Lena Gorelik:
Wer wir sind

Der Titel könnte philosophisch gelesen werden: „Wer wir sind“. Wir, die Menschen. Bei Lena Gorelik repräsentiert das „Wir“ die Familie, Eltern und Großeltern, Vater und Mutter, die später zu бабушка и дедушка werden, die eigenen Kinder und sie selbst, Lenotschka, später, westlich eigenständig: Lena. Zerrissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwei Pole ihres Lebens, die aber längst im Heute aufgelöst sind. Die Vergangenheit ist verblassende Erinnerung, die Eltern werden kleiner und an den Rand geschoben – was ein schlechtes Gewissen macht.
Was bleibt, ist die Sprache, das Russisch, das man in Leningrad, später wieder St. Petersburg oder liebevoll Питер, sprach, mit dem man aber in Deutschland nach der Aussiedlung nichts mehr anfangen kann. Ins Leere laufen auch die Redensarten, die das Leben in der Sowjetunion ordnend begleiteten. Die Eltern tun sich schwer, Lena lernt rasch, spricht bald Schwäbisch, überspringt eine Klasse und macht Abitur mit 1,1. „Wieso nicht 1,0?“, fragt der Vater. Lena Gorelik kokettiert schon auch ein bisschen mit der eigenen Klugheit.
Die Mutter lebt in ständiger Sorge, ihrer Tochter nicht viel fürs Leben mitgeben zu können. In der alten „Heimat“ ist das durchaus materiell zu verstehen, in Deutschland kann die Tochter mit der Für-Sorge nichts mehr anfangen, weil sie das deutsche Leben viel besser beherrscht als die Mutter. Der Vater ist der Denker, nicht der Sprecher, er gerät mit seinem Grübeln in Widerspruch zur sowjetischen Hierarchie, die eher das Glauben(-Sollen) verfügt. In der Schule heißt das Auswendig-Lernen. Der Vater führt die Tochter zur Kultur, er geht mit ihr ins Museum, in die Synagoge, ins Konzert, Lena findet zum Lesen. Auch das gehört zur Erziehung der еврейка, der Jüdin. „«Der fünfte Punkt», sagt sie nur. Sie meint den fünften Punkt im Pass, der in der Sowjetunion die Nationalität auswies, und in unserem Falle stand da eben: Jüdisch. Was hieß: Dies darfst du nicht und jenes auch nicht, und dazu gehört auch Sprachen studieren. Der fünfte Punkt, sagte man nur.“ In St. Petersburg hat man die Spiegel verhängt, wenn jemand gestorben ist. In Deutschland kommt der Vater nicht mehr zum Reden, sein Wissen ist so unbrauchbar geworden wie die Diplome der Mutter. Die Älteren gehören zu den „Menschen, die sich in der Enge und der Erniedrigung an einem Leben versuchen, die in ihren eigenen Sprachen nach Geborgenheit suchen, die sich nachts wälzen und sich durch Tage quälen.“ – „Lernen Sie doch erst mal richtig Deutsch.“
In Deutschland wird die Familie zunächst in einem Wohnheim untergebracht, soll dort eineinhalb Jahre bleiben.
„Mein Vater räumte unsere wenigen Sachen schweigend um, das Eingeständnis einer Niederlage. Wer sind wir hier, in diesem Land. Wer sind wir hier, in diesem Wohnheim.“ „«Hast du niemals gezweifelt?», frage ich meine Mutter. «Hast du dich nicht zurückgesehnt?» Wie konntest du, frage ich nicht, wie konntest du dein Kind da sehen, in diesem Wohnheim, in diesem Elend, hinter dem Stacheldraht? «Vielleicht», erklärt meine Mutter, die ich nicht gefragt habe, «vielleicht habe ich nichts in Frage gestellt, weil ich wusste, wie schlimm es vorher war. Weil ich dir dort im Wohnheim etwas zu essen geben konnte, das konnte ich dort, bei uns zu Hause, nicht immer. Das willst du dir nicht vorstellen», sagt meine Mutter, «wie das ist, das eigene Kind nicht füttern zu können.» Das will ich mir nicht vorstellen, nicht, während meine satten Kinder nebenan in einem Berg von Kuscheltieren schlafen. Das stelle ich mir lieber nicht vor.
Das Kind schämt sich für die Armut, für die Enge, für die Eltern, die sich schwer tun mit dem Deutschwerden.
Einmal kommt mich also eine deutsche Freundin besuchen. Ich kaufe selbst ein, Nudeln und Tomatensoße im Glas, um ihr das Erste, das Zweite und das Kompott zu ersparen. Koche die Nudeln auch selbst, bitte бабушка, in ihrem Zimmer zu bleiben. «Sind wir alleine zu Hause?», möchte die Freundin wissen, blickt sich um. Wir sitzen am Küchentisch, warten, bis das Wasser kocht. Ich gieße die Nudeln ab, in das grüne Plastiksieb, der ist auf jeden Fall vom Sperrmüll. Hole die Glasschüssel aus dem Schrank, die deutsche. Schütte die Nudeln hinein. «Das ist ja lustig, dass ihr Nudeln aus einer Salatschüssel esst.»
Das ist das „Deutsche Wunder“: „DEUTSCHE SCHÜSSELN“ heißt ein Kapitel:
Meine Eltern haben Salatschüsseln auf dem Flohmarkt gekauft oder auf dem Sperrmüll gefunden, weil es immer entweder das eine oder das andere ist. Meine Eltern wissen nicht, was eine Salatschüssel ist, auf Russisch gibt es nur миска. миска, miska, Schüssel: emailleweiß, oben schwarzer Rand. Die Schüssel hat Dellen, im Schwarz sind Risse. (…) Schüssel, die: Salatschüssel, Nudelschüssel, Rührschüssel, Dessertschüssel, Puddingschüssel. Im Russischen gibt es keine Worte, die zusammenwachsen können, vielleicht ist es ein Privileg, Wörter aneinanderzuhängen, ihnen quasi personalisierte Eigenschaften zu verleihen. Wie viele Schüsseln braucht man eigentlich, wofür alles?
Weitere Deutsche Wunder: Käse, wo jede Scheibe einzeln verpackt ist, Schwimmbäder, in die jeder hineindarf, Supermärkte, in denen man Nahrung für Tiere kaufen kann und, – er kriegt ein eignes Kapitel -, der „BADE-SCHA-UM“. „Der Badeschaum umarmt uns größer, weiter, ferner, nah. Wenn ich hineingreife: wie alles, was ich mir von Deutschland versprach. Meine Liebe zu Deutschland besteht aus weißen Seifenblasen, die zwischen meinen Fingern zerplatzen. Geräuschlos, ohne Aufhebens.“. – „Ich kann mir das nicht vorstellen, Deutschland. Bunt, vielleicht leuchtend. “ Der Badeschaum – das Paradies.
Lena Goreliks Erzählungen aus zwei Heimaten reihen sich ein in eine Vielzahl von Romanen und Autobiographien von jungen Autor:innen, die als Kind oder Jugendliche mit ihren Eltern aus prekären Weltgegenden nach Deutschland kamen. (Auswahl siehe unten) Im Zentrum stehen dabei neben den (alltags-)kulturellen Unterschieden die Spannungen, welche die Auswanderung im Geflecht der Familie hervorruft. Der Schock einer individualisierten Privatheit wirft vor allem die ältere Generation aus der Bahn, für die ein ausgreifender Familienzusammenhalt Stütze und Norm des Lebens war. Den Jungen fällt die Adaption an Sprache und „Lifestyle“ leichter, sie erzählen gern davon und von ihrer Abgrenzung zur „Herkunft“. Lena Gorelik spricht – wie die anderen – wenig über Politik oder Geschichte, sie reflektiert aber deutlicher das Erinnern.
Unsere Erinnerungen legen wir uns zurecht in erzählbare Geschichten. Ich hatte mir auch eine zurechtgelegt, und ich achtete darauf, sie so zu erzählen, dass man lachen durfte über mein Leben: Wenn ich gefragt wurde, wie es war, neu in einem Land zu sein und die Sprache nicht zu verstehen, so erzählte ich, dass ich anfangs die Schulfächer, aufgrund nicht vorhandener Sprachkenntnisse, anhand der verschiedenfarbigen Heftumschläge unterschied: Montags hatte ich Gelb, Blau, zweimal Rot und dann Grün, dienstags Blau, Gelb, Orange, Braun, Grün. Ich erzählte, wie ich die Sprache aufsog, wie ein hungriges Tier schnappte ich nach Worten, hielt sie mit aller Kraft fest, ließ sie auf der Zunge zergehen. Als ich genug Worte gesammelt hatte, um über das Flüchtlingswohnheim zu schreiben, bildete ich diesen Satz: ein Zuhause, für das ich mich bis auf die Knochen schämte. Und ich freute mich an der Sprache, die die meine geworden war. Und die Menschen, die mir bei Lesungen zuhörten, lachten über meine Geschichte, immer an den von mir dafür vorgesehenen Stellen. Ich hielt die Pausen im Lesefluss ein, die, an denen sie über mich lachen sollten. Meine Geschichte hatte ich mir zurechtgelegt und gefaltet, dass ich sie vorzeigen konnte. Nichts davon war gelogen, und nichts war erzählt.
«Du hast vergessen, was Familie ist», sagt meine Mutter am Telefon manchmal zu mir. Sie spricht gerne darüber, was eine Familie ist. Mein kleiner Sohn zählt auch gerne auf, wer alles zu unserer Familie gehört. «Patchwork-Familie», sagt er, und sie fragt ihn: «Wie spricht man das aus, Patschwok? Was heißt das genau?» Das kann er ihr nicht sagen, er kann noch kein Englisch, also sagt er ihr, was er weiß. Dass alle dazugehören, die er liebhat, die er braucht, um sich wohlzufühlen. Sie hört zu, vielleicht mit Tränen in den Augenwinkeln. Ich frage nicht, was die Tränen zählen, die Freude, die Traurigkeit, den Verlust.
2021 – 315 Seiten
Ausführliche Besprechung von Anne Amend-Söchting auf literaturkritik.de
Gespräch mit Lena Gorelik im BR Fernsehen (10 Minuten – Link bis Mai 22)
Romane und Autobiographien von jungen Autor:innen, die als Kind oder Jugendliche mit ihren Eltern aus prekären Weltgegenden nach Deutschland kamen:
Saša Stanišić erzählt, wie er vom Kriegsland Bosnien mit 13 Jahren nach Heidelberg kam und sich dort assimilierte. („Herkunft“, 2019)
Ronya Othmann wurde in Deutschland geboren, ihre Eltern sind jesidische Kurden. „Die Sommer“ sind die Ferien bei ihrer väterlichen Großfamilie im Nordosten des Irak. Erzählt wird auch die Flucht des Vaters und der Beginn ihres Studiums in Deutschland. („Die Sommer“, 2020)
Deniz Ohde ist ebenfalls in Deutschland geboren, ihre Ich-Erzählerin hat eine türkisch-stämmige Mutter und schildert ihren mühevollen Bildungsweg aus armen sozialen Verhältnissen. („Streulicht“, 2020)
Anna Prizkau berichtet in 12 Geschichten vom Leben im Raum zwischen dem alten Land Russland und der neuen „Heimat“, sie will ankommen, dazugehören, ist aber noch in der Herkunft verhaftet, die einer Steine in den Weg legt, die eine verwurzelt, einer Freiheiten nimmt, zumindest einschränkt. Sie wurde 1986 in Moskau geboren und kam 1994 nach Deutschland. („Fast ein nueues Leben“, 2020)
Dmitirij Kapitelman ist 1986 in Kiew geboren, er kam mit 8 Jahren zusammen mit den Eltern als „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland. Er sucht in der Ukraine und in Israel nach seinen jüdisch-sowjetischen Wurzeln. („Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“, 2016 – „Eine Formalie in Kiew“, 2021)
Iris Wolff war 8, als sie mit ihrer deutschsprachigen Familie aus dem siebenbürgener Banat (Rumänien) nach Deutschland kam. Im Mittelpunkt des Romans steht die alte Familie in der alten „Heimat“ und die „Zugehörigkeit“ in einer brüchig gewordenen Welt. („Die Unschärfe der Welt“, 2020)
Tuba Sarica, geb. 1987 in der Nähe von Köln, wendet sich in ihrem Buch an die Familie, unter deren „Scheinheiligkeit“ sie leidet. Sie klagt über“Doppelmoral und falsche Toleranz – die Parallelwelt der Deutschtürken und die Deutschen“. „Ihr Scheinheiligen“ ist kein Roman.
Sasha Marianna Salzmann, geb. 1985 in Wolgograd (Sowjetunion), zeigt an zwei Frauen, die in der UdSSR aufwuchsen und in den 90er-Jahren nach Deutschland kamen, deren Schwierigkeiten mit der Vergangenheit und mit dem Leben in Deutschland zurechtzukommen. Die Töchter kommen in kein Gspräch mit den Müttern und versuchen sich in Deutschland in neue Identitäten zu finden. („Im Menschen muss alles herrlich sein“, 2021)
Anna Yeliz Schentke ist 1990 in Frankfurt geboren. Die Studentin Dilek flieht 2016 nach Deutschland, um den Nachstellungen der türkischen Regierung angesichts des Militärputsches zu entgehen. Sie lebt zwischen türkischem Fühlen und der relativen Sicherheit im Exil. Im Exil kann und will sie nicht heimisch werden. „Kangal“ ist eine politische Analyse, weder der Zustände in der Türkei noch derer in Deutschland. Es geht mehr um das subjektive Erleben und Fühlen. („Kangal“, 2022)
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