Nachrichten vom Höllenhund


Sorokin
20. April 2022, 18:55
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

Vladimir Sorokin:
Die rote Pyramide
(Erzählungen)

9 Erzählungen aus den Jahren 2017/18, dazu drei aus den 2010er-Jahren, sind hier versammelt. Erzählungen aus Russland, die Zeit der Sowjetunion ist immer noch gegenwärtig und das Er_Leben als solches ändert seine Muster nur schleppend.

Jura ließ den Blick durch die Umgebung schweifen. Und sah auf einmal, neben einem   Flachbau aus Silikatsteinen, ein verblichenes Transparent stehen:  Unser Ziel ist der Kommunismus!
   Unter der Schriftzeile ein Lenin-Kopf im Profil.
   »Jetzt sagen Sie bitte: Wer war Wladimir Iljitsch Lenin?«, fragte Jura laut und verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust.
   »Der Mann, der die Pyramide des roten Rauschens in Gang setzte.«
   Jura blieb der Mund offen stehen.
   »Wie bitte? Die Pyramide des roten was?«
   »Des roten Rauschens.«
   »Von der hab ich noch nie was gehört.«
   »Sie erzeugt das permanente rote Rauschen.«
   »Und wo steht die?«
   »Im Zentrum der Hauptstadt.«
   »Wo genau?«
   »Genau in der Mitte.«
   »Im Kreml?«
   »Nein. Auf dem Roten Platz.«
   »Mitten auf dem Platz?  Eine Pyramide?«
   »Ja.«
   »Und wo steht sie da, ganz konkret?«
   »Ihre Grundfläche nimmt   den gesamten Platz ein.«
   »Den ganzen Platz?! …«
   Jura lachte auf. Der dicke Mann blickte stoisch wie zuvor vor sich hin.
   »Na wissen Sie!«, meinte Jura. »Ich wohne zufällig ganz in der Nähe vom Roten Platz, in der Pjatnizkaja.  Eine rote Pyramide hab ich dort nie stehen sehen.«
   »Sie können sie nicht sehen.«
   »Aber Sie?«
     »Ja.«
     Alles klar, dachte Jura. Der Mann halluziniert.
     »Und was tut die Pyramide noch mal?«
     »Sie strahlt das rote Rauschen aus.«
     »So was wie … ein Lautsprecher?«
     »Etwas in der Art. Aber mit ganz anderen Wellen. Anderen   Schwingungen.«
     »Und wozu … strahlt sie die aus?«
     »Um die Menschen mit dem roten Rauschen zu infizieren.«
     »Wozu soll das gut sein?«
     »Um die innere Ordnung des Menschen   zu stören.«
     »Stören? Wozu?«
     »Damit der Mensch aufhört, Mensch zu sein.«
     Ein Staatsfeind, dachte Jura und schaute sich nach allen Seiten um. Aber der Bahnsteig war menschenleer wie zuvor.

(aus: Die rote Pyramide, 2018)

Solche durchaus direkten Aussagen sind aber selten in den Texten. Sorokin liebt flirrende Andeutungen, bettet sie ein in Grotesken, in karikaturhaft verzerrenden, auch stilistisch experimentierenden Erzählungen, die vom Leser Dekodierungen einfordern, ihn oft auch überfordern.  „Vladimir Sorokin macht in beunruhigenden Dystopien das gegenwärtige Putin-Russland kenntlich.“ Doch so einfach wie es Mirko Martin vorschreibt, ist es nicht. Was man ‚Russland‘ als ‚Seele‘ zuschreibt, ist das Absurde der Über-Lebensanstrengungen in einem Land, das immer noch in der Vor-Moderne festhängt. Da ist die Geschichte vom Besuch bei einem „Starzen“, dem „ehrwürdigen Greis“, der sich in einer Felshöhle zumauert und dort als „Lehrer und Berater fungiert“ (wikipedia). Von Kyrill I. ist nicht die Rede, der Putin als „Wunder Gottes“ bezeichnete.

»Vater Pankrati«, sprach Alex, sein Gesicht nahe an die Luke haltend, »was sollen wir tun?«
   In der Höhle stank es.
   »Schlafen!«, kam die Antwort des Starzen aus der Finsternis.
   »Wie … schlafen?«
   »Tief und fest.«
   »Wozu?«
   »Damit die Träume herauskönnen.«
   Alex atmete tief ein und wieder aus, er kämpfte um Fassung. Wollte den Starzen gerade fragen, was das heißen sollte, da kam der Alte ihm zuvor.
   »Geh jetzt. Schlaf!«
   Aus der Höhle drang ein Scharren, Ächzen, Murmeln.  Dann zog Stille ein. Mit dem Becher in der Hand stand Alex vor dem finsteren Loch und starrte hinein.  Es verging einige Zeit. Plötzlich wurde ein Stein in das Loch geschoben, der es vollständig verschloss. An den Fugen quoll etwas hellbraune Masse hervor. Einen Geruch konnte Alex nicht wahrnehmen.
   So stand er da, sein Blick prallte ab von der geschlossenen Mauer. Der blöde Ventilator summte und blies ihm in den Rücken. Alex klopfte mit dem Becher gegen den Stein.
   »Vater Pankrati.«
   Kein Ton von hinter der Wand.
   »Was soll denn das?«, stieß Alex ohnmächtig hervor und ließ die Hände sinken. Die Mauer mit all ihren Adern, Buckeln, Kanten und Rissen stand vor ihm wie zum Hohn. Er hätte sie bespucken mögen.
   »Rede!«, brüllte Alex wutentbrannt und hämmerte mit dem Becher gegen die Wand.
   Auf einmal war wieder ein Murmeln von drinnen zu vernehmen. Schwach und dumpf, aber nicht zu überhören. Alex presste das Ohr an den Stein. Doch es war nicht zu verstehen.  Etwas zwischen Gemurmel und Gesang. Nach kurzem Besinnen legte er den Becher an den Stein und das Ohr an den Becher – wie er es zuletzt als Jugendlicher getan hatte, als sich seine große Schwester im Zimmer nebenan ihrem Mitschüler hingab, einem dürren, schieläugigen Typen mit Fusselbart, von dem Alex gelernt hatte, Wodka zu trinken, und der Führt mich über den Maidan zur Gitarre sang.
  Der Becher half: Der Starze in seiner zugemauerten Höhle sang tatsächlich ein Lied. Es war eine simple Melodie, die jedes Kind kennt. Alex hielt sich das freie Ohr zu, um nicht das Surren des bescheuerten Ventilators zu hören, und strengte sich an. Jetzt verstand er:
  Dies war des Lebens letzter Akt:
  Wenig gegessen, viel gekackt.

Mehr Text   war nicht. Der Starze wiederholte die immer gleiche kurze Strophe. Und    irgendwann verstummte er ganz.

(aus: Lila Schwäne, 2017)

Nicht alle Geschichten Sorokins lassen sich entschlüsseln, auf politische oder gesellschaftliche Verhältnisse beziehen. Manche Geschichten erscheinen schlicht exzentrisch, krude, in hrer oft auch stilistischen Exaltation effektheischerisch. Es wird vulgär, es geht um Ärsche.

Frau Frajerman lachte herzlich mit allen mit, aber dann legte sie mit versierter Geste die Wange in die auf den Tisch gestützte Hand und sprach in bedeutungsschwangerem   Ton:
   »Das mag alles richtig sein, meine lieben Bobrows. Aber eine Frage hätte ich noch, eine ganz kleine Frage.«
   Sie spitzte die prallen, geschminkten Lippen,verengte die ausdrucksvollen schwarzen   Augen zu  einem Spalt und   sprach leise: »Womit wische ich  mir  den Po?«
   Alles grölte, mit Ausnahme der Bobrows. Als der Lärm verebbt war, kam von ihr die Antwort.
   »Mit gar nichts.«
   »Mit gar nichts geht nicht, meine Liebe.«
   »Dann nehmen   Sie halt den Finger.«
   »Ja, warum nicht den Finger«, sagte Herr Bobrow und bekräftigte es mit einem Nicken seines kurz geschorenen Kopfes.
   Die Gäste blickten einander an und lächelten betreten. Frau Frajerman fixierte die Bobrows mit strengem Blick und schluckte. Dann sprach sie:
   »Meine lieben Bobrows, es kann ja sein, dass Sie das so machen, sich den Po mit dem Finger abwischen. Das ist Ihr volles Recht! Aber ich ziehe es wie alle zivilisierten Menschen vor, Papier zu verwenden. Denn nicht nur die Sauberkeit des Pos, auch die der Finger liegt mir am Herzen.«
   Frau Bobrowa kaute gemächlich an ihrem Salat.

(aus: Der Fingernagel, 2018)

Das Gastmahl entartet, als der Sohn der Bobrows der Frau Frajerman ins Gesicht sagt, sie habe „einen Scheißarsch“. „In ‚Der Fingernagel‘, einer derben, urkomischen Persiflage auf die Erzähltradition des russischen Realismus, endet das Abendessen in einem Desaster aus Gewalt und Fäkalhumor. (…) In allen neun Texten arbeitet Sorokin die große ideologische Leere in seiner Heimat heraus – und die verschiedenen Versuche, diese zu füllen: durch Brutalität, Sexualität, Großmannssucht, pervertierte Religiosität, Nostalgie (die pittoresken Schilderungen der Landarbeit in „Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge“!) – und durch die schillerndsten Träume.“ (Michael Schleicher, Frankfurter Rundschau)

190 Seiten


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