Nachrichten vom Höllenhund


Peer Gynt (she/her)
4. Oktober 2021, 18:46
Filed under: Theater

Maria Milisavljević:
Peer Gynt (she/her)
nach Henrik Ibsen
Regie: Julia Prechsl

Ist man nach der G3-Zeremonie am Eingang im Velodrom-Theatersaal, bezaubert einen die Bühnen-Deko: silberne Glitzerschnüre wie – früher – Lametta-Fäden am Weihnachtsbaum. In mehreren Vorhängen hintereinander glimmen sie und warten auf bewegtere Zeiten. Soll ich mir das kommende Spiel in sie hineindenken: Märchen, Zauber, Flitter, symbolfreier Show-Effekt?

Bald und dann immer wieder, ja, fast ohne Unterlass saust dann die junge Peer durch das Gehänge, auf der Flucht, auf der Jagd, jedenfalls in so schneller Bewegung, dass die Frage, wo man herkommt oder wo man hinwill, sich nicht stellt. Allenfalls, ob man mitten durchs Geschehen oder außenrum besser vorankommt. Marlene Hoffmann ist die hin- und herrasende junge Peer, schnell auch im Sprechen, lautstark präsent, flirrend wie die Silberfäden.

Peer Gynt (she/her)

Katharina Solzbacher spielt die Peer Gynt als eine Frau in reflektierter Ruhe, eine Frau, die zurückblickt auf ein zu schnell und zu ziellos gelebtes Leben und die – eigentlich bekannte – feministische Beschwörungen und Phrasen in den Raum der Zuschauer hineinposaunt. „Phrasen“ bezieht sich nicht auf feministisch, sondern auf bekannt, feministisch gründet sich auf Maria Milisavljević, die dem „Peer Gynt“ das Etikett „she/her“ verpasst hat. (Simon Stone hat das am Deutschen Schauspielhaus Hamburg 2016 schon mal gemacht: „Sie, das ist Peer Gynt.“ Auf weiblich Trimmen liegt aber weiter im Trend, beispielsweise „Die Räuberinnen“ von Leonie Böhm an den Münchner Kammerspielen.)

Für die Bühne (Valentin Baumeister) hat man sich eine weitere Überraschung einfallen lassen, die allerdings von Reihe 4 (Reihe 1 wurde eliminiert) erst nach Spielstart erkennbar war: Die – seichte – Flutung des Bühnenbodens. (Na gut, auch nicht originell, in Regensburg gab es etliche Beispiele: „Shakespeares Schädel“ – der Silberfadenvorhang spielte da auch schon mit -, „Medea“ u.a.) Ist das noch trendy? Aber die gewässerte Bühne ist noch funktionaler als das Lametta, denn man kann sich so befreiend hingleiten lassen ins pritschelnde Nass. Fast spritzt es bis zur ersten Reihe aus der Halle des Bergkönigs, Norwegen ist ja ein Wasserfall-Klischee, schön anzusehen, wenn sich die Trolle in Gruppen bespritzen, Choreographie, stage-diving, wellness. Die Akteur:innen tragen transparente Hänger zum Schutz vor Über-Flutung.

Das Wort „selbstsüchtig“ ist ja ambivalent. Man sucht nach sich selbst, nach seinem „inneren Kern“, nach seiner Identität. Und man stellt sich selbst in den Mittelpunkt, sieht in jedem Spiegel nur sich selbst. Peer Gynt hat wenig mitgekriegt fürs Leben, der Vater ein Säufer, die Mutter überfordert, Peer will mehr, sein „Lebensmotto „Sei Dir selbst genug“ nicht nur geleitet, sondern regelrecht in einer lebenshungrigen wie manischen Suche nach sich selbst durch die Welt getrieben, ständig oszillierend zwischen Sein und Schein. Wer sich selbst immertreu ist, muss andere zwangsläufig enttäuschen.“ (Programm)

Nun kann eine junge Frau genauso wie ein Kerl eine sich selbst unproduktiv einschätzende Loserin sein, kann ebenso Gaukelbildern aufsitzen, kann, wie der Mann, sich mit der Welt verwechseln. Wenn man Peer (alt) zuhört, ist diese Selbst-Täuschung aber nicht Absicht und Ziel feministischer Selbstermächtigung. Wollten und sollten Frauen nicht damit aufhören, die Hütte mit dem Palast zu verwechseln, nicht mehr die/ihre Idee zur einzigen, wenn auch abstrusen, zu deklarieren, nicht bloß das Testosteron als Steuerhormon zu ersetzen, nicht mehr bloß durch die Welt und vor ihr (und vor sich selbst) davonzuflitzen? Wollte man das Potenzial von Mädchen/Frauen betonen, dürfte es nicht ausreichen, Frauen zu zeigen, die ebenso gut Narzisst:innen sein können wie ♂. Der she/her-Switch greift zu kurz, führt auch in der Übernahme des Plots zu Unwahrscheinlichkeiten und Widersinnigkeiten. „Aus Peer Gynt eine Frau zu machen, daraus zieht die Inszenierung keinen diskursstarken Nutzen, aber: Peer Gynt, diesen Egomanen, der sich alles nimmt, als Frauenrolle gedeutet zu sehen, hat einen Effekt, führt die immer noch verkrustete Geschlechterzuschreibungen vor Augen.“ (Yvonne Poppek, SZ) Hätte man Frauen, die ihren „Kern“ in Äußerlichkeiten suchen, nicht eher in Influenzerinnen oder Gründerinnen finden können: „Just do it – „Nimm dir die Freiheit, du selbst zu sein: So entfalten Frauen ihr wahres Potenzial, Mit Test und 100 Fragen zum Ich“ (Buch von Eva Wlodarek, 2021) – Nimm dir das Königreich!

Peer Gynt (she/her)

Peer kehrt nach ihrer Grand Tour zurück zu ‚ihrer‘ Solveig (Zelal Kapçık), die – aus welch feministischen Gründen auch immer – auf sie gewartet hat. Aber die Rückkehr zu sich selbst ist auch keine Lösung, wenn man keine Wurzeln hat. „Warum tun eigentlich alle so, als hätte ich eine Wahl.“ „Doch was bleibt dann am Ende, nach einem scheinbar schillernden Leben als Außenseiterin? Wohin mit der Angst vor Mittelmäßigkeit, der Sucht nach Selbstinszenierung und der ständigen Suche nach Bestätigung und Liebe?“ (Programm) Die Aufführung lebt von der Bühne, von den Läufen durch die Vorhänge, von den Wasserspielen, von den Trollen, von Marlene Hoffmann und Katharina Solzbacher. Zum Diskurs um Geschlechterrollen trägt das „she/her“ nicht viel bei, die Texte kreisen ums Thema – wie die Peer um die Vorhänge. Nicht vergessen: Fiete Wachholtz trommelt peitschenden Sound zum Reigen.

Theater Regensburg – Aufführung am 28. September 2021

Sommers Weltliteratur to go:
Peer Gynt in 10,75 Minuten


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