Anna Yeliz Schentke: Kangal

Koyun gibi. Ayla kann es sich leisten, ein Schaf zu sein. Wenn ich ihr erzähle, weswegen ich hier bin, wird ihr Bild von der Türkei, nach der sie sich sehnt, zerstört sein.
»Ich bin in Deutschland, weil ich sonst im Gefängnis säße.«
Ayla lächelt nicht mehr.
»Was hast du gemacht?«
Hier hat alles seine Ordnung. Ins Gefängnis gehören nur die, die eine Gefahr für andere sind. Ein Bürgersteig hat einen Bordstein, die Wege sind sauber, die Gärten sind gepflegt. Du kannst hier nicht einfach über Nacht ein Haus bauen und dann darin wohnen. Du brauchst eine Genehmigung. In diesem RegelDeutschland können sich die Menschen nicht vorstellen, dass alles außer Kraft gesetzt wird. Notstände kennen sie nur noch aus Geschichtsbüchern oder aus dem Fernsehen. Wenn sich unsere Mütter nicht zerstritten hätten, dann müsste ich Ayla jetzt nicht alles erklären, weil sie gesehen hätte, wie wir uns verändern mussten.
»Vor fünf Jahren gab es den Versuch, die Regierung zu stürzen. Du hast sicher Bilder davon im Fernsehen gesehen, auf der Brücke.«
Im Juli 2016 versuchten Teile der türkischen Militärs die Staatsführung zu stürzen. Der erfolglose Putsch hatte rigide Reaktionen der Regierung zur Folge. Überprüfung und Inhaftierung von Zehntausenden von Menschen, Verhängung des Ausnahmezustands, rücksichtslose Erklärung von Opponenten zu Terroristen. Viele der Maßnahmen dauern bis heute an.
Die Studentin Dilek (= Wunsch, Bitte, Begehren) betreibt ein Blog mit dem Codenamen „Kangal11012“ Kangal ist ein türkischer Hirtenhund, der als gefährlich eingestuft wird. Trotz ihrer Verbindung mit Tekin flüchtete sich Dilek nach Deutschland, um erwartbaren willkürlichen Repressalien zu entgehen.
In Frankfurt hängen Dileks Gedanken und Sorgen immer in der Türkei, ihren oppositionellen Freunden dort, an Tekin natürlich. Überlagert wird alles von ihrer ungewissen Situation. Was geschieht in der Türkei? Könnte sie dahin zurückkehren, wird Tekin nachkommen? Ist sie auch in Deutschland in Gefahr, eventuell, weil sie ihr Kangal-Blog verrät, obwohl sie diesen inzwischen gelöscht hat? Dilek weiß, dass die Türken, die in Deutschland leben, zu überwiegenden Teilen Erdoğan, (Ismi Lazim Degil, „der, der keinen Namen braucht“) gewählt haben. „Von Deutschland aus wählen sie die Parteien, die mein Land zu einem gemacht haben, in dem man nicht mehr bleiben kann.“ Tekin ist weit weg, Dilek hat als Gesprächspartnerin ihre Cousine Ayla, mit der sie in Frankfurt in einer Wohnung lebt. Was ihr Halt, Trost geben soll, treibt die beiden auseinander.
Ayla: „Weil vielleicht hat Melek schon ein bisschen recht, denke ich, und Dilek macht sich viel mehr Sorgen, als sie müsste.“
Die Gespräche, durchsetzt mit den dazugehörigen Gedanken und Emotionen, verteilt Anna Yeliz Schentke auf ein- bis zweiseitige Kapitel, immer in wechselnden Perspektiven. Auch die Partner, die Unterhaltungen geben keine Sicherheit, keine(r) kann Dileks Sorgen ganz verstehen. „Kangal“ unterscheidet sich von anderen Romanen über junge Türkinnen in Deutschland, da Schentke nicht den Clash der Zivilisationen in den Mittelpunkt stellt, die Traditionen der Familie, sondern eine Studentin, die politisch verfolgt wird bzw. sich verfolgt fühlt. Dennoch ist „Kangal“ keine politische Analyse, weder der Zustände in der Türkei noch derer in Deutschland. Es geht mehr um das subjektive Erleben und Fühlen. „Die Genauigkeit, mit der ihre Figuren auf deutsche und türkische Verhältnisse schauen, ist verblüffend“, schreibt Christoph Schröder in der ZEIT. Doch für Genauigkeit haben die Figuren nicht den Überblick oder Schröder ist von den „Verhältnissen“ überrascht.
Wenn einem das Gesicht heiß wird und die Traurigkeit den Hals hochklettert, schnell an etwas anderes denken. Mit allem, was man hat. Das ist die Gewalt, die ich mir antun muss, um weitergehen zu können, und in Deutschland habe ich das perfektioniert. So lange an etwas anderes denken, bis ich dort angekommen bin, wo ich atmen kann.
Der Roman bleibt hängen, nachdem Dileks Problem erklärt ist. Die Verhältnisse ändern sich nicht weiter, die persönlichen Risiken und Möglichkeiten werden hin und her gewälzt, man will sich gegen potenzielle Mithörer absichern, hegt Verdachte gegen Bekannte, wird hysterisch beim Gebrauch von Telefonen oder E-mails. „Mit Ayla und Melek am Tisch in einer vollen Kneipe werde ich das Smartphone nicht aus der Tasche holen.“ Verzweifelte Gespräche mit Müttern, Anwälten, Freunden. Es kann kein beständiges Ergebnis eintreten, solange sich die politische Situation in der Türkei nicht stabilisiert, zur Demokratie zurückfindet.
Unter dem Betonpavillon auf der Anlage sitzt Ayla im Schutz vor dem Regen. Sie kam gestern nicht nach Hause, ich lag auf meinem Bett, als sie sich meldete: »Können wir reden?«
Natürlich können wir, weil sie Ayla ist oder weil sonst niemand mehr geblieben ist, mit dem Reden geht. Und vielleicht weil sie der letzte Grund ist, warum ich noch hier bin.
»Warst du heute Nacht bei Melek?«
Ayla schüttelt den Kopf. »Ich habe mit Anne gesprochen.«
»Über mich?«
In meinem Kragen hat sich Regen gesammelt, er tropft mir in den Nacken.
»Sie sagt, du sollst zu uns nach Hause kommen, sie hat eine Anwältin für dich.«
Was für eine Anwältin? Ich habe Sinem. Selbst alle Sinems der Welt können mir nicht helfen, Sinems kommen in den Knast wie andere Leute auch, und eine Anwältin aus Deutschland weiß nicht mehr als ich. Eine Anwältin aus Deutschland, für was?
»Du solltest ihr nicht von mir erzählen.«
Aber Ayla ist eine, die sich nicht selbst glauben kann, dazu wurde sie erzogen. In der Türkei droht das Gefängnis, hier der Gedanke daran. In der Türkei ist es fast Zufall, ob es passiert. Hier bin ich verantwortlich.
»Sie will dir helfen. Warum nimmst du es nicht an?«
Anne heißt Mutter. Koyuk ist das Schaf.
Anna Yeliz Schentke ist 1990 in Frankfurt geboren. „Kangal“ steht 2022 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
2022 – 205 Seiten

Literaturforum im Brecht-Haus: Lesung, Gespräch, Buchpremiere Anna Yeliz Schentke »Kangal«
Moderation: Mascha Jacobs (1:25)
Hörprobe auf der Seite des Deutschen Buchpreises
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