Edgar Selge:
Hast du uns endlich gefunden

Eine Erziehung in Deutschland, zwischen moralischer Selbstüberheblichkeit und christtraditionell vorgeübter Moral. Unendliche Geduld und Ohrfeige stante pede. Musik und Vaterland. „Das sind wir. Das ist Deutschland. Immer auf dem Kiwief. In Deckung, aber auf dem Sprung.“
Die Vergangenheit ist ein Abgrund – und am tiefsten stürzt man in die Familie. Da braucht es Mut hinunterzublicken. Edgar Selge weiß um diese unverschüttbaren Tiefen und wagt es, sich diesem Wagnis zu stellen. Er stellt uns seine Familie vor, seine Eltern, seine Brüder, sich selbst. Der Vater ist Jurist, leitet jetzt das Jugendgefängnis in Herford, lädt die Sträflinge zu Kammerkonzerten ins eigene Haus ein, liest der Familie Dostojewski vor, liebt Frau und Kinder. Er prüft die Lateinvokabeln seines Sohnes und prügelt ihn besinnungslos. Wenn sich die Söhne die Zähne putzen, reibt er ihnen seinen steifen Schwanz an den Arsch. Mutter Signe hat ihren Mann nur widerwillig geheiratet, sie hält ihr Leben für sinnentleert. Die Brüder halten zusammen, zwei sterben früh, einer will Musiker werden. Der kleine Edgar ist „renitent“, klaut seinen Eltern Geld fürs Kino. Dazu schleicht er sich aus der Wohnung. „Aber ich werde nie begreifen! Ich begreife es einfach nicht! Ich kann es nicht begreifen: Warum! Er! Mich! Schlägt!“
Edgar Selge ist 1948 geboren, 1960 war er 12, da beginnt die Erinnerung, da kann er seine Beobachtungen verstehen und – zum Teil – einordnen. Aussprechen und formulieren kann er sie – öffentlich – erst jetzt. Das liegt zum einen an der Scham über „Unsagbares“, zum anderen der Erkenntnis, dass man selbst in der Erblinie der Familie steht. Das geht noch relativ einfach, wenn man darüber erschrickt, dass man die selbe Stimme wie der Vater hat, ja, dass der Vater, wie er selbst, Edgar hieß.
Es ist seine Stimme, die aus mir spricht. Die Stimme meines Vaters. Das weiß ich erst seit kurzem. Ich habe ein altes Tonband abgehört. Er hat mal eine Mozartsonate aufgenommen, auf einem der alten Magnetbänder, und er kündigt das Köchelverzeichnis und die Satzbezeichnungen an. Einen richtigen Schreck habe ich bekommen. Einen Moment lang dachte ich: Das bin doch ich.
Aber er ist es. Er! (…)
Und der Edgar — ja, mein Vater heißt Edgar!
Das steht erst weit hinten im Buch. Aber könnte das nicht auch heißen, dass auch die Denkart der Eltern auf einen übertragen wurde? Edgar Selges Eltern waren deutschnational gesinnt. Das ist 1960 nicht selten, kommt in manchen Bevölkerungsschichten häufiger vor, auch, weil man die Vergangenheit nicht wegschieben kann, ohne sich selbst zu entwerten. Wegschieben will auch Edgar Selge jun., aber das erklärt sich anders.
Jetzt kommt Mutti in Fahrt: Die waren eben stolz auf ihr Land! Und sie klatscht wieder in die Hände. Es geht nicht immer nur um Musik. Und mit fast irrem Blick wiederholt sie das Wort: Musik Musik Musik! Und dann: Kunst! Literatur! Ihr denkt immer, das wär alles! Es gibt noch was Größeres, etwas, für das man bereit sein kann, sein Leben einzusetzen.
Gott, sage ich prompt.
Nein, ruft sie.
Ich staune. Gott steht doch im Mittelpunkt ihres Lebens.
Was dann?, frage ich.
Das Vaterland! Davon macht ihr euch gar keine Vorstellung, was das für uns bedeutet hat! (…) Die Musik trat in den Hintergrund. Das Schicksal wurde wichtiger, das Schicksal unseres Volkes. Sie waren voller Stolz und wollten für Deutschland ihr Leben einsetzen. Das hat sie gepackt. Das hat damals alle gepackt. (…)
Aber Gott, sage ich, Gott ist doch kein Deutscher?
So kann man das natürlich nicht ausdrücken, sagst du tadelnd, überlegst einen Augenblick: Wir dachten, Gott ist auf unserer Seite. Auch im letzten Krieg haben wir das geglaubt. Am Anfang wenigstens.
Edgar Selge blickt zurück von seinem aktuellen Alter auf Zeiten seiner Kindheit und Jugend. Er weiß jetzt mehr und anderes als früher, will aber das Erleben der Vergangenheit nicht überformen. Also versetzt er sich in den jungen Edgar, der aber – wie ließe sich das Dilemma lösen – ein auffallend teilnehmender Junge gewesen sein muss.
Ich baumele mit den Beinen auf meinem Stuhl und muss sagen, dass mich Mozart manchmal schon langweilt. Irgendwie komme ich hier gar nicht vor.
Das Schubert-Duo, das als Nächstes drankommt, spricht mich mehr an, als mir lieb ist. Es besetzt meine Gefühle und raubt sie mir gleichzeitig. Es macht mich zum Opfer. Immer von derselben Melodie in endlosen Modulationen herumgeführt zu werden, geht mir auf die Nerven. Schließlich wird man ganz willenlos und weiß nicht mehr, wer man ist. Ich habe dem nichts entgegenzusetzen.
Und er berichtet über seine Gedanken, wie er als Kind gefühlt hat, wenn sein Vater falsch spielte, zu schnell, ohne Ausdruck. Der verhinderte Musiker, der Gefängnisdirektor, der seine Häftlinge zum Privatkonzert einlädt. So spricht ein Zwölfjähriger? Auch das erzählende Präsens versetzt Autor und Leser in die erlebende Vergangenheit. Am eindringlichsten wird das Übereinanderlegen der Zeiten, wenn der Erzähler die Person damals unmittelbar anspricht. Du. Hier an den Vater gerichtet:
Jetzt pass aber auf!, schreist du, um zu verdeutlichen, dass es sich hier erst um den Anfang handelt.
Du musst zuschlagen. Das ist ein Zwang. Du musst die Welt in Ordnung bringen. Du musst mit Ohrfeigen die Welt besser machen.
Aber sie wird nicht besser. Meine Antworten werden immer katastrophaler. Wenn der erste Schlag gesessen hat, ist mir der zweite so sicher wie das Amen in der Kirche.
Die Erfolglosigkeit deines Zuschlagens steigert deinen Zorn.
Irgendetwas stirbt in mir.
Warum stehe ich nicht auf und gehe?
Warum nicht?
Worte, die man sich damals nicht zu sagen traute. Man weiß, wie der Vater reagiert hätte. Kennt – schon damals – seinen Jähzorn, seine Schwäche. Der Sohn ist dem Vater überlegen. „Warum stehe ich nicht auf?“ (…) „Wer so intensive Prügel bekommt wie ich von dir, Papa, der kann auch als Kind ein tieferes Verständnis vom Leben haben.“
Die Klarheit dieses Tageslichts fragt mich durch die Fensterscheiben: Warum schämst du dich? Die Pandemie hält die Zeit an, damit ich ausspreche, was mir so schwer auf die Zunge will. Hier drinnen bin ich im Reagenzglas. Die Welt ist draußen, blendend, fast unbetreten, und guckt mir zu:
Mensch, Edgar, sag, was los ist!
Meine Liebe zu meinem Vater. Das ist es, was los ist.
Ich will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. Und noch weniger will ich zugeben, dass seine Schläge meine Liebe nicht ausgelöscht haben.
Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.
Edgar Selge erzählt nicht linear. Die Kapitel heißen z.B. Hauskonzert – Todestag – Weihnachten – Königlicher Musikdirektor – Abwasch – Kasperpuppen – An der Mauer – Gelächter – Angina Pectoris – Kino – Kinderzimmer. Alltagsszenen aus der Familie, miteinander durch die Personen verbunden. Immer (wieder) kreist das Geschehen um den Vater, nicht nur, weil er der Herr im Haus ist, vor allem aber, weil er der zu liebende Tyrann ist, der die Familie nur mit Mühe und seine Gefühle oft nicht in den Griff bekommt. Hier schlagen die Episoden ins Dramatische. Man merkt Selge die Kraft und Überwindung an, die ihn diese Abrechnung mit den Einschlägen des Lebens kostet. Seine Sehnsucht, ein guter Mensch geworden zu sein.
Sie freut sich, aber sie ist gar nicht mal so überrascht. Eine sanfte Freundlichkeit schimmert auf ihrem Gesicht, und mir wird bewusst, dass dies das Wertvollste, Schönste ist, das ich je kennengelernt habe. Aber die Freundlichkeit bleibt bei ihr, sie wiegt sich in den Zügen ihres Gesichts, sie reicht nicht bis zu mir. Die Wellen, die alles im Leben transportieren, sind zu kurz und können diesen Ausdruck nicht bis in mein Herz tragen.
Wie schön, sagt sie. Hast du uns endlich gefunden. (Aus dem „Traum von meiner Mutter“)
2021 – 300 Seiten

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden (1. Kapitel) – Gelesen vom Autor
Gespräch im „lesenswert“ Quartett des SWR – 11:30
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