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Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht

Lotte, fragte ich ohne Vorrede, welches Jahrzehnt würden Sie sich aussuchen — die Sechziger, Siebziger oder Achtziger?
Sie schwieg ein wenig und gab die präziseste Antwort, die man auf eine solche Frage geben kann: Ich wäre gern 12 in einem jeden von ihnen.
Das wäre auch meine Antwort.
„Diskrete Ungeheuer“ macht Gospodinov – so heißt auch der Erzähler im Roman – im letzten Kapitel aus. Die Monster heißen Vergessen & Vergangenheit, wahres Leben oder falsches Abbild. Georgi Gospodinov spielt nicht mit Lebensräumen, sondern mit Lebenszeiten, mit der Täuschung und der Möglichkeit der subjektiven Wahl der Epoche, mit „Zeitzufluchten“. Die Flucht ist Therapie für zerlaufende Erinnerungen, der Weg von Demenz zum – vermeintlichen – Wohlbefinden. Das ist als Reminiszenztherapie bekannt.
„Es ist der Fall eines Mädchens beschrieben worden, das mit seinem linken Auge nur in die Vergangenheit sieht, doch mit dem rechten — einzig jenes, was in der Zukunft geschehen wird. Manchmal ziehen sich die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft so weit zusammen, dass sie mit dem linken Auge sieht, wie der Mond verschwindet, und für das rechte geht die Sonne auf. Ein andermal laufen die Grenzen auseinander, und vor dem linken Auge breitet sich die Erdoberfläche der ersten Tage aus, wüst und wirr, und vor dem rechten — der Planet der letzten Tage, verwüstet und wieder wirr. (…) Und es begannen massenhafte Verdopplungen von Gewesenem und Nichtgewesenem …
(Gaustín, »Über die Vermischung der Zeiten«)
Gaustín* ist Gospodinovs Avatar im Roman. Der Autor kann nur wiedergeben, Gaustín kann aktiv werden, auch indem er Notizen hinterlässt. Gaustín selbst entzieht sich der Zeit, er ist nicht immer greifbar. Im ersten Kapitel gründet Gaustín in Zürich die „Klinik für Vergangenheit“. In der „Geografie des Alters“ ist „Zürich … eine Stadt zum Altwerden. Die Welt hat sich verlangsamt, der Fluss des Lebens hat sich in einem See verborgen, langsam, ruhig an der Oberfläche, der Luxus der Langeweile und Sonne auf dem Hügel für die alten Knochen. Die Zeit in ihrer ganzen Relativität. Es ist überhaupt kein Zufall, dass zwei Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, die just mit der Zeit zu tun haben, genau hier gemacht wurden, in der Schweiz — Einsteins Relativitätstheorie und »Der Zauberberg« von Thomas Mann.“
Für Demente werden Zimmer, ja, ganze Etagen bzw. Häuser eingerichtet, die eine Lebenswelt aus den Jahren simulieren, in denen die Personen zeitlich zu Hause waren: Farben, Musik, Einrichtungen, auch Gerüche, die besonders.
Und so reiste ich, sammelte Gerüche und Nachmittage, katalogisierte, es bedurfte einer genauen und dichten Beschreibung, welcher Geruch was zurückbringt, welches Alter des Menschen er am stärksten hervorruft, welches Jahrzehnt wir mit ihm erstehen lassen können, ich beschrieb sie in Einzelheiten, schickte sie Gaustín, in der Klinik konnten sie bei Bedarf immer zubereitet werden. Sie unternahmen sogar Versuche, die Moleküle des entsprechenden Geruchs zu konservieren. Obwohl Gaustín das für eine überflüssige Anstrengung hielt, viel einfacher und authentischer war es, eine Scheibe Brot zu toasten oder ein wenig Asphalt zu schmelzen.
Demenz breitet sich in alternden Gesellschaften zügig aus, Gaustíns Idee erscheint immer attraktiver, selbst „Gesunde“ verlockt das vorgegaukelte Wohlgefühl und sie weisen sich in die Kliniken ein.
Family collapse disorder
Irgendwo in einem Schweizer Dorf kommt ein Vater nach Hause und trifft drinnen unbekannte Personen an, eine Frau und zwei junge Männer, die sich in aller Seelenruhe in seinem Haus breitmachen. Er schließt sie ein, ruft die Polizei, die Polizisten kommen und umstellen das Haus. Papa, was ist los mit dir, rufen seine Söhne von drinnen.
Schließlich wird die Suche zur Sucht und greift auf ganze Nationen über. Gospodinov: Und dann machte sich die Vergangenheit auf, die Welt zu erobern … (…) Europa, das dachte, dass es nach einigen schweren Verlusten des Verstandes im 20. Jahrhundert bereits volle Resistenz gegen bestimmte Obsessionen, nationale Verrücktheiten usw. besaß, war tatsächlich unter den ersten, die kapitulierten. (…) Irgendwie unmerklich begannen die Menschen in Trachten, die Städte zu erobern. Plötzlich wurde es peinlich, mit Jeans, Jacke oder Anzug herumzulaufen. Niemand hatte offiziell Hosen und europäische Kleidung verboten. Aber wenn du nicht willst, dass man dich schief anschaut oder verächtlich übergeht, wenn du dir irgendwelche Bemerkungen und später auch Faustschläge ersparen willst, ist es besser, sich ein grobes Wolljäckchen überzuziehen oder Tiroler Lederhosen, je nachdem, wo genau du dich befindest.
Die sanfte Tyrannei jeder Mehrheit. (…)
Es begann ein neues Leben, ein Leben als Reenactment.
In allen Ländern wurden Referenden vorbereitet, in denen die Bevölkerung abstimmen sollte, welche Zeit – welches Jahrzehnt etwa – künftig als geltende Vergangenheit veranstaltet werden soll. „Wir gehen voran und betreten die endlosen Elysischen Gefilde der Vergangenheit.“ Gospodinov erzählt ausführlich von den Auseinandersetzungen zunächst in seinem Land, in Bulgarien. Auch Bulgarien hat Vergangenheiten, die immer noch nicht besiegt sind, um deren Wiederaufführung erbittert gerungen wird. Es gibt „zwei maßgebliche Bewegungen mit einem bedeutenden Vorsprung vor den übrigen. (…) Auf der einen Seite ist das die Bewegung für Sozialismus (BS), besser bekannt als die Sozis — sie steht für eine Rückkehr in die Zeit des reifen Sozialismus, konkret in die 60er und 70er. (…) Die andere Bewegung, deren prognostizierte Resultate gegenüber denen der ersten fast ausgeglichen sind, nennt sich offiziell Die bulgarischen Recken, familiär und inoffiziell einfach die Recken. Es fällt ihnen schwer, eine konkrete Periode zu benennen, ein Jahrzehnt, in das die Nation zurückkehren soll, der Mythos verwendet nicht unsere Einteilung nach Jahren. Großbulgarien ist dem, was in ihren Reden steht, zufolge stets Wunschtraum und Realität.“ Allerdings kennt man in Deutschland Bulgariens Geschichte nicht so gut – wer ist Dimitrov? Wann war die „Bulgarische Wiedergeburt“? -, aber man kann vieles, was dort passiert, auf hier oder andere nationale Gegebenheiten übertragen. Überall scheint Gospodinovs Spott über die abgedroschenen Nationalismen durch.
Statt eines konkreten Jahrzehnts wählt Bulgarien nach langem Zögern irgendeinen Eintopf oder gemischten Grillteller aus. Ein wenig Sozialismus, wären Sie so freundlich, ja, ja, von dem mit dem Ajvar als Garnitur. Und eine Portion Wiedergeburtszeit, die ohne Knochen, die etwas fettere. (…) Männer in Pumphosen legen sich neben Frauen mit toupiertem Haar …
In Kapitel IV – „Vergangenheitsreferendum“ – wählen verschiedene Länder Zeiten vergangener nationaler Größe als bleibende „Zukunft“. Gospodinov blickt mit den jeweiligen Stereotypen durch Europa. In Deutschland gewinnen „die 80er. Nein, genauer gesagt siegten die westdeutschen 80er. Nur dass Berlin erneut eine geteilte Stadt war. Es ist interessant, dass beide Seiten darauf bestanden.
Die alten Deutschen wählten das Jahrzehnt wegen des gravitätischen Körpers von Helmut Kohl, der Stabilität und Sicherheit ausstrahlte. Die jungen oder diejenigen, die damals jung gewesen waren, das heißt der Großteil der Abstimmenden, wählten die Disco der 80er.
Letztlich siegt immer das Banale, die Trivia und ihre Barbaren fallen früher oder später in das Reich der gewichtigen Ideologien ein und erobern es.»Du behauptest, das sei das Jahrzehnt, das am meisten Langeweile und Disco hervorgebracht hat«, schrieb mir E. nach der Abstimmung, »aber offenbar haben die Menschen am meisten Lust darauf, so zu leben — mit Disco und in Langeweile.«
Das Ende der Zeit. Die ewige Schleife, als Dystopie, der Raum verliert seine Bedeutung gegenüber der Zeit. Ein Roman voller AnSPIELungen, eine „unglaublich raffinierte Meditation über die Zeit“ (Barbara Vinken), über Augustinus*, psychologisch, historisch, reflektiert, ironisch-satirisch, philosophisch, absurd, verspielt. Man kann es – natürlich – auch als überdauernde Reminiszenz auf Aktuelles lesen. Z.B. die Tracht-“Tradition“ auf den Volksfesten, der nationalistische Wunsch nach Wiedererrichtung des (russischen) Großreichs. Was übertrieben erscheint, hat sein Substrat in der historischen Erfahrung, für Hoffnung ist nicht die Zeit.
Wie kann man ein wenig Zeit vorausgewinnen, wenn man vor einem schweren Defizit an Zukunft steht. Die einfache Antwort war — indem man ein wenig zurückgeht. Wenn es etwas Sicheres gibt, dann ist es die Vergangenheit. Fünfzig Jahre zurück sind sicherer als fünfzig Jahre voraus. Wenn man 2, 3, 5 Jahrzehnte zurückgeht, gewinnt man genauso viele voraus. Ja, es mag bereits durchlebt worden sein, eine »Second Hand«-Zukunft sein, aber es ist trotzdem Zukunft. Es ist immer noch besser als das Nichts, das jetzt klafft. Wenn das Europa der Zukunft bereits unmöglich ist, lasst uns das Europa der Vergangenheit wählen. Es ist einfach, wenn du keine Zukunft hast — du stimmst für die Vergangenheit.
Ich ging durch einen warmen Juniabend des Jahres 1978. Irgendwo von der Straße her erklang Such a lovely place, such a lovely place, such a lovely face … »Hotel California« von den Eagles strömte in diesem Jahr von überall auf einen ein. Düster und berauschend, irgendwo verlor es den Sinn, danach kehrte er wieder zurück, der Gitarrenschlussteil war wirklich hypnotisch. Die Jungs hatten was drauf. Die Musikzeitschriften sagten ihnen eine strahlende Zukunft voraus. Rund dreißig Jahre später würde von all ihren Alben nur dieses Stück übrig geblieben sein.
… some dance to remember, some dance to forget .. .
2020 – 340 Seiten

3SAT Buchzeit vom Frühling 2022 (5:30 – 15:00)
*Gaustín > Verweis auf Augustinus von Hippo: Über die Zeit
Wystan Hugh Auden – 1. September 1939
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