Nachrichten vom Höllenhund


Evaristo
25. November 2021, 15:39
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Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc.

Für die Schwestern, Sisters & Sistas & Sistahs & Sistren
& die Frauen, Women & Womxn & Wimmin & Womyn
& unsere Brüder, Brethren & Bredrin & Brothers & Bruvs
& unsere Männer, Men & Mandem
& die LGBTQP-Mitglieder
unserer Menschenfamilie

Frauen, Mädchen, Mütter, Töchter, Alte, Junge, in England Geborene, Zugewanderte, Weggezogene, London, Nordengland, 50er-Jahre, Jetztzeit, Schwarze, auf dem Land, in der Stadt, Lesben, Heteras, Künstlerinnen, Hausfrauen, Upper- und Lower-Class, Aufbegehrende, Dominante, Abhängige, Selbstbewusste und Gebrochene, Männer als Partner, als Erzeuger, als Despoten, als Abwesende, aus Afrika, aus den USA, aus der Karibik. Etc.

Bernardine Evaristo zeigt das ganze Spektrum, führt an 12 ausgewählten Frauen Schicksale, Lebenskämpfe, Scheitern und (vordergründige) Erfolge vor. In 4 Kapiteln stellt sie je 3 Frauen in den Mittelpunkt. Amma Yazz Dominique Carole Bummi LaTisha Shirley Winsome Penelope Megan/Morgan Hattie Grace. Oft 3 Generationen zusammengefasst und gegenübergestellt. Manchmal taucht eine Person in neuem Zusammenhang wieder auf, kurz im Spot, als Leser hab ich sie eigentlich schon wieder vergessen, wer war doch noch gleich Carole, Dominique? Im 5. Kapitel findet die „Premierenparty“ statt, eine Rückblende auf das neue Theaterstück der queeren Hauptperson Amma, die man zu Beginn kennenglernt hat, vielleicht die Erzählerin. Einige der Bezugspersonen finden sich zur Party ein- und haben sich selten etwas zu sagen.

Für die Mädchen, Frauen etc. sind 30 bis 50 Seiten vorgesehen, Bernardine Evaristo setzt Schwerpunkte, Exemplare in Dioramen. 12 Romane in einem, die Einzelteile weniger Erzählungen als Vorführungen, präzise komprimiert. („Roman“ ist auf dem Cover ganz klein gedruckt.) In die Texte geraten – das eigentliche Anliegen Evaristos – immer wieder Diskurse über die Identitäten. Ich fühle mich informiert und belehrt. In England schaute man früher auf Schwarze Frauen als in Deutschland, was mit dem Thema Kolonialismus zu tun hat. Im ländlichen England, vor allem im Norden, waren Schwarze selten anzutreffen, für die Frauen stand nur die Rolle als Dienstbotin offen, Einheirat in eine bodenständige Familie war seltene Ausnahme. Auch in England verlief die Tradition der Familien nicht ohne Konflikte, oft sehr konfrontativ zwischen den Generationen. Ab den Siebziger Jahren entstanden in den größeren Städten, bevorzugt natürlich in London, künstlerische Milieus, zu denen auch Schwarze Zugang fanden, zuerst als Exoten, später arbeiteten sie sich auch im Ranking hoch, zuletzt auch Frauen, sie konnten, wie Carole, Finanzanalytikerin werden, mussten sich dafür aber von ihrer Herkunft (Mutter Putzfrau) radikal ablösen und sich überanpassen. Die Kreise blieben zum Teil esoterisch. Ab der Jahrtausendwende zersplitterte der Neoliberalismus immer beschleunigter die Identitäten und versetzte nicht zuletzt die Frauen in Rollenunsicherheiten, man war gefordert, sich einer Community zuzuordnen bzw. im Zwang, sich davon abzugrenzen, die Grenzen flüssig zu gestalten. Colour, Ethnie, Gender gerieten heftig in Turbulenzen. Alle hier auftretenden Frauen sind „intersektional diskriminiert“.

zudem bezeichnet das Kind, das sie zur Feministin erzogen hat, sich neuerdings nicht mehr als solche  Feminismus ist doch voll die Herdennummer, hat Yazz ihr erklärt, ganz ehrlich, heute ist es sogar schon durch, noch eine Frau zu sein, neulich hat bei uns an der Uni diese nicht-binäre Aktivistenperson gesprochen, Morgan Malenga, das war der mega Eye-Opener für mich,
ichdenke, in Zukunft sind wir irgendwann alle nicht-binär, weder männlich noch weiblich, was ja alles sowieso nur Genderperformance ist, und das heißt dann auch, Mumsy, dass deine Frauenpolitik überflüssig wird, abgesehen davon bin ich Humanistin, das spielt sich auf einer viel höheren Ebene ab als Feminismus
 hast du davon überhaupt schon mal gehört?

Was beim Durchblättern ins Auge fällt, ist der Schriftsatz: kleine Abschnitte, das erste Wort klein geschrieben, am Ende kein Punkt. Beim lesen stört das nicht, Grammatik und Rechtschreibung sind ja wie gewohnt. Man wird durch den Text gezogen. Am Ende der Abschnitte steht oft ein Wort isoliert und wird dadurch auffällig, setzt einen Kontrapunkt.

Yazz wurde nie ausgeschimpft, wenn sie ihre Meinung äußerte, aber schon, wenn sie Kraftausdrücke verwendete, denn sie sollte schließlich einen guten Wortschatz entwickeln
  (Yazz, du kannst sagen, dass du Marissa unsympathisch oder nicht nett findest, aber du darfst sie nicht als vollgekackten Stinkepo bezeichnen)
  und obwohl sie nicht immer bekam, was sie wollte, erhöhte es doch ihre Chancen, wenn sie gute Argumente dafür vorbrachte
Amma wollte ihre Tochter frei, feministisch und stark machen päter schickte sie sie zu Persönlichkeitsentwicklungskursen für Kinder, damit sie selbstbewusst und redegewandt wurde und sich in jedem Kontext behaupten konnte
  schwerer Fehler

Bernardine Evaristo bietet für jeden Aspekt die Vorzeigefrau – von 19 bis 90 – und erzählt mit ihr im Zentrum von den Identitätsdiskursen der Zeit. Sie erhielt dafür 2019 den Booker-Preis – als erste schwarze Schriftstellerin. Man muss sich nicht jedes Detail und jeden personalen Zusammenhang merken, man weiß aber nach dem Lesen mehr. Vorausgesetzt man interessiert sich für die Themen der Zeit und man ist offen für neue literarische Formen und man schätzt ironische Ernsthaftigkeit.

Megan erzählte Bibi, sie habe immer geglaubt, Feminismus sei ein Synonym für Männerhass, aber während sie es hinschrieb, wurde ihr klar, dass sie sich darüber eigentlich nie eine eigene Meinung gebildet hatte
  ach, das nun wieder! schoss Bibi zurück, natürlich hat Feminismus nichts mit Männerhass zu tun! es geht um die Befreiung von Frauen, um Gleichstellung und Freiheit von einschränkenden Erwartungshaltungen, du solltest mal anfangen, selbst zu denken, anstatt patriarchale Strukturen nachzuplappern, werd endlich erwachsen, Megan!
  ich dachte, du wolltest sanfter mit mir sein  äh, ja,
okay, ich kann halt nicht anders, aber ich verspreche, von jetzt an werde ich zuckersüß sein
  ich will einfach nur ich selbst sein, Bibi
  wow, das ist ja nicht gerade ehrgeizig, willst du denn nicht die Welt verändern?
  erstmal will ich meine Welt verändern, Bibi, eins nach dem andern
  like like like like like 🙂
  jetzt verarschst du mich aber
  nein, ich bin total deiner Meinung, wir wollen doch alle nur wir selbst sein und dafür sorgen, dass wir in dieser Welt halbwegs klarkommen, hey, eigentlich bin ich nämlich voll superkalifragilistischexpialigetisch  das lass mal mich beurteilen
  0000h, jetzt teilst aber du ganz schön aus, lolMegan sah sich Bibis Profilbild genauer an, sie sah indisch aus, vielleicht in den   Zwanzigern? dicke, geometrische, schwarze Brille, dickes schwarzes Haar bis auf die Schultern, ernste Miene
  attraktiv
  sehr

Bernardine Evaristo darüber, weshalb der Roman so viele Menschen anspricht: „ Obwohl es so experimentell ist, ist es leicht lesbar und Menschen können auf verschiedenen Ebenen eine Verbindung herstellen, es gibt darin zum Beispiel viele unterschiedliche Mutter-Tochter-Beziehungen. Sie können sich damit auch identifizieren, wenn sie aus einer weißen Arbeiterklasse kommen. Oder sie erkennen sich in den Erfahrungen der Frauen wieder. Einmal kam ein 80-jähriger Mann auf mich zu und sagt mir, dass er sich auch darauf beziehen könne. Das ist wunderbar, denn letztendlich geht es darum, wer wir als Menschen sind, oder? Wenn all diese künstlichen Barrieren wie Race und Gender sich im Rest auflösen und die Lesenden nur in der Geschichte involviert sind, ist das eine wunderbare Sache.“

The Booker Judges’ Comments : „‘It’s a triumphantly wide-ranging novel, told in a hybrid of prose and poetry…It’s also, to my mind, the strongest contender on the (Booker) shortlist. A big, bold, sexy book that cracks open a world that needs to be known…Evaristo’s job is to observe, broaden our minds and to be funny – often very funny indeed…’“

2019 – 510 Seiten

Informationen zum Aufbau und zu den Personen des Romans und links zu Rezensionen

Diskussion im SRF-Literaturclub

Leseprobe beim Tropen-Verlag

Tropen-Verlag: Die große digitale Liveshow »Mädchen, Frau etc.«

 Homepage von Bernardine Evaristo

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