Wolfgang Kohlhaase:
Erfindung einer Sprache
und andere Erzählungen

Ich hörte ihr zu. Ich kannte sie einen Sommertag und zwei Wintertage lang, und was sie erzählte, war eine undramatische Geschichte, aber immerhin, es war die einzige, in der sie mitspielte. Ich wußte übrigens von genug Leuten zu Hause, oft jünger als ich und begabt für Träume, die sich nur schwer zurechtfanden in unserer Gegend, gerade weil sie so übersichtlich beschildert war. Aber wo kein Geheimnis ist, gibt es keine Wahrheit, wiees heißt. Der Platz für jeden schien bestimmt zu sein, der Lebensplan entworfen, man schlief unruhig mit einer dünnen Haut, den Gedanken aber war eine ruhige Bahn gewiesen. Und so gingen für manche die Jahre dahin wie ein schwaches Theaterstück: Wenn Handlung fehlt, muß Stimmung helfen. Doch Stimmungen sind so wandelbar.
„Eine undramatische Geschichte, aber immerhin“. Geschichten werden daran gemessen, ob sie für den Hörer, den Leser ‚dramatisch‘ sind, dabei geht es um die, die ihr Leben leben, erleben. Wolfgang Kohlhaase fügt keine Spannung in „die Jahre“, die man mitmacht, er macht aus dem Leben „nicht das große konstruierte Drama, es sind all die banalen, kleinen, traurigen, lustigen Geschichten, die Alltag bedeuten.“ (Andreas Dresen, Nachwort)
Auch das bloße Leben wird zum Drama, wenn die Umstände dem Leben zusetzen. Straat soll einem Mann, der nach Persien auswandern will, die Sprache beibringen. Straat ist Student, kann aber kein Farsi und so erfindet er halt Wörter, die der Mann für die richtigen halten kann. Aus der lustigen Episode wird tödlicher Ernst, denn Straat ist im Nazi-Lager und der Mann ist Kapo. Wenn der Schwindel auffliegt, ist Straat tot, denn es
„ist April, im Jahr vierundvierzig. Straat, der zehnte in der Reihe, die sich aufstellt, mit dem Gesicht zur Wand, ist zum Sterben müde, obwohl es früh am Tag ist, obgleich er so jung ist. Der Himmel, in den er sieht, wenn er den Blick über das Dach des Wachhauses hebt, ist niedrig und naß. Ein Stück unter den Wolken entlang, ein Stück um die Erde herum, liegt Holland. Von dort hat man Straat hergebracht, mit fünf anderen, vor hundert Tagen, vor langer, langer Zeit. Warum? Damit er schwitzt, damit er friert, damit er Steine trägt, Prügel kriegt, im Dreck liegt, auf Brettern schläft, faules Gemüse frißt und endlich aufhört zu sein. Aber vorher, noch atmend, noch blickend, soll er vergessen, wer er war.“ (Erfindung einer Sprache)
Kohlhaase muss nicht pathetisch werden, nicht sentimental, der Schrecken ist so total, dass er nüchtern erzählt werden kann. Für das „Mädchen aus P.“ entwickelt sich die Welt zum Horror, weil die Geschichte unbarmherzig ist. Die einzelne hat keine Handlungsmöglichkeit und alle werden vereinzelt, die nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehören.
Bis zum Krieg wollte Rejka Studentin werden. Es war ein unbestimmter Wunsch, sie war ja kaum vierzehn.Was sie studieren wollte, wußte sie gar nicht. Sie las gern. Sie besaß ein paar Bücher, in die sie mit kindlicher Sorgfalt ihren Namen schrieb. An einem Julitag, nachmittags, kamen die graugekleideten Soldaten, von denen jeder wußte, daß es der Feind war, aber nicht jeder wußte, daß es der Tod war, der da in die Stadt fuhr, mit gebräunten, verschwitzten Gesichtern und weißen Zähnen, auf Motorrädern, die auf den trockenen, nicht gepflasterten Wegen lange Staubfahnen hinter sich herzogen.
Bald nach den Deutschen kamen schreckliche Nachrichten. Man hörte von Kiesgruben, die sich mit menschlichem Fleisch füllten, von Benzinfeuern in offenen Gruben, von streng bewachten Wäldern, in denen unablässig geschossen wurde. Die Erwachsenen sprachen mitleiser Stimme davon, niemand schickte die Kinder hinaus
P. blieb, keiner wußte, warum, verschont.
Aber das Grauen verschont keine. Rejka wird schwanger, das bedeutet: Tod. Das Leben hat keinen Ausweg. (Das Mädchen aus P.)
Dann fiel ihr Blick auf die Kiste neben Rejkas Bett, und sie trat mit einem Ausdruck von Rührung darauf zu. Sie sah die fahle, sehr trockene Haut des Kindes und erschrak. Sie berührte sein Gesicht, und ihre Hand spürte die Kälte. Sie sah ratlos zu Rejka und beugte sich wieder über das Kind, dann rief sie entsetzt: »Was ist denn? Es ist ja tot!«
Rejka nickte und sagte einfach: »Ja, es ist tot.«
In späteren Erzählungen weicht das Schwere, die Schicksale schweben, oft nicht einmal von den Akteuren registriert, „die Stimmungen sind wandelbar“, man überlässt sich der Ungewissheit, vielleicht bloß ein Zufall, der das Leben wendet – oder nicht. Egal.
„Fast aphoristisch die Sprache, Gefühle verstecken sich scheu zwischen den Zeilen und überraschenden Wendungen.“ (Andreas Dresen) „Hoffentlich gelingt es nun, diesen Band in den Kanon der Nachkriegsliteratur aufzunehmen. (…) Ein Meister lässiger Lakonie konnte es eben auch bei diesen Proben belassen. Die hier erreichte Dichte lebt ja auch vom Weggelassenen.“ (Gustav Seibt, SZ)
1977 – 200 Seiten
Knut Cordsen (BR) über den „Poet der kurzen Form“
Biographie bei Stiftung-DEFA-Filme
Film „Persian Lessons“ (auf Deutsch, von Vadim Perelman mit Lars Eidinger) – 2:07
Dazu:https://de.wikipedia.org/wiki/Persischstunden
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar