Natalia Ginzburg:
Die Stimmen des Abends
»Wie du ruhig bist!«, sagte er. »Du weinst nicht; du sagst alles ganz ruhig!«
»Und ich«, sagte er, »was werde ich machen?«
»Du wirst das machen, was du immer gemacht hast«, sagte ich.
»Und du?«, sagte er, »was wirst du machen?«
»Auch ich«, sagte ich, »werde das machen, was ich immer gemacht habe.«
»Wie ruhig wir sind!«, sagte er. »Wie ruhig, kühl und friedlich wir sind!«
»Ich hoffe«, sagte er und ringelte seine Haare um den Finger, »dass du eines Tages einem besseren Mann als mir begegnest.«

So viel Gleichmut muss man sich erstmal einreden. Wer sich Ruhe, Friedfertigkeit und Coolness zuspricht und dabei mit seinen Locken spielt, betont nicht weint, der wird ganz schön erregt sein, wird die innere Unruhe mit Mühe bezähmen. In dieser Gelassenheit, die sie Elsa verleiht, „liegt Natalia Ginzburgs pessimistische Gesellschaftsdiagnose, auf die der Roman hinausläuft. Denn die Geschichte, die er erzählt, stellt nichts anderes dar als den Verfalls- und Zerrüttungsprozess sozialer Strukturen, den das moderne Dogma des Individualismus mit sich bringt. Die Institution der Ehe, vor der Tommasino aus schierem Energiemangel zurückschreckt, ist nur das sichtbarste Beispiel einer weitreichenden Aushöhlung verbindlicher Lebensformen.“ (Ursula März, Nachwort) Die Protagonist:innen scheuen das Wort „Liebe“, Liebe macht abhängig, und man will selbst entscheiden. Das ist natürlich Einbildung. Es ist nicht nur die Mutter, die Elsa mit ihren dauernden Vorhaltungen nervt, sie müsse endlich heiraten, egal wen. „Für Elsas Mutter, die in anachronistischen Modellen denkt und nach ihnen handelt, zählen Vernunft und Pragmatismus mehr als Liebe und Träume. Für Elsa aber, die mit einem Fuß bereits in der Moderne steht, zählen Gefühle.“ (Ursula März) „DIE BESITZER der Fabrik sind die De Francisci. Den alten De Francisci nannte man den alten Balotta. (…) Wir wohnen seit vielen Jahren im Dorf. Mein Vater ist der Notar der Fabrik. Der Advokat Bottiglia ist der Verwalter der Fabrik. Das ganze Dorf lebt von der Fabrik. Die Fabrik stellt Stoffe her.“ Die Fabrik macht nicht nur Gestank, „es ist ein Geruch, der manchmal an angefaulte Trauben, manchmal an geronnene Milch erinnert. Es gibt kein Mittel dagegen, sagt mein Vater“, die Fabrik bestimmt auch das Sozialgefüge des Dorfes. Wo und wie man wohnt, wen man kennt und wen man besucht, wieviel Geld und Freiheit man hat oder sich nehmen kann. Das Dorf weiß alles. Zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren kommen Zweifel an der Erzählung der Alten auf, hält man die alten worte für hohl, sucht eine neue Sagensweise – zieht es die Jungen in die Stadt.
»Wie schwer ein Dorf auf einem lasten kann!«, sagte er.
»So schwer wie Blei, mit all seinen Toten! Unser Dorf ist so klein, eine Handvoll Häuser, und doch lastet es so schwer auf mir. Ich kann mich nie von ihm befreien. Selbst wenn ich nach Kanada gehe, schleppe ich es mit mir.«
»Wenn du ein Mädchen aus einem anderen Dorf gewesen wärst!«, sagte er. »Wenn ich dir in Montreal oder anderswo begegnet wäre und dich geheiratet hätte! Da hätten wir uns frei und leicht gefühlt, ohne diese Häuser, diese Hügel, diese Berge! Frei wie ein Vogel hätte ich mich gefühlt!«
»Aber wenn ich jetzt mit dir nach Kanada ginge«, sagte er, »so wäre alles gleich wie hier. Wir würden nichts Neues finden. Wir würden fortfahren, vonVincenzino, Nebbia und Purillo zu sprechen. Es wäre gleich wie hier.«
Elsa fährt mit Tommasino, dem Balotta-Sohn, zwei Mal die Woche in die Stadt, wo er ein Hotelzimmer gemietet hat. „Die Gespräche sind so trist, so umständlich und so vorhersehbar einfach wie das Leben. „»Wir haben unsere Gedanken begraben.« Die Stimmen des Abends ist eine Geschichte von Menschen, die versuchen, ihre Gedanken zu begraben, sich nur mit ihren Handlungen und ihren Worten zu identifizieren, und die sich zuletzt in einer Umklammerung von Absurdität und Schmerz wiederfinden.“ (Italo Calvino: Natalia Ginzburg oder die Möglichkeiten des bürgerlichen Romans) „Elsas Leben, dies lässt sich aus dem Gang der Dinge prognostizieren, ist zu Ende, bevor es überhaupt begonnen hat. (…) Was er dem Leser mitteilt über Personal, Milieu und Handlung, transportiert er bevorzugt in wörtlicher Rede, ohne jeden auktorialen Kommentar, ohne inneren Monolog, ohne Beschreibung, ohne Illustrierung: (…) Sie reden über Dinge, welche die Menschen, denen die Stimmen gehören, persönlich nicht im Geringsten betreffen.“ (Ursula März)
Natalia Ginzburg mischt sich so in die Verhältnisse, wie es Schriftsteller immer tun, auch wenn sie nichts kommentieren. Sie ordnet an, fasst zusammen und lässt vor allem die Menschen sprechen, genauer gesagt: sagen. Das ist ihr einziges redeeinleitendes Verb und das macht das Sagen so lakonisch und das Gesagte oft scheinbar trivial. Dico solo.
1961 – 130 Seiten
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