will sie deshalb einer Stiftung überschreiben lassen. Alarmglocken bei Seuss.
Was diese 08/15-Konstellation hochaktuell macht: In der Firma in Monschau brachen 1962 die POCKEN aus! Angestellte hatten sie aus Indien eingeschleppt. Die Viren mischen die Verhältnisse auf. Erbin Vera kehrt aus Paris zurück, der Arzt Günter Stüttgen übernimmt die Eindämmung der Infektion zusammen mit seinem Kreta-stämmigen Assistenten Nikolaos Spyridakis. (Stüttgen ist real, Spyridakis heißt in echt Constantin E. Orfanos. Beide leben noch. Stüttgen war kurz vor Kriegsende in Abwesenheit von den Nazis zum Tod verurteilt worden, Spyridakis‘ Mentor Helmut Ruska gilt als Wegbereiter der medizinisch-biowissenschaftlichen Elektronenmikroskopie.)
«Die Pocken werden über die Schleimhäute aufgenommen. Aber sie führen ihr sichtbares Leben, sozusagen, unter und auf der Haut. An ihren Erscheinungen dort kann man sie diagnostizieren, und die können sehr unterschiedlich sein. Deshalb heißen sie lateinisch Variola: die Bunten.» «Das ist ja gruselig. Aber zurzeit betrifft es uns ja alle hier. Oder hoffentlich nicht. Jedenfalls – erzählen Sie mir doch etwas mehr darüber.»
Die Epidemie fällt in die Zeit des Karnevals, Quarantänemaßnahmen werden versucht, auch Kinder werden angesteckt, es fehlt angemessene Schutzkleidung. Vieles kommt einem merkwürdig bekannt vor. (Die Hintergründe erzählt Steffen Kopetzky im SPIEGEL – Bilder sind auch dabei.)
Nach gründlicher Recherche ist es Aufgabe des Autors, die Personen und Ereignisse zu verzahnen, erzähltauglich zu machen. Kopetzky erledigt das souverän, routiniert zelebriert er den Eifeler Totentanz. „Das Jahr 1962 wird zum Epochenjahr: Ende der Adenauer-Zeit, Kubakrise, die Nachwirkungen des frischen Mauerbaus – all das hat Kopetzky im Blick.“ (Christoph Schröder, ZEIT) Spyridakis gefallen die Jazzplatten, die Vera aus Paris mitbringt (Miles Davis, Cannonball Adderley), sie liebt seine Gedichte von Giorgos Seferis (der 1963 den Literaturnobelpreis erhielt), Conny Froboess singt „Zwei kleine Italiener“ für den Grand Prix, Helmut Schmidt bekämpft in Hamburg die Flut, die Illustrierte „Quick“ schickt den Reporter Grünwald (real: Johannes Mario Simmel), im Fernsehen läuft „Das Halstuch“, „die FDP hatte eine erstaunliche Integrationsfähigkeit bezüglich alter Nazi-Parteigenossen bewiesen, sofern diese fähig und zu neuen Aufgaben brauchbar waren“. All das und noch viel mehr ist drin in Steffen Kopetzkys „Monschau“.
Weshalb aber ist auf dem Cover des Romans ein verträumtes Paar abgebildet? Liebe in Zeiten der Pocken?
«Am dreißigsten Mai ist der Weltuntergang,
wir leben nicht mehr lang,
wir leben nicht mehr lang.»Der Hit des Eifler Pockenkarnevals schnurrte Strophe für Strophe ab, alles schrie das erlösende «vielleicht sind wir noch lange hier, und darauf trinken wir!» mit, um dann nacheinem tiefen Schluck doch wieder festzustellen, dass alles, alles vergebens war, denn «am dreißigsten Mai …».
Mitten in der Menge der die Apokalypse besingenden Twens fanden die beiden Venezianer sich schließlich wieder. Der Musketier wich vor Nikos‘ trotz Maske humorloser Erscheinung zurück, und Vera freute sich sehr, ihren eigentlichen Kavalier wieder in die Arme schließen zu können. In der Menge der anderen Karnevalisten waren sie einander so nah, miteinander fliegend, schwebend und inmitten der Menschen in einer herrlichen Intimität verschlossen, dass es dann auch geschah. Sie sahen sich in die Augen, im selben Moment ging die Karnevals-Hymne vom Weltuntergang zu Ende, die Kapelle pausierte, die wandelnden Schankkellner quetschten sich mit gefüllten Bierkränzen durch die Enthusiasmierten, und man nahm dem Wirt das Kölsch in saturnalischen Mengen ab. Inmitten der allgemeinen Begeisterung und des Tumults gab es diesen köstlichen Moment, in dem sich die zwei fanden wie in einer Blase, in welcher sie eine Weile schwebten, nur sie beide, als wären sie allein auf der Welt. Lange hatten sich beide vorgestellt, jeder für sich, wie es wäre, den anderen zu küssen. Und nun war es noch viel schöner. Und beide wussten, dass der andere genauso fühlte, und dieses Wissen verband sie, ließ sie im dichter werdenden Dschungel ihrerZuneigung zu Entdeckern und Indigenen zugleich werden.
„Über die kalkulierten Anspielungen auf das vermeintlich Triviale sollte aber nicht übersehen werden, dass Steffen Kopetzky mit seinen beiden ineinander verschränkten Romanen Propaganda und Monschau etwas gelungen ist, was ihm in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine singuläre Position verschafft: Er schreibt penibel recherchierte, spannend zu lesende Abenteuergeschichten, die weder pathetische Augenblicke noch ein Happy End scheuen und ernsthaft ihren historischen Kontext und die damit verbundene erzählerische Verantwortung jederzeit reflektieren.“ (Christoph Schröder)
2021 – 350 Seiten
Buchtrailer des WDR (4 Minuten)
WeitereYouTube-Videos zu Steffen Kopetzky – Monschau
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