Nachrichten vom Höllenhund


Salzmann
27. März 2022, 16:38
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

Sasha Marianna Salzmann:
Im Menschen muss alles herrlich sein

»Die Leute schlossen die Augen,
um sich in eine Vergangenheit zurück-
zudenken und darüber so lange
Unwahrheiten zu erzählen, bis sie
stimmten. Immer und immer wieder.
Alle hatten sich auf eine Welt geeinigt,
die draußen nicht mehr stattfand,
und hoben darauf die Gläser.«

Ein schönes Zitat. Im Roman von Sasha Marianna Salzmann findet man es abgedruckt auf der Rückseite des Umschlags. Es ist aber eine Beobachtung, die immer passt, nicht nur in „Umbruchzeiten“, nicht nur, „wenn politische Systeme zerfallen“. In die „Vergangenheit“ geht es immer nur zurück und wenn man sie so sehen will, wie man meint, dass sie war, schließt man die Augen, denn das Denken ist nie „wahr“, die Vergangenheit gibt es nicht, es ist immer eine. Oft in eine Zeit, als man jung war und die Wege offen schienen.
Das Zitat grenzt sich ab, will die Kontrolle und Unabhängigkeit bewahren gegenüber den ‚Autofiktionen‘. „Die Leute“, das sind die anderen, und zwar „alle“. Im Roman ist es Edita, die nichts mit solchen „Unwahrheiten“ zu tun haben will, nichts mit einer Heimat oder Herkunft, die man sich schön säuft, nichts mit diesen Vorfahren. Edita nennt sich „Edi“, sie sucht ihre Identität in der Distanz, in bunten Haaren, im Joint. Edi-ta ist die Tochter von Lena.
Von dieser Lena erzählt Sasha Marianna Salzmann zunächst „detailsatt“ (Wolfgang Schneider, Tagesspiegel). Das Leben in den Siebzigern, den Achtzigern und den Neunziger Jahren, letztere als Zeitalter des „Fleischwolfs“ betitelt. Sie durchläuft die üblichen Stationen für ein Kind in der Sowjetunion, deren Teil damals die Ukraine noch war.

„Auf allen Fotos der Einschulungszeremonie   schaute Lena grimmig. Hunderte von Schülerinnen standen auf der Treppe der Schule in Reihen und hielten sich aneinander fest, sie lächelten ihren Eltern zu, ohne die Hand des Nachbarkindes loszulassen und zu winken. (…) Lena fühlte sich taub vor Scham und beschloss, in den kommenden zehn Jahren, die sie auf diese Schule gehen würde, nie wieder den Mund aufzumachen. Nie wieder. (…)
Obwohl Lena in der Schule oft genug »Wir sind aktive Dinger / Denn wir sind Oktoberkinder / Oktoberkind, vergiss nicht — / Bald bist du Pionier!« mit den anderen aus der Klasse anstimmen musste, war für sie Pionier eigentlich nur der Name   des Fotoapparats, den ihre Eltern zu Hause oben auf dem Schrank aufbewahrten und den sie bis jetzt nur zu ihrer Einschulung herausgeholt hatten. Sie verstand die Tragweite des Übergangs vom   Oktoberkind   zum Pionier erst, als ihre Mutter zu Beginn der dritten Klasse verkündete, dass sie ab dem nächsten Sommer   in ein Lager fahren werde, wo sie in der Natur herumtoben könne und gleichzeitig lernen werde, Teil einer Gemeinschaft zu sein, eines Kollektivs.“

Der Pfad zum Eingang des Pionierlagers ist die „Allee der Helden“. Die Prüfungen besteht Lena schließlich auf die obligatorische Art. „Ein Mädchen aus Sotschi fährt nach Moskau, in die Hauptstadt, und will eine große Wissenschaftlerin werden, wichtige medizinische Entdeckungen machen. Das wollte ich tatsächlich, glaube ich. Die Professoren müssen sich totgelacht haben über mich, als ich komplett ohne Bares zur Prüfung angetreten bin, einfach so.“ Sie wird nicht für ihr bevorzugtes Fach Neurologie zugelassen, landet in der Dermatologie, wo aber eh mehr Geld zu verdienen ist – dank älterer Männer mit verschwiegenen Leiden. Auch die Familienplanung ist von Formalien bestimmt, welche aber maßgeblich von der Familie auferlegt werden. Ein Tschetschene erweist sich als patent, ist aber nicht für die Heirat zu haben, es springt Daniel ein, aus jüdischer Familie, er drängt zur Ausreise. In Deutschland ist die Ärztin Lena Krankenschwester. Die Vergangenheit ist eingelegt, die Zukunft? Ungewiss.

Sasha Marianna Salzmann wendet den Blick auf Edi.

Ich war damals jung, kräftig, dünn und ohne bestimmtes Geschlecht — lauter Vorteile beim Pilgern. So zog ich los … Das waren nicht ihre Gedanken. Aber wessen dann?  Der Name der Autorin war ihr im Halbschlaf weggerutscht. Und wohin würde sie pilgern, wenn sie könnte? Allein würde sie das ohnehin nicht wollen, selbst die Frau aus dem Buch, deren Zeilen sie beim Aufwachen wie einen Ohrwurm im Kopf hatte, war mit einem Typen losgezogen, auch wenn sie ihn kaum kannte und ihm erst mal einen neuen Namen gab. Edi schaute aufs Handy, das neben ihr auf dem Kissen lag, sprang auf und lief zum Schrank.   »Du hast doch ein Date.« Leeza schnipste den Stummel weg und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, als wäre sie jetzt zu irgendetwas Waghalsigem bereit.
  »Merkt man mir das an?« Edi überkam die Angst, dass ihre Stirn glühte, das tat sie meistens, wenn sie aufgeregt war, sie zog das Xanax-Cap tiefer ins Gesicht.
   »Immer wenn du so aussiehst, als wüsstest du nicht, wie man   Kleidungsstücke kombiniert, weiß ich, da drin wartet jemand auf dich.« Der weiche Flaum auf Leezas Oberlippe kitzelte Edis Wange, als sie ihr einen Kuss gab, dieses Mal näher am Mundwinkel.  »Viel Vergnügen!«

Edi hat keine Vergangenheit. Sie weiß nicht mal sicher, wer ihr Vater ist. Edis Zukunft ist die Gegenwart, die Suche nach einem Ich, die Selbst-Findung. Sie hat nicht die Welt der Vorfahren, eine Welt [], „die draußen nicht mehr stattfand“. Es gibt nicht den Zusammenhalt der Familie, keine Großmutter, in die man sich wickeln könnte, im Angebot sind vereinzelnde Drogen, bunte Haare als Alleinstellungsmerkmal, das alle haben, die „Xarax-Cap“, die ungezwungene Partnersuche, wenn man die Augen nicht schließen will, sieht man zu viel. Was davon ist die Wahrheit? Immer wieder aufspringen und weglaufen.

Die für sie zuständige Kollegin hatte es noch drastischer formuliert, als sie ihr den Text zurückgegeben hatte. Edi solle sich nicht einbilden, dass die Welt um sie herum verschwinde, wenn sie die Augen schließe — sie wäre dann noch da. Sie drehe sich wunderbar auch ohne Edi und all die anderen, die glaubten, ihre Recherchefaulheit damit kaschieren zu können, dass sie behaupteten, Konstruktivisten zu sein, weil sie den Begriff schon mal gegoogelt hatten. Das hier sei schließlich kein Lifestyle-Magazin und auch kein Blog, für den sie ab und zu was tippe. »Im Politikressort gibt es kein Ich! Hier passieren wirkliche Dinge, und wir berichten darüber. Man bildet euch aus, gibt euch eine Chance, und dann hört man am Ende trotzdem nur ich, ich, ich, ich, ich! Ich kann es nicht mehr hören, diese Ich-Sucht!« Da war Edi schon auf den Gang hinausgestolpert.

Sasha Marianna Salzmann führt eine weitere Person ein: Tatjana, eine Freundin von Lena, und mit ihr geht der Weg nach 250 Seiten wieder zurück in die Ukraine. Erneut schlingert eine Frau in der Ukraine um die Steine, die im Weg liegen. Im Restaurant, wo Tatjana bedient, bricht eine Schlägerei aus, Tatjana flieht nach Kriwoi Rog und arbeitet in einem Spirituosen-Kiosk, bis dort Michael auftaucht, der sie mit nach Deutschland nimmt, dann aber verschwindet. Edi trifft Tatjana wieder auf der Fahrt nach Jena zu Lenas fünfzigstem Geburtstag. Gelegenheit, sich über ihr Leben und ihre Abgründe zu erzählen. Für die älteren Frauen liegen diese Abstürze im Ver- und Zerfall der Sowjetunion, von dem sie sich auch in Deutschland nicht erholen können.Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch.“ Edi und Tatjanas Tochter Nina haben wenig gemein außer ihrer Herkunft, beide aber stemmen sich gegen eine „unwahre“ Vergangenheit. Nina „hat mir ausrichten lassen, dass sie von uns allen nichts wissen will.“

Vier Frauen, die unterschiedlichen Anteil am Erleben, am Geschehen, an den Lebensräumen, am Roman haben. Lena ist die Zentralperson des ersten Teils, Tatjanas Beziehung zu Lena wird nicht erzählerisch motiviert. Edi ist in ihrer Rolle als Tochter beschrieben, aus der sie fliehen will, sie kriegt – ebenso wie Nina – eine „Ich“-Stimme, während sonst die Handlung in der dritten Person erzählt wird. Nina und Edi sollten ein Gegengewicht zur überlebten Vergangenheit und zu deren abgestorbenem Staat sein, eine teils aggressive, teils fast autistische Kontroll- und Kommentarinstanz. Die Aussagen sind scharf: „Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch. Sonst kann man wenig mit Sicherheit sagen. Ich habe mir Filme, selbstgedrehte Videos, alles, was ich kriegen konnte, angeschaut, um zu begreifen, was ihnen alles passiert sein könnte und in welches Paralleluniversum die Zentrifugalkraft der Geschichte sie hinausgeschleudert hat.“ Die Romananteile der Jungen sind aber zu gering. Sasha Marianna Salzmann plant, alle vier Frauen zu Lenas 50. Geburtstag in Jena zu versammeln, doch das Treffen misslingt. Auch das eine Botschaft des Romans, vielleicht die Botschaft. Die „Herrlichkeit“ als Utopie zerstiebt angesichts des Elends – nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der prekären Gegenwart in Deutschland. „Berlin war ein Schild“, so heißt es einmal, „das besagte: ‚Alle Richtungen‘. Es ging überallhin. Eine Startlandebahn für alle, die noch tanken mussten.“

„Im Menschen muss alles herrlich sein“ hat in seiner Komposition einige Tücken. Interessant ist die Erzählung von Lenas Hineinwachsen in die sowjetische Gesellschaft und raffiniert sind die vielen Detailbeobachtungen und Sprachbilder aus dem anstrengenden und noch ausweglosen Denken der jungen Frauen. Darin steckt wohl eine gehörige Portion von Sasha Marianna Salzmann.

2021 – 380 Seiten

2

Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich (die aber bei diesem Roman wenig wegweisend ist)

Gespräch im Literaturclub des SRF – 0:15

Sasha Marianna Salzmann: Darkroom des Erzählens – Literaturforum im Brecht-Haus – 1:05

Homepage von Sasha Marinna Salzmann



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