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Michael Lüders:
Hybris am Hindukusch.
Wie der Westen in Afghanistan scheiterte
Michael Lüders blickt – wie gewohnt – detailliert, informiert und kritisch in die Welt. „Hybris am Hindukusch“ erschien 2022 und erlaubt deshalb das Resümee: „Wie der Westen in Afghanistan scheiterte. Er geht auf die sowjetische Invasion 1979 – 1989 (mit … Toten) ein, doch steht das „westliche Narrativ, im Mittelpunkt: „Die politisch-mediale Wahrnehmung des Krieges in Afghanistan kreiste um hehre Begriffe wie Demokratie, Frauenrechte, Mädchenschulen, eine bessere medizinische Versorgung, Brunnenbohren — rhetorische Bausteine der Selbstdarstellung.
Afghanistan hatte nie eine starke Zentralregierung mit Einfluss im gesamten Land. Die Familie, der Clan, das Dorf, der Stamm, die ethnische und sprachliche Zugehörigkeit sind für die Identität der meisten Afghanen prägend, nicht die Nation oder eine nationale Identität. Die Machtstrukturen im Land sind daher nicht auf Kabul, nicht auf ein Zentrum hin ausgerichtet. Wie konnten die westlichen Regisseure hinter der politischen Neuordnung ernsthaft annehmen, eine von ihnen eingesetzte Regierung aus Mafiosi, Gewalttätern und Bankrotteuren könne jemals Stabilität erlangen? Flankiert von einer ganzen Armada anHills- und Entwicklungsorganisationen? (…) Das neue, westlich installierte Regierungssystem, beseelt von neo-kolonialem Geist, wenngleich demokratisch gefiltert, war ein vom Dach her gebautes Haus, ohne tragfähiges Fundament. (…) Schon unter friedlichen Bedingungen haben top down-Modernisierungsansätze in Afghanistan nie funktioniert – auch dann nicht, wenn sie geboten erschienen, etwa um die Benachteiligung und Rechtlosigkeit von Mädchen wie Frauen zu überwinden.
In Wirklichkeit haben die USA vor allem zwei Ziele verfolgt. Zunächst einmal Rache zu üben und Terroristen zu jagen, ohne den Begriff je konkretisiert zu haben. Jenseits aller Schönrednerei haben die Amerikaner von Anfang an großflächig bombardiert, parallel jeden zum Abschuss freigegeben, der ihren Vorstellungen eines Terroristen entsprach.“
Der Terror, den namentlich die USA in Afghanistan verbreiteten, erzeugte im Gegenzug ebenjenen Terror, den zu bekämpfen der «Krieg gegen den Terror» vorgab. Eine Gewaltspirale, an der die Rüstungsindustrie glänzend verdiente. (…) So flutete die Regierung Obama Afghanistan mit Hilfsgeldern und Militärausgaben in kaum noch nachzuvollziehenden Größenordnungen, was die ohnehin schier grenzenlose Korruption noch einmal in ganz neue Dimensionen geführt hat. Laut «Afghanistan Papers» sind von den rund 2,2 Billionen US-Dollar, die der Krieg in Afghanistan allein die USA gekostet hat, etwa 800 Milliarden in dunklen Kanälen verschwunden – nicht zuletzt auf den Konten von Warlords, Politikern, Drogenbaronen in irgendwelchen Steueroasen. Ein erheblicher Teil dieser großzügigen Alimentierung entfällt auf die Regierungszeit Obamas. Zum Vergleich: Das Bruttosozialprodukt Afghanistans betrug 2020 knapp 20 Milliarden US-Dollar.
Beim Lesen denke ich immer wieder um vom Hindukusch an den momentanen Krieg in der Ukraine. Haben die Russen nichts aus dem Debakel der Sowjets in Afghanistan gelernt? Liegt es – nur – an der Borniertheit der Gewalttäter und ihrer Staatslenker? Entspringt die Ukraine-Ideologie der USA der gleichen Rüstungsindustrie, die auch in den Krieg am Hindukusch bannig viel Geld steckte, um noch mehr rauszuholen und die US-Oligarchen gegen Begehrlichkeiten fremdnationaler Interessen (?) abzusichern?
Schon der Eintritt der USA und ihrer NATO-Verbündeten war dem Gedanken der Rache für 9/11 geschuldet, Afghanistan war nicht das Heimatland der Terroristen, aber dort hatte Osama bin Laden Zuflucht gesucht. Eine andre als militärische Lösung wurde von Präsident Bush nie angestrebt. Aber „es hat, man kann es nicht deutlich genug hervorheben, nie ein grünes Licht der Vereinten Nationen für den Afghanistan-Krieg gegeben.“ Auch das Ende des Krieges war ein Desaster. Der überstürzte und unkordinierte Abzug hinterließ nicht nur weitere afghanische Opfer, sondern führte zur abermaligen Machtübernahme der bekämpften Taliban.
Im Januar 1998 gab der US-amerikanische strategische Vordenker Zbigniew Brzezinski der französischen Zeitschrift Le Nouve Observateur ein bemerkenswertes Interview, in dem er Klartext redete – jenseits der üblichen Formeln rund um «Demokratie» und «Werteorientierung», die gemeinhin zur Rechtfertigung westlicher Interventionspolitik herhalten müssen:
(…) Haben Sie selbst die Absicht verfolgt, dass die Sowjets einen Krieg beginnen, und nach Mitteln und Wegen gesucht, das zu provozieren?
Nicht ganz. Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben wissentlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es dazu kommen würde.
Als die Sowjets ihre Intervention mit der Absicht begründeten, dass sie das geheime Engagement der USA in Afghanistan bekämpfen wollten, hat ihnen niemand geglaubt. Dennoch war die Behauptung nicht ganz falsch. Bereuen Sie heute nichts?
Was denn bereuen? Die geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Das Ergebnis war, dass die Russen in die afghanische Falle gelaufen sind, und Sie verlangen von mir, dass ich das bereue? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten hatten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnam-Krieg zu verpassen. Und tatsächlich, fast zehn Jahre lang war Moskau gezwungen, einen Krieg zu führen, der die Möglichkeiten der Regierung bei Weitem überstieg. Das wiederum bewirkte eine allgemeine Demoralisierung und schließlich den Zusammenbruch des Sowjetreiches.
Uwe Wittstock: Februar 33.
Der Winter der Literatur

Erst sechzehn Jahre später, 1949, wird sie wieder in München auf der Bühne der Kammerspiele stehen.
Man kann sich freuen, dass einem eine Jahreszeit als Allegorie in einem Buchtitel begegnet, ja, sogar mit einem Bild von Schlittenfahrern. „Der Winter der Literatur“ ist aber keine Zeit der kleinen Freuden, sondern eine Zeit des Untergangs, eines übergangslosen Absterbens, ohne „Verfall“, so plötzlich erscheint der Tod, so unerwartet. Jede Kultur ist am Ende. Uwe Wittstock zeichnet es nach an der Literatur, der die Nazis in noch immer unvorstellbarer Kürze den Garaus machten.
In wenig mehr als einem Monat waren die deutschen Literaten aus Deutschland vertrieben, war die Literatur, die in der Weimarer Republik eine Blüte erlebte, speziell in Berlin, der Hauptstadt, ersetzt durch rabiate Ignoranz, durch archaisch raunende Mystik, waren die Bücher verbrannt.
Wittstock beleuchtet Tag für Tag, beginnend mit dem 28. Januar und bis zum 15. März, einem Mittwoch. Erstaunlich groß ist in Berlin die Zahl der Literaten, die sich kennen, sich besuchen, sich miteinander streiten und versuchen, Bündnisse einzugehen, etwa in der Preußischen Akademie der Künste – Abteilung für Dichtkunst. (wobei Solidarität für Dichter gar nicht so einfach ist.) Alle sind aufgescheucht im Umfeld der Wahlen zum Reichstag im März 1933. Manche reflektiert, manche kopflos, manche gelähmt, viele nach Gleichgesinnten und -bedrohten suchend, auch welche, die sich im Angebot des Völkischen wiederzuerkennen meinen. Benn etwa. Was „Der Winter der Literatur“ nicht ist: politische Analyse, Kausalitätsforschung.
Erschreckend ist auch heute noch, wie schnell alles ging. Wie umfassend die Nazis vorbereitet waren für die Ausrottung und Vertreibung der Schriftsteller, wie schnell die Kultur annulliert war, wie blauäugig die Kulturträger bis zuletzt dachten, hofften oder reagierten, wie naiv sie waren im Hinblick auf die erwartete Dauer des Faschismus. „Es gehe jetzt nur darum, die nächsten Wochen zu überleben.“ «Ich bleibe auf alle Fälle», sagt Gabriele Tergit. «Man muss doch der Historie zusehen.»
«Ich möchte das ja auch», meint Ossietzky und macht dazu ein Gesicht, in dem Zweifel zu lesen sind, ob man der Historie tatsächlich bei der Arbeit zuschauen kann.
Dann werden die Korrekturfahnen gebracht. Gabriele Tergit steht auf und verabschiedet sich: «Auf Wiedersehen.»
Aber sie wird Ossietzky niemals wiedersehen.
Man vergleicht auch immer wieder, ob die Neonazis heute ähnliches Potential aufgebaut haben, ob die Verharmlosung zu lang anhielt und anhält, ob aus der Geschichte wieder mal nichts gelernt wurde. Die Schriftsteller scheinen überwiegend unpolitischer geworden zu sein, sich in individualisierenden Identitätsscharmützeln zu verdrücken. Noch kann man Aufrufe unterschreiben, noch kann man zweifeln, ob Mordaufrufe von potentiellen Mördern stammen oder von Trollen. Gibt es jemanden, der die Jahreszeit der Gegenwartsliteratur aufzeichnet? Uwe Wittstock schließt an jede Episode einen Tagesbericht über die politischen Auseinandersetzungen an – und es liest sich schrecklich.
Die Grippe flaut ab. In Berlin werden nur noch 300 bis 400 Neuerkrankungen pro Tag gemeldet.
In Doberan bei Rostock greifen SA-Leute eine Veranstaltung des republiktreuen Reichsbanners an. Ein Angehöriger des Reichsbanners wird getötet, neun Männerdieses Verbandes und zwei Nationalsozialisten werden schwer verletzt.
In Duisburg-Hamborn werden Mitglieder derKPD in einem Bootshaus überfallen. Einer der Männer wird durch zwei Kopfschüsse und einen Schuss in die Brust getötet. Drei andere erleiden schwere Schussverletzungen.
Bei einer Schlägerei in Chemnitz-Erfenschlag zwischen Nationalsozialisten und Männern des Reichsbanners wird ein Mann durch einen Messerstich so schwer verletzt, dass er beim Transport ins Krankenhaus stirbt.
(Samstag, 18, Februar)
Wittstocks Panoptikum ist ohne Anspruch auf Vollständigkeit, zeigt aber Szenen aus dem Überleben von verstörten, getriebenen Menschen, die sich als Schreibende in die Öffentlichkeit gewagt haben und deshalb angreifbar geworden sind, drangsaliert von einer Bande akultureller Geiferer mit stupid-perfider Ideologie. Wittstock bedient sich der bewährten Methode des Arrangements von Simultaneitäten.“Hitler hält ab 20 Uhr im Sportpalast an der Potsdamer Straße vor rund 10000 Zuhörern seine erste große Rede im Wahlkampf. (…) Zur gleichen Zeit, ab 20 Uhr, hält Thomas Mann im Auditorium Maximum der Münchner Universität seine Rede über Richard Wagner.“ (Freitag, 10. Februar)
„Februar 33“ ist „von suggestiver Dichte und sprachlicher Überzeugungskraft. Wittstock hat seine einzelnen Szenen arrangiert wie ein Dokudrama: Schnitt, Gegenschnitt.“ (Christian Thomas, FR)
Nachdem sich Walter Mehring von Brecht im Krankenhaus verabschiedet hat, stapft er durch die zunehmende Kälte zu einem Café, in dem der SDS, der Schutzverband deutscher Schriftsteller, für den Nachmittag ein Treffen geplant hat. Mehring wird dort erwartet, er soll aus seinen Texten lesen, und natürlich will er von der Warnung berichten, die ihn über den Freund aus dem Außenministerium erreicht hat. Aber noch bevor er das Café betreten kann, kommt auf der Straße eine Schönheit mit dunklen, ungezähmten Locken auf ihn zu, Mascha Kaléko. Sie ist fünfundzwanzig, eine gewitzte, geistreiche Frau, die mit ihrer nüchtern-ironischen Lyrik schon jetzt als eine der wichtigen neuen Dichterinnen des Landes gilt. Viele Zeitungen drucken ihre Gedichte, und im Rowohlt Verlag ist vor einigen Wochen ihr erster kleiner Band erschienen mit dem schönen, neusachlichen Titel Das lyrische Stenogrammheft. Doch jetzt im Moment geht es Mascha Kaléko nicht um Literatur. «Mehring», zischt sie ihm zu, «Sie müssen sofort verschwinden! Da oben ist die Hakenkreuz-Hilfspolizei mit einem Haftbefehl für Sie!»
Mehring dreht auf der Stelle um. Er will nicht auffallen, also geht er langsam und ist froh um jeden Meter, den er sich von dem Café entfernt. Schritt um Schritt schleicht er sich in Sicherheit. Dann entschließt er sich, jetzt sofort den Rat umzusetzen, den ihm dieser Freund über seine Mutter zukommen ließ. Er geht zum Bahnhof und setzt sich in den nächsten Zug Richtung Grenze.(Montag, 27. Februar)
Leseprobe beim Verlag C.H.Beck
Georg Seeßlen
& Markus Metz:
Wir Kleinbürger 4.0 –
Die neue Koalition und ihre Gesellschaft

Aber natürlich verhält es sich auch genau andersherum.
72 Es ist die bizarre Botschaft der deutschen Familienserie, von den »Unverbesserlichen« über »Ein Herz und eine Seele« oder »Familie Heinz Becker« bis zur »Lindenstraße«, dass die im Kern unerträglichen Zustände so dargestellt werden, dass am Ende doch mehr Zusammenhalt bleibt als Auseinanderbrechen. Die »Lindenstraße« wurde zu einem Zeitpunkt eingestellt, als an ein Zusammenspiel der verschiedensten Impulse und Ideen im Kleinbürgertum rational und konfligierend nicht mehr zu denken war und nur noch die Flucht zum »Bergdoktor« oder aufs »Traumschiff« blieb.
Das ist die Fußnote 72 und sie zeigt Den Glanz und das Elend des Kleinbürgertums, zu dem sich auch die Autoren zählen. „Wir“ (!) Da wird das Ergebnis der Gedanken bis in den banalsten TV-Serie konkretisiert und zugleich sind die analysierenden Begriffe so schwammig, dass die Aussage zugleich präzise treffen und dabei die Zusammenhänge verschwimmen: Zusammenhalt, Auseinanderbrechen, Impulse und Ideen verschiedenster Art. Die Menschen werden zum Konglomerat, immer im Dazwischen, in Transformation, doch ohne voranzukommen.
Der linke Kleinbürger verleugnet immer abwechselnd sein Kleinbürger-Sein und sein Links-Sein. Und zugleich sehnt er sich so sehr nach Räumen und Sprachen der »Selbst-Verständlichkeit«, dass er aus diesem Widerspruch in einen Mythos flüchtet, den Sowohl-als-auch-Mythos. Nach Haltungen und Erzählungen, in denen man gleichzeitig kleinbürgerlich, links und liberal sein kann, ohne diese drei Parameter benennen und analysieren zu müssen, gestaltete sich das linke Projekt auf das simple Projekt: das Recht des Proletariats, zu Kleinbürgern zu werden. Genauer gesagt wurden das Proletariat und seine politische Repräsentanz »abgeschafft« zugunsten einer vorläufigen und besonders perfide konstruierten »unteren Mittelschicht.
Seeßlen und Metz systematisieren äußerst kleinschrittig. Sie sind bei ihrer Durchleuchtung des Kleinbürgerlichen inzwischen bei Version 4.5 angekommen, wobei im Kleinbürger stets die sozialpolitische, also ökonomische Basis steckt, welche den Kleinbürger für sein Leben und sein Weltbild passend verformt und passend macht. Das Phänomen Kleinbürger ist nicht neu, Seeßlen und Metz bezeichnen es als „Klasse, die nicht eine ist“ und verfolgen die Entwicklung und Ausformung durch die Zeiten: „Wir (!) Kleinbürger“ einst und jetzt, vom Feudalismus zum Neoliberalismus. Gegenwärtig, so der Titel, bilde der Kleinbürger 4.0 „die neue Koalition und ihre Gesellschaft“. Das Buch kam 2021 heraus und ersichtlich rechneten die Autoren mit einer schwarzgrünen Verbindung, doch macht der Partnerwechsel wenig Änderungen nötig.
„Nach unseren, zugegeben, ein wenig mäandernden Annäherungen“ an die Definition des Begriffs taucht diese in abgewandelter Form immer wieder auf. Sie lavieren durch der Kleinbürger „Freizeitvergnügen“, ihre „Traumwelten“ und ihre „sexuelle Ökonomie“, ihre bevorzugten Fernsehprogramme.
Auf der einen Seite gibt es also Prozesse der Auf- und Abwertung. Und zwar in den Bereichen Ökonomie, Politik und Kultur. Zum zweiten gibt es Prozesse der Verdichtung und Prozesse der Auflösung. Und zum dritten schließlich sind die Spannungen zwischen objektiver und subjektiver Klassensituation einzubeziehen, die sich beständig verändern. Beinahe könnten wir uns einbilden, mit diesem dreidimensionalen Modell des Kleinbürgertums die unberechenbare Klasse eben doch mehr oder weniger berechenbar zu machen.“
Ein Buch, das alles will und vieles fasst, doch bleibt mir nach dem Lesen wenig im Gedächtnis. Die Feststellungen mögen stimmen, ich kann ihnen weder zustimmen noch sie in Frage stellen, sie erschlagen mich. Der eloquente Text mäandriert durch die 280 Seiten, doch: Wofür mag das Buch nützlich sein?
Das Dürfen wird zum Synonym von Freiheit, und entsprechend hysterisch werden die späteren Ausfälle gegenüber dem, was man nicht dürfen soll, zum Beispiel in einer Pandemie. Die Kultur des Dürfens, die sich gegen das archaische Wollen und das feudale Müssen stellt, entspricht der kleinbürgerlichen Verschiebung von Diskurs zu Dispositiv. Der Raum des Dürfens lässt sich im Übrigen leichter kommerzialisieren als der Raum des Müssens und der Raum des Wollens.
Inhalt und Leseprobe bei der Edition Tiamat im Verlag Klaus Bittermann
Steffen Mau: Sortiermaschinen.
Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert
Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie. Soziologen schreiben gern über spezielle Themen, auch, um sich von anderen Soziologen abzugrenzen. Und Professoren arbeiten sehr systematisch. Steffen Mau berichtet über die „Neuerfindung der Grenzen im 21. Jahrhundert“. Dieses Thema und diesen Fortschritt habe ich bisher gar nicht bewusst wahrgenommen, aber es lohnt den Blick, Eigentlich sollte der Grenze zu Zeiten der Globalisierung weniger Bedeutung zukommen, doch der Mauerbau ist en vogue, nicht nur dank Trumps „Build! The! Wall!“, sondern auch um Israel herum und, oft in Form des „Schutzdrahtes“, quer durch Europas Länder und um den Kontinent herum.
Es gibt, so meine These, parallel zur entgrenzenden Globalisierung kaum übersehbare Trends der Schließung, der Grenzselektivität und der Kontrolle. Reduziert man Globalisierung nicht auf Grenzüberschreitung, sondern versteht sie allgemeiner, wie auch schon in Anthony Giddens‘ früher Begriffsbestimmung angelegt, als grenzüberschreitende Wechselseitigkeit, oder noch genauer als Prozess des In-Beziehung-Setzens, dann rückt auch das Bordering in den Fokus. Die Intensivierung der globalen Konnektivität kommt jedenfalls nicht nur als Schwächung der Grenzen daher, sondern auch als Veränderung ihrer Operationsweise. Schließlich sind Grenzen Schnittstellen, die Austausche regulieren, so dass es schon eine grobe Einschränkung wäre, nur den Rückbau und die Öffnung von Grenzen als Globalisierungsindiz zu sehen, nicht aber auch den komplexen Transformations- und Anpassungsprozess der Grenze selbst. Ich verstehe Globalisierung als inhärent doppelbödigen Prozess, bei dem Öffnung und Schließung zugleich auftreten, weil dadurch Adjustierungen der Außenverhältnisse vorgenommen werden. Entgrenzung und Begrenzung sind in diesem Verständnis mit der Globalisierung verknüpft und ko-konstitutiv. In einer dialektischen Zuspitzung lässt sich die These aufstellen, dass Grenzöffnung und Grenzschließung sogar ursächlich miteinander verbunden sind, es also einen kausalen Nexus zwischen beiden gibt.
Wo Grenzen im Binnenraum abgebaut werden – Schengen -, wird der Raum umso stärker gegen außen gepanzert. Die Beispiele aktualisieren sich laufend. Mau systematisiert diese „Fortifizierung“ ausführlich, auch mit wissenschaftlichen Schleifen. Die „Filtergrenzen“ betonen die Ungleichheit bei der grenzüberschreitenden Mobilität, „Während ein kleiner Kreis Privilegierter heute nahezu überallhin reisen darf, bleibt die große Mehrheit der Weltbevölkerung weiterhin systematisch außen vor.“ (Klappentext)
Aktuell wird’s bei den „Smart Borders“, die noch in der Probephase sind, aber zunehmend die materiellen Barrieren ersetzen. „Die Versuche Trumps, die Demokraten als Gefährder der nationalen Sicherheit dazustellen, denen der Schutz der eigenen Bevölkerung vor unkontrolliertem Zustrom von Migrantinnen und Migranten nicht am Herzen liege, wurden von diesen entsprechend gekontert: Mauern seien Bauwerke des Mittelalters, die zur Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts keinen Beitrag mehr leisten könnten. Stattdessen favorisierten sie «Smart Borders» — auf Deutsch «intelligente Grenzen» —, die eine effektive Herstellung von Sicherheit ermöglichen sollen.“
Dabei geht es um ein ganzes Arsenal von sich auffächernden technologischen Möglichkeiten, etwa um die Nutzung von Datenbanken, algorithmische Risikoanalysen, biometrische Identifikation, automatisierte Kontrolle, sensorische Erfassung, Tracking- und Tracingverfahren, Video- und Audioüberwachung, Wärmebilder etc. Smart Borders folgen der Logik nicht-physischer Grenzziehungen und setzen sowohl auf Überwachungspermanenz, indem die Geschehnisse an Grenzübergängen oder in Grenzzonen dauerhaft beobachtbar und von menschlichem Personaleinsatz unabhängig gemacht werden, als auch auf zielgenaue Identifikation und Adressierung von Personen, indem Körpermerkmale erfasst und auf digitale Informationspools bezogen werden, die dann bei der Grenzkontrolle wirksam werden. Ein wesentliches Ziel besteht darin, mobile Personen mittels neuer Technologien und Datenbanksysteme möglichst effizient zu identifizieren, sicherheitstechnisch zu überprüfen und zu filtern.
Diese Sortier-Funktion der Grenzen gab es schon immer, doch verändern sich die Mittel und Möglichkeiten der Kontrolle, bis hin zur Immaterialisierung der Tools, die für die Person, die die Grenze „überschreitet“, nicht mehr feststellbar ist. Das Buch analysiert scharf, leuchtet alle Aspekte aus, trotz fachspezifischer Terminologie liest man sich rasch ein. „Steffen Mau liest diese Prozesse als komplexes Ineinandergreifen von politischer Ausrichtung, an Grenzen manifestiere sich das Zusammenfallen von Territorialraum und Mitgliedsraum, das staatliche Monopol der Mobilitätskontrolle. Mehr noch, an der Grenze wird auch kognitiv die Trennlinie zwischen „eigen“ und einem vereinheitlichenden „fremd“ gezogen – der Streit um das Begriffspaar wird mit Blick auf kulturelle Zugehörigkeit auch überstaatlicher Gebilde wie der EU ausgefochten, soll den Zugang steuern.“ (Lennart Laberenz, taz)
Videos zu „Sortiermaschinen“ – youtube-Übersicht
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Jan Feddersen,
Philipp Gessler:
Kampf der Identitäten.
Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale

30 Seiten Glossar – alle Begriffe zur Identitätspolitik. Diese 175 Erklärungen braucht man schon, will man sich in den „Abgründen“ und „Sackgassen“ des sich aufstauenden Diskurses nicht verlieren.
Bevor die beiden Autoren ihren Trip durch Orte der Identitätspolitik starten, stellen sie sich in „Selbstpositionierungen“ vor. Das soll auf ihre Sichtweisen einstimmen, diese aber auch absichern, denn die Propagandisten der Identität folgen oft einem „Reinheitswahn“ und sind ohne Humor. Vergeschlechtlichen ist Standard, LGTTQIAAP* als „Abkürzungskombination für viele Minderheiten“ ist Forderung an alle „woken“ Geister. („Nach aktueller Lage der Dinge sind inzwischen 76 sexuelle Identitätsformen bekannt.“)
Die Autoren stehen einer rigorosen Identitätspolitik skeptisch gegenüber. Das künden sie bereits im Untertitel an: „Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale“. Für das Buch haben sie mit „Expert*innen“ gesprochen, die ein linkes oder liberales Spektrum repräsentieren. Als solche gelten u.a. Daniel Kehlmann, Harald Welzer, Ijoma Mangold, Paula-Irene Villa Braslavsky, Ronya Othmann. „Dass etliche Kolleg*innen der taz zu Wort kommen, liegt nicht nur an unserer Nähe zu dieser Zeitung selbst, dies gewiss auch, sondern vor allem nehmen wir die taz ernst als seismographisch zuverlässigstes Medium für die Debatten in der kulturell nach wie vor tonangebenden Linken. Last but not least konnten wir auch der Geschlechterforscherin und »Polittunte« Patsy l’Amour laLove und der Feministin Alice Schwarzer unsere Fragen zum Thema stellen.“
Die USA gelten als Ausgangspunkt der identitätspolitischen Strömungen und dort vor allem die Hochschulen. (s.a. Caroline Fourest: Generation beleidigt) Auf fast 20 Seiten bringen Feddersen und Gessler Beispiele für Entwicklungen, die bis hin zu Sprech- und Lehrverboten für Dozent*innen führen. („In einem Kurs über Shakespeares )Richard III.< stand eine Studentin auf und sagte, sie fühle sich wegen der Brutalität des Königs in diesem Kurs nicht mehr sicher.“) Die Studenten leiten ihre Diskurshoheit auch daraus ab, dass sie mit ihren hohen Studiengebühren die Unis (mit)finanzieren. Aber auch in Deutschland nehmen die Dispute in der Kulturszene und in den Medien zu. (s.a. Mithu Sanyal: Identitti)
Feddersen und Gessler arbeiten sich durch zentrale Themen der Suche nach „Identität“ und deren Behauptung im gesellschaftlichen Leben. Kulturelle Aneignung, cancel culture, Intersektionalität. vieles ist für Interessierte wohl bekannt, Die Autoren gehen die Realität der sich immer stärker differenzierenden Gruppen mit der nötigen Skepsis an, versichern sich ihrer Gegen-Meinung und betrachten auch „Blinde Flecken“: Antisemitismus, die „Klassenfrage“ und „Heimat als Albtraum“.
Nachhilfe bekamen sie vor einigen Jahren von aktuellen Stars des intersektionalen Aufbruchs erteilt. In dem Buch Eure Heimat ist unser Albtraum zeichneten sie ein Panorama Deutschlands, das nicht einmal im Hinblick auf in der Tat zu verhandelnde Klassenfragen stimmig war: ein Fegefeuer, das keine Erlösung verspricht. Die Autor*innen, unter anderem Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa und Margarete Stokowski, zählen längst zur Elite dieser Gesellschaft, zu den Stichwortgeber*innen der Zeit. Ihre Texte genießen den Ruf von Dringlichkeit und Relevanz. Aber warum ein Land, das ihnen den Aufstieg auf mediale Gipfel doch durch Bildungschancen und Diversitätstoleranzen ermöglicht hat, keine Heimat, vielmehr für sie ein Albtraum sein soll – das wurde leider außerhalb ihrer Bubble nie zur Klarheit gebracht.
Wir hoffen auch, nachgewiesen zu haben, dass es der Identitätspolitik an sogenannter Ambiguitätstoleranz und an Humor fehlt, es ihr an der Fähigkeit mangelt, Zwiespältiges auch einfach mal auszuhalten und sowieso an beherzter Zuversicht. Den »antimuslimischen Rassismus« halten wir für eine schiefe Konstruktion, eine falsche Wortkonstruktion, die identitätspolitisch motivierte postkoloniale Relativierung des Holocaust für gefährlich und die öffentliche lancierte Diskussion überTrans*menschen für völlig aus dem Ruder gelaufen. Wir glauben, dass die Identitätspolitik die Klassenfrage sträflich vernachlässigt, ja, absichtsvoll übersieht, dass sie zum großen Teil einem Religionsersatz gleicht und dass sie die Chancen eines schwarz-rot-goldenen Verfassungspatriotismus unterschätzt.
Ihrer Bilanz fügen Feddersen und Gessler 18 Thesen an, in denen sie erklären, „was wir selbst wollen, wofür wir stehen“.
1. Wir sind gegen Stammesdenken – und für Universalismus Wir glauben, dass die Identitätspolitik am Ende einer Tribalisierung oder einem Stammesdenken Vorschub leistet, ungewollt vielleicht, aber fast unentrinnbar, lässt man sich auf ihre Maximen ein. Ein Mensch ist ein multipel-identitäres Wesen – nie nur eines mit einer Staatsangehörigkeit, einer Hautfarbe, einer religiösen Weltanschauung, einer sexuellen Identität oder einer Klassenprägung.
3. Die Linke sollte sich nicht neoliberal spalten lassen Die Identitätspolitik ist groß geworden in der Ära des neoliberalen Kapitalismus, in dem Universalismus vor allem als Universalismus der globalen Geldströme verstanden wurde und gesellschaftliche Probleme, in welchem Land auch immer, dieser Ideologie zufolge zuerst durch eine Veränderung des*der Einzelnen angegangen werden sollten. Auf diese Logik aber sollten wir uns nicht einlassen. (…) Die Linke darf sich nicht durch dieses Konstrukt neoliberal spalten lassen.
Ein guter Überblick, engagiert, aber nicht einseitig, in der Kritik differenziert und nicht plump wie Nuhr, Flaßpöhler & Co.
Jan Feddersen & Philipp Gessler: Kampf der Identitäten – taz Talk meets Buchmesse Frankfurt (Oktober 2021 – 1:10)
Bernd Greiner:
Made in Washington
Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben

Man liest viel von den unzivilen Russen oder den autoritären Chinesen am Ende des Jahres 2021. Unsere neue Regierung will sich stärker dagegen stemmen und kündigt eine Außenpolitik nicht orientiert an (wirtschaftlichen) Interessen, sondern „wertebasiert“ an: „Werte sollen eine größere Rolle spielen.“
Im Klappentext zu Bernd Greiners Buch „Made in Washington“ heißt es kurz und deutlich:
„Wer Menschenrechte, Freiheit und Demokratie auf Washingtons Art verteidigt, beschädigt diese Werte im Kern.“ Stimmt die politische Geographie nicht (mehr)? Hat man West und Ost verwechselt, ist der „Westen“, sind die USA nicht der Hort und die Schutzmacht der freiheitlichen Wertegemeinschaft? Ist die „Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika“ nicht nur Grundsatz der „Friede Springer Stiftung“, sondern auch der deutschen Außenpolitik?
Bernd Greiner beschreibt und belegt ausführlich, „Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben“. 1945 die Atombomben auf Japan, völkerrechtswidrige Angriffe auf Jugoslawien, Krieg gegen den Irak mit billig vorgeschobenen Gründen, Beteiligung an Putschen in Lateinamerika. Abu Ghraib: Nackte Männer, übereinander gestapelt vor grinsenden Wärtern, ein Gefangener, Kapuze über dem Kopf und in einen schwarzen Umhang gehüllt, der mit ausgebreiteten Armen und an Händen und Füßen verdrahtet auf einem Schemel steht — jede Bewegung könnte Stromschläge auslösen, hatte man ihm gesagt. „Ob mit der Folter Informationen gewonnen wurden oder nicht, spielte letzten Endes keine Rolle. In den Worten des Journalisten William Pfaff: «Die Administration Bush foltert Gefangene nicht, weil es einen Nutzen hätte, sondern wegen der Symbolkraft.»“
Vietnam, Laos. „Das kleine «Land der Millionen Elefanten» war bitterarm, in den Weltwirtschaftsstatistiken der 1950er und 1960er Jahre landete es weit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Seine Bewohner, verteilt auf eine Vielzahl von Stämmen und ethnischen Gruppen, lebten von der Hand in den Mund und oft an der Grenze zur nächsten Hungersnot. (…) Von Mai 1964 bis April 1973 warfen amerikanische Flieger ungefähr 2,1 Millionen Tonnen Bomben über Laos ab, dieselbe Menge, die man während des Zweiten Weltkrieges gegen sämtliche Zielgebiete in Europa und Asien eingesetzt hatte. (…) Das Gebiet wurde systematisch umgepflügt, Dorf für Dorf, Haus für Haus, so lange, bis buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen stand und das soziale Leben vollständig zum Erliegen gekommen war. Die Menschen zogen sich in die Wälder zurück, sie gruben Höhlen in Berge und Erdlöcher in das flache Land, wo sie oft monatelang hausten, tagein, tagaus geplagt von Ratten und allem erdenklichen Ungeziefer und hüfthoch verschlammt nach Regengüssen. Es war kein Vergleich zu all dem, was sie außerhalb ihrer notdürftigen Verstecke erwartete — Streu- und Splitterbomben, die nach der Explosion wie aus einer Schrotflinte hunderte Geschosse abfeuerten, deren Widerhaken sich tief in Muskeln und Gewebe bohrten, die riesige Wunden rissen und oft nicht mehr zu entfernen waren.“ Afghanistan. „Wie so oft, war nur eines von Belang: die «show of force», eine Demonstration politischen Willens und militärischer Schlagkraft, alles um des kurzfristigen Vorteils Willen und ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen.“
Keine andere Nation ist seit 1945 derart rabiat aufgetreten. Die Vereinigten Staaten haben mit Abstand die meisten Kriege geführt, wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füßen getreten, sie geben heute noch das meiste Geld für Rüstung aus und unterhalten weltweit mehr Militärstützpunkte als alle anderen Staaten zusammen, sie sind einsamer Spitzenreiter beim Sturz missliebiger, auch demokratisch gewählter Regierungen.
«Us against them», entweder Ihr seid für uns oder gegen uns — ein Satz von George W. Bush, der allen Kapiteln amerikanischer Ordnungspolitik gut zu Gesicht steht.‘ Denn tatsächlich agiert Washington, als bräuchten die Vereinigten Staaten ständig irgendwelche Feinde und als wüssten sie ohne Feindstellung nicht, wer sie sind und wo ihr Platz in der Welt ist. Die Dramatisierung von Gefahren und das Herbeireden von Ausnahmezuständen gehört zu den Bindemitteln dieser Art Außenpolitik.
Stichwort NATO: So hält man Bündnisse auch über die Zeit ihres Verfallsdatums zusammen, so lässt sich militärische Vormacht nutzen, um politische Gefolgschaft, wenn nicht Vormundschaft einzuklagen. Insofern lag es nahe, den ewigen Feindverdacht über das Ende des Kalten Krieges hinaus zu konservieren. Wenn aber Feinde immerzu zur Stiftung von Identität benötigt werden, bleibt der bekannte Kreislauf sich selbst erfüllender Prophezeiungen auch künftig in Schwung.
Aktuell: Der Konflikt mit Russland bezüglich der Ukraine ist so virulent wie das Ringen mit China um die globale Vorherrschaft. Guantanamo ist immer noch nicht geschlossen. Barack Obamas Drohnenkrieg im Nahen Osten „hat viel mehr zivile Opfer gefordert als bisher bekannt“ (FAZ, 21.12.21).
Greiner bewertet die US-Weltpolitik als „engstirnige(n) Nationalismus, eine ins Metaphysische aufgeblähte Vorstellung vom eigenen Auserwähltsein. Diplomaten sprechen von einer «Politik der freien Hand». Gemeint ist eine Vergötzung des Eigeninteresses und der damit verknüpften Anspruchshaltung: Die USA dürfen sich bei der Durchsetzung ihrer Interessen alle Freiheiten nehmen und sind frei von der Verantwortung für die Folgen ihres Handelns. In diesem Sinne kann man Rücksichtslosigkeit oder die Gewinnmaximierung auf Kosten Dritter als Signatur amerikanischer Weltpolitik bezeichnen.“
Damit das Bild nicht so niederschmetternd wirkt, fügt Greiner in einem Nachwort „Gedanken zu einer Unabhängigkeitserklärung“ an. Er geht zurück auf Willy Brandts Begriff der „Gemeinsamen Sicherheit“. „Ihr Ziel: Eine Politik, die im Frieden fortwährend Krieg spielt, zu ersetzen durch einen Prozess, an dessen Ende die Kriegsgefahr so weit wie möglich eingedämmt ist. «Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio», wie es Willy Brandt bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises im Dezember 1971 formulierte» Ein Satz, der die Lebenslüge einer Generation von Sicherheitsideologen zum Einsturz brachte — die Überzeugung, dass Massenvernichtungswaffen irgendeinen anderen Zweck erfüllen könnten, als massenhaft zu vernichten.“
Der frühere US-Präsident Jimmy Carter im Frühjahr 2019 vor der Baptistengemeinde seiner Heimatstadt Plains in Georgia: «Die USA sind die kriegerischste Nation in der Geschichte der Welt, [weil wir andere Länder dazu zwingen wollen], unsere amerikanischen Prinzipien zu übernehmen.» Seit 250 Jahren gibt es buchstäblich kein Jahrzehnt, in dem die USA nicht Krieg geführt, Truppen in fremde Länder entsandt oder ihnen missliebige Regierungen gestürzt hätten. Warum? Weil Solidarität, verstanden als Teilen von Macht und Reichtum, einem in Washington geheiligten Verständnis von Freiheit zuwiderläuft.
Ängste, Empfindungen, Passionen können Antriebskräfte sein oder diese verstärken. Was Greiner andeutet, aber nicht in den Mittelpunkt seiner Darstellung setzt: Die wirtschaftlichen Interessen, z.B. des sog. militärisch-industriellen Komplexes oder, allgemeiner gesagt, das Primat des Marktes.
Der frühere US-Präsident Nixon zum Krieg in Vietnam: «Wir werden Nordvietnam die Seele aus dem Leib bomben. […] Ist mir scheißegal. […] Einmal wenigstens werden wir die maximale Kraft dieses Landes einsetzen müssen […] gegen dieses verschissene kleine Land. […] Wir werden nicht mit einem Wimmern da rausgehen. Wir werden ihnen verdammt noch mal alles um die Ohren hauen. […] Lasst dieses Land in Flammen aufgehen. […] Einfach die verdammte Scheiße aus dem Land rausbomben. Man muss diese Bastarde einfach — einfach pulverisieren.»
Leseprobe beim C.H. Beck Verlag
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