Tarjei Vesaas: Die Vögel

Am Abend saß er mit bangem Herz – und bangen Fingern auf der Eingangstreppe. Hege war das Risiko eingegangen und lag schon im Bett.
Die Zeit kam, die des Vogels.
Da, sein Ruf, und da, die Flügel, irgendwie unbeholfen flatternd, rasch und ruckartig.
Die Flügel waren oben in der milden Nachtluft, aber sie drangen auch tief in Mattis‘ Herz. Der weiche, dunkle Hieb von etwas Unbegreiflichem füllte Mattis aus. Ich und die Schnepfe, dachte er verschwommen.
In seiner Freude versprach er: Morgen geh ich los, wie die Hege will. Wenn kein Gewitter kommt. Blitz ist Blitz, dann gehe ich nicht — und das weiß sie.
Er wartete die Schnepfe noch zwei Mal ab, dann ging er in das dämmerhelle, laue Sommerhaus schlafen. Doch falls er gehofft hatte, der Traum würde sich wiederholen, dann zeigte der ihm eine lange Nase. Keine Spur von irgendeinem Mädchenwald.
Mattis und Hege leben zusammen in einem Häuschen am Wald nahe dem See, auch das Dorf liegt abseits, wenige Einwohner, man kennt sich. Mattis und Hege sind Geschwister, beide um die 40, das Leben war bisher nicht sehr erfolgreich und auch die Zukunft verspricht wenig Änderung. Hege strickt und verkauft Pullover und sorgt so für den bescheidenen Lebensunterhalt, Mattis – ja, Mattis hat nichts zu bieten. Im Dorf nennen ihn alle nur „Dussel“.
Zu reden gibt es zwischen Mattis und Hege nicht viel und Mattis tut sich auch mit dem Wenigen schwer. Ihm fallen die Worte nicht ein, er kann seine Gedanken nicht in den Griff kriegen, er taugt zu keiner Arbeit. Er weiß, dass er ohne Hege hilflos ist. Seine Welt ist beschränkt. Sein Kopf ist voller Dinge, für die andere keinen Sinn haben.
Da fliegt eine Schnepfe direkt übers Haus, das kam noch nie vor, das hat was zu bdeuten. Der „Schnepfenstrich“ als Vorzeichen. Für was? Mattis ist beunruhigt, niemand versteht seine Sorge, auch, weil er sie nicht in Worte fassen kann. Weil er die fragile Balance des Lebens nicht beeinflussen und erhalten kann. Wenn er Angst hat, füllt diese seinen Kopf ganz aus und blockiert weiteres Denken. „Wenn er ängstlich ist, dann ist er Angst.“ (Gabriele von Arnim, Der Tagesspiegel)
Aber später am Abend sagte Hege, sie wollte seine Schnepfe da sehen — und das begriff er als Belohnung, Belohnung dafür, dass er gearbeitet und die Mühen auf sich genommen hatte. Allmählich kam ihm der Schnepfenstrich vor wie sein eigenes Werk. Jetzt folgte ihm Hege mit hinaus.
»Gut, du hast Verstand angenommen«, sagte er.
Mattis freute sich und drehte den Kopf in alle Richtungen, lauschend, wartend.
Dann kam der Vogel und auch all das Unsagbare, das mit ihm einherging. Hege durfte es miterleben. Ein Aufblitzen, ein rascher Flügelschlag, im Inneren zu spüren, wieder davon.
Hege sagte nichts, sie schien freundlich gesinnt.
Mattis sagte ergriffen:
»Ja, und so geht das noch mal und noch mal.«
Hege sagte, jetzt sollten sie sich schlafen legen. Aber sie war sicher ergriffen, glaubte er.
Darum berührte er kurz ihren Arm. Wollte ihr gern erzählen, dass das Haus jetzt verändert war, es hatte einen Vorzug gegenüber anderen Häusern, war irgendwie hervorgehoben. Das alles ließ sich nicht so leicht erklären, aber wenigstens konnte er ihren Arm berühren.
»Jetzt hast du’s gesehen«, sagte er nur, ungewollt voller Besitzerstolz. Hege vergaß sich und sagte:
»Das hast ja aber nicht du ganz allein zustande gebracht, oder? Klingt ganz so.«
Mitten ins Gesicht. Er starrte sie erschrocken an. Das sagte sie in so einem Moment? Wut schoss in ihm auf.
»Was bist du für eine! Musst immer alles kaputtmachen!«
»Psst.«
Die Schnepfe wird erschossen, Mattis begräbt sie unter einem Stein im Garten, der Blitz schlägt in ein Baumpaar vor dem Haus, das sie „Mattis und Hege“ genannt haben. Alles ist gefährlich, jeder Gedanke ist Gefahr. Mattis sitzt am liebsten auf einem runden Stein, findet aber auch da keine Seelenruhe. Er weiß um seine Unbrauchbarkeit, seine Gefühle geraten ins Trudeln. Hege rät ihm, eine Stelle als Fährmann im nahegelegenen See anzutreten. Die Stelle gibt es eben so wenig wie Leute, die sich rudern lassen wollen. Wohin auch. Allein zwei Mädchen, Anna und Inger, die sich in den Ferien im See vergnügen, schauen nicht auf ihn herab, sie sind nicht von hier, Mattis verspürt leise Euphorie, ein Gefühl, das sich nicht halten lässt, das aber auch noch in der Erinnerung freundlich ist. Eine Hoch-Stimmung, die unachtsam macht. Das wird sich rächen, der nächste, eigentlich der erste und einzige Fahrgast kommt wie gerufen. Jørgen, ein Holzfäller, Mattis nimmt ihn mit ins Haus.
Tarjei Vesaas wurde1897 geboren, ein Norweger, „Die Vögel“ (Fuglane) erschien 1957. In Deutschland sind Roman und Autor wenig bekannt, erst 2020 erschien eine Neuübersetzung (von Hinrich Schmidt-Henkel). „Die Vögel“ hat wenig äußere Handlung, Mattis lebt dafür zu langsam. Man sollte sich nicht abhalten lassen. Vesaas spürt tief in Mattis‘ Kopf hinein. Ein Buch, das immer intensiver wird, traurig, aber faszinierend, ein Seelendrama in einer sensibel einfachen Sprache – und damit umso einfühlsamer.
Draußen hatte Wind eingesetzt.
Plötzlicher Herbstwind.
Wispern und andere leise Geräusche, als der Wind in die Ritzen des alten Hauses fuhr. Ein langgezogenes Sausen in den Bäumen draußen. Und jetzt auch Wellen auf dem See.
Wie herrlich:
Er entspannte sich und verspürte Frieden.
Denn dann ist morgen sicher auch Wind. Und dann kann ich morgen nichts tun. Ich brauche ruhiges Wetter zum Ausfahren. Jetzt kann ich schlafen. Er schlief sofort ein. Das war ein mühevoller, anstrengender Tag gewesen.
1957 – 270 Seiten
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