Kent Haruf:
Ein Sohn der Stadt

Dann, etwa Mitte Februar, schlug dieses persönliche Gefühl von Schock und Angst plötzlich in Feindseligkeit und offene Empörung um.
Kent Haruf arbeitet gerne mit solchen Voraussagen. Das zeigt, dass er als Autor den Überblick hat und dass man ihm vertrauen und weiterlesen kann, wenn er Spannung verspricht. Für den Roman delegiert Kent Haruf seine Erzähler-Autorität an den Zeitungsmann der Stadt, Pat Arbuckle, den er als Beobachter und als Akteur ins Geschehen steckt. Eigentlich geschieht ja nicht viel in Holt/Colorado. „Ein Sohn der Stadt“, Jack Burdette, ist plötzlich verschwunden und kehrt nach acht Jahren ebenso unvermutet wieder zurück. Er schien verloren – später stellt sich heraus, dass er in Kalifornien war, aber das liegt außerhalb des Holter Horizonts – und das hat die Stadtgesellschaft – zumindest einen Teil davon – ganz schön ins Vibrieren gebracht.
Jack Burdette war kein großes Licht in der kleinen Stadt. Aber er war groß und eignete sich als Highschool-Football-Star, was in den USA zu sowas wie Ruhm verhilft. Wegen dieser ‚Qualifikation‘ darf Jack Burdette zum ‚Studieren‘, was ihn wenig interessiert und was er auch bald beendet, da er im Footballteam jetzt nur einer von vielen besseren ist. Er geht zurück nach Holt.
Ich rutschte ein Stück weiter am Tresen und bestellte noch ein Bier. Wanda Jo Evans saß ganz allein an einem Tisch. Sie winkte mir, und ich ging rüber und setzte mich auf einen Stuhl neben sie. Jack Burdette stand am Billardtisch und unterhielt sich mit einer Gruppe von Männern. Schwer, kräftig, massiv, eine imposante Gestalt, stand er da und redete, gestikulierte mit einem vollen Schnapsglas in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand, sein Gesicht schwebte über denen der anderen, erhitzt und lebhaft, die Augen ein bisschen glasig. Alle Männer sahen ihn an, während er schwadronierte. (…)
So hätte es ewig weitergehen können. So war es schon seit mehr als zehn Jahren gegangen. Im Jahr 1970 dann wurde Doyle Francis fünfundsechzig und beschloss, in Rente zu gehen. Und Doyles Ausscheiden aus dem Arbeitsleben entpuppte sich als das Erste in einer Reihe von Ereignissen, die für Wanda Jo das Ende bedeuteten, obwohl das damals weder sie noch sonst jemand ahnte.
Dann wird Jack Burdette Manager der Farmer-Kooperative in Holt. „Dann war es 1971. Frühling.“ Und dann war Jack Burdette verschwunden und mit ihm viel Geld. Die Stadt vibriert – und richtet es sich wieder zurecht. Pat Arbuckle und Jack Burdettes Frau Jessie finden zueinander und so hätte es weitergehen können.
Die amerikanische Kleinstadt (des Mittleren Westens) ist eigentlich auserzählt. Auch in „Ein Sohn der Stadt“ ist der Plot nicht neu, ist die Geschichte routiniert und anschaulich geschrieben. Der Titel gibt sich wenig Mühe, auch der Originaltitel „Where You Once Belonged“ ist eher banal und auf dem Niveau des Schlagers. Kent Haruf hat sechs Romane geschrieben, die in Holt angesiedelt sind. Es geht um die Menschen, die fiesen und die mitmenschlichen, Politik oder Geschichte spielen nicht in die Stadthinein. Am bekanntesten ist wohl der letzte Holt-Roman: „Unsere Seelen bei Nacht“. Auch hier wird die Kleinstadt umgetrieben, doch verleiht die Altersfreundschaft zweier einsamer Menschen, Addie und Louis, dem Roman ungeahnte Wärme.
1990 – 280 Seiten
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