Peter Henisch:
Der Jahrhundertroman

Dort oben, an diesem Fenster, sagte er: Musil! … Robert Musil, in einem gestreiften Pyjama.
Da hat der alte Herr Roch den Jahrhundertroman geschrieben. D.h. es geht nicht ums ganze Jahrhundert, sondern um österreichische Poeten, die in den letzten hundert Jahren gewirkt haben. Da kommen schon einige zusammen. Um nicht alle zu nennen: Robert Musil, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Franz Kafka, Peter Handke, Heimito von Doderer, Christine Nöstlinger, Ernst Jandl, Egon Friedell, Karl Kraus, Ödön von Horváth, Lili Grün, Joseph Roth. Herr Roch hat aber nicht so sehr die Literatur interessiert, sondern das Leben der Dichter, und darüber hat er Anekdoten verfasst.
Da der Herr Roch nicht mehr gut sieht und seit einem Schlaganfall auch nicht mehr so beweglich ist, sucht er nach jemandem, der ihm das Manuskript abtippt. In seinem Stammcafé, dem Café Klee, entdeckt er die junge Studentin Lisa, die dort als Aushilfsbedienung arbeitet. In ihr erkennt er eine verwandte Seele – sie hat auch schon Gedichte verfasst – und bietet ihr 2 € pro Seite, wenn sie den Text in den Laptop tippt. Da Lisa zögert, weil sie die Cafébesitzerin Frau Resch vor dem alten Roch warnt:
Ist der Herr Roch ein Autor? fragte sie die Chefin.
Der? Ein Autor? – Hören Sie zu, Lisa: Dieser Herr ist vor allem ein Dampfplauderer!
Nun schloss ja das eine das andere vielleicht gar nicht aus. Und Dampfplauderer – das klang ja beinahe harmlos.
Doch die Frau Resch fügte diesem Urteil noch etwas hinzu:
Passen Sie auf, Lisa, lassen Sie sich von dem nicht einwickeln!
Und dann erhob sie ganz ungewohnt laut ihre Stimme: Das wollte ich Ihnen ohnehin schon längst sagen, Lisa, der Herr Roch ist ein Stammgast und es ist gut, wenn Sie angemessen freundlich zu ihm sind, aber es ist besser, wenn Sie dabei eine gewisse Distanz wahren!
Da sie aber das Geld reizt, besucht Lisa den Herrn Roch nach einiger Zeit in seinem ‚Depot’ im 8. Bezirk in der Florianigasse 4a.
Es dauerte eine Weile, bis Roch zur Tür kam. Seine Schritte hörten sich an, als käme er von weit her. Er blinzelte. Haben Sie es sich doch noch überlegt? Das freut mich. Kommen Sie weiter. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen? Und schon hatte er einen ihrer Ärmel ergriffen. Und dann den anderen. Eher eine Behinderung als eine Hilfe. Aber sie ließ es über sich ergehen. Roch hängte ihren Mantel an einen schon etwas invaliden Thonet-Kleiderständer. Dann stand er da und wusste ein paar Sekunden lang nicht weiter. Nehmen Sie Platz, sagte er schließlich. Vielleicht setzen Sie sich am besten in den Schaukelstuhl. Draußen regnet es. Sie sind ein bisschen nass geworden, nicht wahr? Warten Sie, ich werde uns ein Kännchen Tee machen.
Und war schon verschwunden im dunklen Hintergrund. Der Raum war erstaunlich tief und gleichzeitig hoch. Keine flache Decke, sondern ein Gewölbe. Als sie vor der Tür gestanden war, hatte sie diese Dimensionen nicht erwartet.
Und überall Bücher, Bücher und wieder Bücher … Bücher, die nicht nur in den Regalen standen, die an so gut wie jedem verfügbaren Stück Wand montiert waren, sondern auch in unglaublich hoch getürmten Stößen aus dem Boden wuchsen. Manche dieser Stöße sahen aus, als hätten sie schon längst umfallen müssen. Doch da und dort schien es, als hätte das eine oder andere Buch, das vielleicht gerade noch rechtzeitig hinzugefügt worden war, ein vages Gleichgewicht wiederhergestellt.
Die Dichter sind ja markiert durch eine gewisse Grundgrummeligkeit, manche geben sich auch miesepetrig, viele aber stzen gerne im Kaffeehaus auf eine Melange. Etwa im Bräunerhof, dem Brioni, dem Tirolerhof . Aber das„Hawelka kann er ohnehin nicht leiden … Dort stehen die Tische viel zu distanzlos beisammen … und dazwischen die bittersüßliche Luft … und gewiss sitzen da ein paar drittklassige Autorinnen oder Autoren mit ihren Anbeterinnen und Anbetern, Figürchen, deren Selbstbewusstsein an ihre zeitweilige Präsenz in diesem sogenannten Künstlercafé geknüpft ist.
Im Hawelka unterschlüpfen? Kommt nicht in Frage! ...“ für Thomas Bernhard.
Und ja, genau, die Ecke, an der dieser junge Mann steht, muss die von Lange Gasse und Josefsgasse sein. Wenn Roch die Augen schließt, sieht er diese Ecke vor sich. Und die andere Ecke, die mit der Trafik, ist wohl die von Lange Gasse und Zeltgasse. Der kleine Platz dazwischen ist noch nicht glatt asphaltiert wie heute, sondern gepflastert, in den Rillen zwischen den Pflastersteinen wächst da und dort Gras und Löwenzahn.
Und der junge Mann wird die Straße überqueren und die Tabaktrafik betreten. Und wird eine Packung Zigarren kaufen und die Trafikantin wird ihm zulächeln. Und er wird denken:
Ach Gott, diese dürre Gräte, die ist mir zu alt! Aber zurücklächeln wird er trotzdem, denn er ist ein charmanter Mensch.
Auf Wiedersehen, sagt die Trafikantin und sie betont das Wort Wiedersehen ganz besonders. Ja, ja, denkt Horváth, b’hüt dich Gott, schöne Gegend. Und geht mit großen Schritten an der Fleischerei neben der Trafik vorbei, obwohl da, in der offenen Tür, recht verführerische Würste hängen.
Und da sitzt einer im Zug. Sitzt im Zug und macht sich Notizen in ein kleines, schwarzes Buch. Ein Mann mit fahlen Haarbüscheln auf der Stirn, einem vergilbten Schnauzbart, der die Zahnlosigkeit (maximal drei Zähne) kaum mehr hinreichend kaschiert. Sieht sein Spiegelbild in der Fensterscheibe, draußen ist Nacht. Sitzt im Speisewagen und schreibt und trinkt.
Ist am Abend in Paris eingestiegen und wird am Morgen in Wien sein. Mit einem Zug, der durch die Schweiz fährt, nicht durch Deutschland. Längst ist er der letzte Gast im Speisewagen, ein Gast, der nichts isst, sondern nur trinkt und immer noch ein Glas mehr bestellt. (…)
Ach ja, natürlich, denkt Roch, das ist Joseph Roth. Seine Leber wird nicht mehr lang durchhalten und auch die anderen Organe sind schon recht mitgenommen. Er weiß das, er ist ein Mann, der sich über seine Lebenserwartung keine Illusionen macht. Aber die Mission, in der er nun unterwegs ist, will er noch erfüllen.
… saß auf einer Bank, murmelt er, saß auf einer Bank im Volksgarten … saß auf einer Bank im Volksgarten mit – ach ja: mit aufgestelltem Mantelkragen … Die Bäume kahl, die Rosenstöcke – was heißt das – verparkt? … Ach so: verpackt. Das heißt, bereits eingewintert.
Also: … saß auf einer Bank im Volksgarten mit aufgestelltem Mantelkragen. Die Bäume kahl, die Rosenstöcke verpackt. Saß und schaute … Ja klar: … und schaute aufs Burgtheater …
Also, das ist doch offensichtlich nicht Musil!
Nicht?
Nein, definitiv nicht, sagt Roch. Das ist nicht Musil, Lisa, das ist Thomas Bernhard! Thomas Bernhard, wie er zwei Stunden vor der Uraufführung seines Bühnenstücks Heldenplatz auf einer kalten Bank im Volksgarten sitzt und sich fragt, ob er Richtung Burgtheater weitergehen oder sich diese voraussichtlich schreckliche Uraufführung lieber ersparen soll. Zweifellos eine interessante Perspektive und sicherlich eine signifikante Passage – aber das werden Sie doch nicht für den Anfang des Romans gehalten haben!
Lisa hat die Blätter durcheinander gebracht, aber das macht nichts, auch Herr Rochs Fantasie wird angeregt, nochmals nachzusinnieren, zu versuchen, die Dichter zu sortieren. Und an Lisa zu denken. Vielleicht sind die vielen Dichter ja auch zum Vorwand geworden, dem alten Herrn Roch eine fantasierte Romanze zu gönnen. Oder Peter Henisch wollte seine mehr amüsanten als informativen oder gar unerhörten Geschichten über die Schriftsteller bloß nicht so schematisch erzählen wie Volker Weidemann, Uwe Wittstock oder Ralf Höller. Er hat ha nicht nur ein Jahr oder einen Monat im blick zu haben, sondern eben ein Jahrhundert.
Ja, und: Zu diesem Jahrhundert gehört nicht nur, dass die Schriftsteller durch die Welt oder von Kaffeehaus zu Kaffeehaus getrieben werden, dazu gehören auch die Flüchtlinge im 21. Jahrhundert. Lisa hat ein Flüchtlingsmädchen zur Freundin, Semira. Jetzt droht Semira die Abschiebung. Ob da nicht der alte Herr Roch in seinem Depot in der Florianigasse helfen könnte?
Ein Jahrhundertroman, ein Roman, dessen Autor den langen Blick hat, erzählfreudig verknüpft Peter Henisch das Alte mit der Jungen, packt auch noch die Kurve zu den Geschichten der neuesten Zeit. Ein sympathischer Roman, österreichisch in seinem milden Herabschauen auf die angesammelten Dichter. Nur Doderer ist eine Ausnahme, ein ungenießbarer Eigenbrötler, ein narzisstischer Nazi, der kriegt mehrPlatz.
Wer ich bin. Nämlich der Schriftsteller, auf den die Kulturnation Österreich gewartet hat. Der Autor, auf den man stolz sein, den man als Repräsentanten des neuen und alten Österreichertums herumreichen kann. Jetzt sind jene, die noch vor kurzem das Maul gegen mich aufgerissen haben, auf einmal kleinlaut. Auch wenn sie hinter meinem Rücken mauscheln, klar, darüber mach ich mir keine Illusionen. Ich hab nach wie vor Feinde, vielleicht jetzt erst recht. Aber viel Feind, viel Ehr – nächstes Jahr, wird gemunkelt, soll ich den Großen Österreichischen Staatspreis bekommen. Und übernächstes vielleicht sogar den Nobelpreis. Es gibt einflussreiche Leute, die sich dafür einsetzen wollen – darunter, wohlgemerkt, auch ein paar Jüdinnen und Juden.
Denkt Doderer. Und wenn er so denkt, richtet er sich gleich wieder ein wenig auf. So wie er dasteht, am Fenster, und in die Nacht hinausschaut. Brust heraus Bauch hinein, vielleicht schafft er sogar noch den Ansatz einer Erektion. Er ist Doderer, er ist stolz auf sich – auf die immerhin um dreizehn Jahre jüngere Frau an seiner Seite, auf Dorothea, ist er auch stolz.
2021 – 290 Seiten

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