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Yasmina Reza: Serge
„Was soll das sein, die Judenrampe. Ihr geht mir auf den Sack mit eurer Judenrampe“

Die Geschwister Nana, Serge und Jean, der mittlere, alle um die 60. Nana ist unpassend verheiratet, Serge gibt sich als Griesgram, Jean ist der Erzähler und sollte als solcher ohne auffällige Eigenschaften bleiben. Dann sind da noch Kinder, Cousins, Ex-Partner, enge oder weitläufige Bekannte. „Mischpoke“ könnte man das im Jiddischen nennen, im Roman wird es zum „familiären Haufen“ erklärt.
Man kennt sich, weiß einiges voneinander, auch weniger Angenehmes. Man spricht miteinander, frei oder nicht ganz offen, gerne oder weil nichts anderes übrigbleibt. Man besucht sich, Anlässe gibt es – oft leider – genug. Familie halt, je umfangreicher, desto mehr Kommunikation, desto flacher oft auch das Gespräch. Krankheiten, Beziehungen, Kinder, Tod, Geburtstage. Yasmina Reza lässt mich am „Kuddelmuddel“ teilnehmen, obwohl mein Interesse an den Themen und Inhalten nicht größer ist als das des Familienhaufens aneinander. Die Familienverhältnisse sind unübersichtlich.
Dann kommt der Grund, weshalb Yasmina Rezas Roman von der Kritik begierig aufgegriffen und „vielgerühmt“ (Eigenwerbung) wurde. Josephine, die Tochter von Serge, kommt auf eine Idee: »Ich habe beschlossen, dieses Jahr nach Osvitz zu fahren.«
»Die haben leider zu.«
» AUSCHWITZ !«, schrie Serge auf. »Osvitz!! Wie die französischen Goys! … Lern erst mal, das richtig auszusprechen.
Auschwitz! Auschschschwitz! Schhhh…!«
»Papa …!«
»Alle können dich hören«, murmelte Nana.
»Ich kann doch nicht zulassen, dass meine Tochter Osvitz sagt! Wo hat sie das denn her?«
Auf Seite 83 treffen die Geschwister Nana, Jean, Serge und dessen Tochter Josephine in Auschwitz ein. Es scheint nicht so, dass Ausschwitz sich in den unterschiedlichen Betrachtungsweisen der vier Personen spiegelt, mehr geht es Yasmina Reza darum, angesichts des Konzentrationslagers die Personen und ihre Marotten vorzuführen. Der Holocaust stellt sich neben das „ziellose Geplänkel“ (Jörg Magenau, DLF), geht im Familientratsch unter. Serge, der selbstverliebte Nörgler, hält Erinnerung für schnöden Schein, für Fetischismus, die beiden Frauen fotografieren alles, naiv beflissen, Jean ist der zurückhaltende Vermittler.
Drinnen ist es sofort beklemmend. Jäh in eine dunkle Höhle versetzt, hauteng mit Leuten, die fast schon Strandkleidung tragen, ärmellose T-Shirts, bunte Turnschuhe, Shorts, Kombishorts, Blümchenkleider, schieben wir uns in Minischritten unter einer niedrigen Decke auf den makabren Ort zu. Durch das grobe Gitter einer Öffnung sehe ich, in einem dünnen Strahl aus Sonne und Staub, wie draußen Serge in seinem schwarzen Anzug auf und ab tigert, er schaut den sich hineinschiebenden Menschentrauben zu, stampft mit seinen Bergschuhen auf die trockene Erde. Die Frauen, vom Strom erfasst, habe ich aus den Augen verloren.
Wir durchqueren den Vergasungsraum, die Wände sind von Kratzspuren übersät, alle Kameras klicken, wir durchqueren den Verbrennungsraum, hinter einer Absperrung sehen wir die Ofen, die Gleise, die Metallwägelchen, aus Originalteilen nachgebaut (das habe ich beim Hinausgehen auf einem Schild gelesen), dann saugen uns das Licht und das Laub an den Bäumen ins Freie.
Mit aufgelöster Miene sagt Nana zu Serge, du solltest da reingehen.
»Ich halte das Gedränge nicht aus.«
»Die Kratzspuren der Fingernägel an den Wänden, unfassbar.«
Serge zündete sich eine Zigarette an, Josephine gesellte sich wieder zu uns.
»Die Spuren an den Wänden sind schrecklich, oder?«, sagte Nana.
»Schrecklich«, sagte Josephine und machte noch ein paar Außenaufnahmen vom Krematorium.
Werden sie jetzt bei jeder Gelegenheit schrecklich, unfassbar usw. sagen?, fragte ich mich. Ich beschloss, mich nicht zu schnell von ihnen wahnsinnig machen zu lassen. Wir betraten das eigentliche Lager.
Dabei spielt schon eine Rolle, in welcher Manier das KZ den touristischen Besuchern präsentiert wird und mit welchen Motiven die Besucher anreisen, welche Funktion für sie das späte Gedenken spielen kann. Man kann das Unermessliche in Fotos wegsperren, man darf sich weigern hinzuschauen, wenn einen schon die Regelung des eigenen Lebens voll beansprucht. Yasmina Reza zeigt ein paar Weisen an, mit dem Grauenvollsten umzugehen, sie stellt sich aber nicht der Diskussion um eine „angemessene“ Bewältigung. Doch „Serge“ ist ein Roman, da haben die Personen Vorrang, auch wenn sie keine hehren Sorgen quälen, auch wenn sie ihr verbrauchtes Geschwafel, ihre Lebensbanalitäten in den Text hineintragen. Allerdings gerät der Roman damit in die Nähe der Marginalie und Langeweile.
Wir wollten das Grab unserer ungarischen Verwandten besuchen. Menschen, die wir nie kennengelernt, von denen wir bislang nichts gehört hatten und deren Unglück das Leben meiner Mutter anscheinend nicht weiter erschüttert hatte. Aber das war unsere Familie, sie waren gestorben, weil sie Juden waren, sie hatten das Verhängnis dieses Volkes erlebt, dessen Vermächtnis wir trugen, und in einer Welt, die sich an dem Wort »Gedenken« berauschte, wirkte es ehrlos, nichts damit zu tun haben zu wollen. So verstand ich jedenfalls das fieberhafte Engagement meiner Nichte Josephine. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob sie irgendwelche Bande mit unserer Mutter geknüpft hatte. Unsere Mutter hatte auf keinen Fall ein Glied in einer Kette sein wollen, und Josephine mit ihrer Ananas-Frisur verspürte offenbar das entgegengesetzte Bedürfnis. Während wir an Block z4a vorbeiliefen — da hatten wir ihren aufklärerischen Furor noch nicht außer Gefecht gesetzt —, informierte sie uns, dass es sich hier um das Bordell handele, dann kommentierte sie das Infoschild über das Lagerorchester. Sag mal, falsche Wimpern, musste das sein, heute?, fragte ich sie. Die sind permanent, antwortete sie.
2021 – 205 Seiten

Gespräch im Literaturclub des SRF (17 Minuten)
Bei Dieter Wunderlich gibt es eine Übersichtsgrafik zum Personal des Romans.
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