Nachrichten vom Höllenhund


Kaminsky
23. August 2022, 18:16
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Ilya Kaminsky:
Republik der Taubheit

WIR LEBTEN GLÜCKLICH WÄHREND DES KRIEGES

Und als sie die Häuser der anderen zerbombten

protestierten wir,
aber nicht genug, wir waren dagegen, aber nicht

genug. Ich lag
in meinem Bett, um mein Bett ging Amerika

zugrunde: unsichtbares Haus um unsichtbares Haus
um unsichtbares   Haus   —

Ich stellte einen Stuhl hinaus und betrachtete die Sonne.

Im sechsten Monat
dieser verhängnisvollen Herrschaft im Haus des Geldes

in der Straße des Geldes in der Stadt des Geldes im Land des Geldes,
unserem großartigen Land des Geldes, lebten wir (vergib uns)

glücklich während des Krieges.

Krieg – und Glück. Wie kann man zu Zeiten des Krieges glücklich sein? Weil er „die Häuser der anderen“ trifft? Weil die Häuser der anderen „unsichtbar“ sind? Weil man meint, sich davonstehlen zu können, wenn man die Sinne abwendet? Wenn man sich ins Bett verkriecht? Wenn man nicht zu den zerbombten Häusern schaut, sondern die Sonne „betrachtet“? Wenn man sich „taub“ stellt, sich alle taub stellen?

Taubheit ist keine Krankheit! Es ist eine Liebesstellung!

Man denkt 2022 unwillkürlich an die Ukraine, wird darin bestärkt, wenn man erfährt, dass Ilya Kaminsky 1977 in Odessa geboren wurde. Aber dann heißt es, dass „Amerika zugrunde“ ging. Amerika, das „Land des Geldes“. Geld – sechs Mal wiederholt! Und dazu – in Klammern: „vergib uns“. An wen ist die Bitte/der Appell gerichtet?

Das Gedicht weitet sich zur Erzählung, die Eindrücke bleiben lyrisch. Ilya Kaminsky teilt seinen Text in zwei Akte und stellt sein Personal als „Dramatis Personae“ vor. Was hält den Text, was hält die Menschen zusammen? – Es sind Liebe und Tod.

Im ersten Akt erzählt Alfonso Barabinski von sich und seiner Frau Sonya. Ihr Kind ist zunächst „in Sonya, seepferdchengroß“ und heißt als Mädchen Anuschka.

FRAGE

Was  ist ein Kind?
Eine Stille zwischen zwei Bombardements.

Alonso uns Sonya werden getötet. Die Puppenspielerin Momma Galya Armolinskaya kümmert sich um Anuschka und übernimmt im zweiten Akt das Erzählen. Die Soldaten „werden nach Vasenka entsandt, um »unsere Freiheit zu verteidigen«, und sprechen eine Sprache, die niemand versteht“. Die Soldaten bringen den Krieg, wie Maschinen, bringen den Tod. Sie sind der Gegenpol zu Liebe und Mensch.

WAS  WIR NICHT HÖREN KÖNNEN

Sie stoßen Sonya in den Armeejeep,
an einem Morgen, einem Morgen, einem Morgen im Mai — ein
   münzheller Morgen —

sie stoßen sie,
und sie fliegt hin und her und windet sich und kullert in einer Stille

die das Geräusch der Seele ist.

Was ist Stille? Etwas vom Himmel in uns.

Ilya Kaminsky findet eine schöne Form für seine Poesie. Kurze Erzählungen machen Halt in Gedichten, die den Blick auf die Episoden von Krieg und Glück richten, die den Leser mit frechen Bildern überraschen, ihn zum Mit- und Weiterdenken anregen, die das Thema variieren und subjektiv gefärbten Zusammenhalt erzeugen. Die Komposition macht den eigenen Reiz der „Republik der Taubheit“ aus, wobei Republik hier weniger politisch zu verstehen ist. Es ist der Chor der Menschen, der Puppenspieler, die für die Hoffnung einstehen. Und ab und zu schaut Gott vorbei.

In einer Nacht wie dieser hat Gott ein Auge auf sie,
                                     doch sie ist kein Spatz.
                         In Zeiten des Krieges

              zeigt sie uns, wie man die Tür
                            öffnet und
                                   hindurchgeht,
                   der wahre Lehrplan aller Schulen.

Gespräch im Literaturclub des SRF  (17 Minuten)

„Wir lebten glücklich während des Krieges“ – Beitrag in ttt (7 Minuten)

Ilya Kaminsky reads “We Lived Happily During the War“


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