Laurent Binet: Eroberung

63. DAS KARTOFFELZEITALTER
So erlebte der Fünfte Reichsteil eine Phase des Friedens und eines nie dagewesenen Wohlstands. Und wenn diese auch nicht andauerte, so kann man sich doch gut ihrer erinnern als eines glücklichen Augenblicks in der Geschichte der Neuen Welt. Wer weiß, wie lange diese Harmonie sich hätte ausdehnen lassen, wenn nicht außerordentliche Umstände eingetreten wären und ihr ein Ende gesetzt hätten.
Atahualpa kämpfte gegen seinen Halbbruder Huáscar um die Herrschaft des Inkareichs. Das war anfangs der 1500er-Jahre. Atahualpa gewann und wurde der letzte Herrscher, dann nahmen ihn die Spanier fest und töteten ihn.
Laurent Binet erzählt eine Variante der Geschichtsschreibung. Atahualpa flieht vor Huáscar auf Schiffen nach Osten, gerät in Lissabon an Land, schlägt sich und seine recht begrenzte Truppe nach Spanien durch und wirbelt das „orientalische“ Europa der Renaissance gehörig durcheinander. Nachdem seine Frau Higuenamota Nachschub an Menschen und Schiffen aus der alten Heimat beschafft hat, ziehen die Inkas eine Spur durch spanische Städte und treffen dabei auf das bekannte Personal der – für die Inkas – Neuen Welt.
Die Neuankömmlinge finden vieles seltsam: dass die Spanier nicht wie sie selbst nackt herumlaufen, dass die Christen angesichts ihrer religiös motivierten Gnadenlosigkeit einen „Angenagelten Gott“ verehren, dass Morisken und Juden als Rechtlose verfolgt, vertrieben und getötet werden. „Ein Brief von Margarete von Navarra berichtete, in Frankreich habe eine tobende Horde von Katholiken einem Lutheraner das Herz ausgerissen, und der Bericht von diesem Verbrechen, das die Königin selbst als «abscheuliche Metzelei» bezeichnete, kursierte im Alcázar und ließ die Inkas erschaudern. Solche furchtbaren Taten seien, so Margarete, die Folge von einem schwer nachvollziehbaren Glauben; die Anhänger der alten Religion im Orient wurden anlässlich der rituellen Handlungen in ihren Tempeln von ihrem Priester eingeladen, ein kleines weißes Gebäck zu essen und einen Schluck schwarzes Gebräu zu trinken, und glaubten durch ein Wunder der Einbildungskraft, das für die Quiterios schwer nachvollziehbar war.“
Die „Söhne der Sonne“ selbst sind für Toleranz, auch zwischen Glaubensrichtungen, sie sind aber süchtig nach Macht und Erfolg, nach „Eroberung“, auch von Frauen. „Ein von Michelangelo entworfener Sonnentempel wurde in die Kathedrale von Córdoba hineingebaut. Sevilla wurde von Tag zu Tag reicher, die Bevölkerung wuchs rapide und machte Sevilla zur größten Stadt der Neuen Welt. Die Juden kamen herbei und leisteten erstklassige Arbeit, was den Wohlstand im Land mehrte. (…) Der Handel nahm solche Ausmaße an, dass Atahualpa die Gründung einer besonderen Einrichtung befahl, die die Einheimischen Casa de contratación nannten und die die Handelsbeziehungen zwischen Tahuantinsuyo und dem Fünften Reichsteil verwaltete. Niemand in Spanien oder anderswo im Land der aufgehenden Sonne war berechtigt, mit den Ländern der untergehenden Sonne auf anderen Wegen als über Sevilla Handel zu treiben.“
Karl V. wird gefangen und als Geisel genommen. Die Fugger aus Augsburg legen ihr Geld ertragreich an. Atahualpa lässt in den Pyrenäen und in der Sierra Nevada Mais und Kartoffeln anbauen. Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam schreiben sich Briefe. Laurent Binet lässt nichts aus. Die Bauernkriege, der Konflikt um Luther, die Kurfürsten, die Inquisition. Später darf auch noch Miguel de Cervantes mitspielen und wird zwischen den Inkas und den Christenmenschen zerrieben. Das alles ist aus der Sicht der „Sonne der Neuen Welt“ beschrieben, spielt aber im Europa des 16. Jahrhunderts, oft genug in den deutschen Ländern. An der Schlosskirche zu Wittenberg finden sich eines Tages
DIE 95 SONNENTHESEN
1. Die Sonne ist nicht die Allegorie für Gott den Schöpfer.
2. Sie ist der erschaffende Gott und die Quelle allen Lebens.
3. Viracocha ist ihr Vater oder Sohn und zugleich Vater oder Sohn des Mondes.
4. Der Inka ist der Statthalter der Sonne auf Erden. (…)
57. Der Sonnengott ist auf der Seite der Armen.
58. Er hat die Erde hervorgebracht, damit alle ihr Salz schmecken.
59. Sonne und Erde fordern von niemandem eine Abgabe, sei sie groß oder klein.
60. Grund und Boden darf nicht gekauft, gemietet oder gegen Zins geliehen werden.
61. Grund und Boden dürfen kein Privateigentum sein. Sie werden jedem gemäß seinem Bedarf zugeteilt.
62. Alles Wasser gehört zur Erde und ist frei.
63. Aller Fisch gehört dem Fluss an.
64. Alles Wild gehört dem Wald an.
65. Die Wälder gehören der Erde an, und sie gehört der Sonne an.
66. Der Sonnengott kennt keine Leibeigenen. Er kennt nur Menschen.
Laurent Binet hat die Geschichte tiefgehend erforscht und er erzählt sie minutiös, wobei er den Stil der Geschichtsschreibung nachbildet. Natürlich ist es die Geschichte der Herrschaft, der Kulturen, des Handels und des Militärs, die hier auflebt. Die Idee, die Ereignisse zu drehen, Alte und Neue Welt zu tauschen, mit den Folgen und Kausalitäten zu spielen, ist zwar nicht ganz neu, aber doch originell. Zumindest im Ansatz. Aber Binet erzählt einerseits leidlich Bekanntes, flicht die Söhne – und einige Töchter – der Sonne ein und ermittelt aus der Konfrontation ein verändertes System, dessen fiktive Folgen wir bewerten können und deren Mechanismen der Neuordnung auf bekannten Mustern beruhen. Schlachten, Intrigen, Inszenierungen, Pomp, Rekrutierung. Das Vergnügen ist begrenzt. Ich ertappe mich dabei, zunehmend Abschnitte zu überfliegen oder zu überspringen. Für das abschließende Kapitel mit der barocken Überschrift (VON DER WILDEN, ERSCHRECKLICHEN SCHLACHT, DIE DIE VERGANGENEN, DAS GEGENWÄRTIGE UND DIE ZUKÜNFTIGEN JAHRHUNDERTE JEMALS GESEHEN HABEN UND SEHEN WERDEN, DIE ZUGLEICH DAS GRÖSSTE UNGLÜCK FÜR DEN ARMEN CERVANTES BEDEUTETE) endlich bleibt kaum mehr Interesse.
„Eroberung“ soll als Serie kommen, was wohl Erfolg verspricht. Vielleicht geht die Serie – anders als der Roman – über das 16. Jahrhundert hinaus und spielt uns vor, wie unsere heutige Welt aussähe, wäre aus Binets Imaginationen real geworden wären. So aber bleibt „Eroberung“ ein Roman über abgehobene Macht- und Interessenpolitik, trotz Inkas europazentriert, durchsetzt mit bekannten Namen, die aber nur ihre Geschichtsbuchrolle einnehmen. Personen als Spielfiguren ohne Kern. Großer Aufwand, hin und wieder aufblitzende Überraschung, verhaltene Ironie.
2019 – 380 Seiten

Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar