Marie NDiaye:
Die Rache ist mein

Aber ich habe Monsieur Principaux nichts mehr zu sagen. Aber ich schäme mich vor ihm. Aber ich hasse ihn auch, was meine Scham noch steigert. Aber ich kann das alles nicht mehr entwirren. Aber er tut mir leid, aber ich hasse ihn, aber ich schäme mich vor ihm wie vor Gott.
Person A ist mit Person B verwandt, befreundet, verheiratet, steht mit ihr in einem Arbeitsverhältnis. Es reicht, dass man mit einer/einem anderen zu tun hat, dass man sich auf sie/ihn eingelassen hat. Was man auch tut oder bloß denkt, das Gegenüber greift ins eigene Leben ein, man wird unsicher, verliert die eingebildete Souveränität. Person A und Person B geraten in ein Abhängigkeitsverhältnis, jede(r) sieht sich veranlasst, eine Rolle zu spielen. Die Freiheit ist dahin. Man hasst den anderen, weil man sich selbst hasst und man hasst sich dafür, dass man aus dieser Schleife nicht herauskommt. Scham gebiert Rache.
In Marie NDiayes „Die Rache ist mein“ gibt es mehrere solcher „Paare“ Manche sind sich näher, manche existieren nur in der Projektion, es kann sein, dass man sich Gegenspieler:innen sucht, um sich in der Abgrenzung selbst zu finden. Maitre Susane, die Anrede gebührt der Rechtsanwältin und wird im Roman mit „Me“ abgekürzt, Me Susane ist ins Zentrum des Geflechts platziert. Ihre Kontrahenten sind: – ihre Eltern – der (frühere) Freund Rudy – die Zugehfrau Sharon – M. Principaux – Marlyne Principaux. Es gibt Querverbindungen: Sharon etwa putzt auch bei den Principaux‘, ohne dass das Me Susane zunächst weiß, Sharon nimmt Rudys Tochter Lila in Obhut. Herr und Frau Principaux verstehen sich nicht: Der Kindermord variiert das Medea-Motiv.
Me Susane „wusste auch, dass letztere eine paradoxe, aber gängige, fatale und daher verzeihliche Neigung haben, es dem kleinen Mädchen übelzunehmen, nicht hübsch zu sein, statt vielmehr ihren eigenen Mängeln die Schuld zu geben, die sich, durch den Fortpflanzungsprozess verstärkt, eklatant und beklagenswert im Gesicht und in der Gestalt des Kindes wiederfinden“. (…)
Denn sie wusste von klein auf, dass sie nicht hübsch war.
Sie wusste, ohne dass irgendwer je ein Wort darüber verloren hätte, dass der unabänderliche Mangel an Schönheit eines geliebten kleinen Mädchens dessen Eltern nur bitter enttäuschen konnte.
Sie wusste auch, dass letztere eine paradoxe, aber gängige, fatale und daher verzeihliche Neigung haben, es dem kleinen Mädchen übelzunehmen, nicht hübsch zu sein, statt vielmehr ihren eigenen Mängeln die Schuld zu geben, die sich, durch den Fortpflanzungsprozess verstärkt, eklatant und beklagenswert im Gesicht und in der Gestalt des Kindes wiederfinden.
Das wusste Me Susane seit jeher!
„Doch „ihre Eltern, Monsieur und Madame Susane, brachten Lila eine aberwitzige Liebe entgegen.“ Eine Rolle spielt dabei, wie immer bei Marie Ndiaye der soziale Status. Me Susane ist „proletarischer Herkunft“, die Mutter von Lila ist reich. Reich und einflussreich ist auch der Junge, der sich Me Susane als Zehnjährige ungebührlich angenähert haben soll. Ihre Eltern nehmen den Jungen in Schutz, Me Susane bildet sich ein, er sei der junge Principaux gewesen. Auch als Leser erhält man nur Andeutungen, was einen Reiz des Buches ausmacht, was aber die „Rache“ nur bedingt erklären kann. Als Rudy, der Freund und Kollege, „voller Bestürzung feststellte, dass er Me Susane nicht mehr mit der gleichen Leidenschaft liebte, als er erhebliche Fehler an ihr entdeckte und sich wahrscheinlich an der loyalen Zuneigung stieß, die sie ihm anstelle der hohen Liebe, die er ihr geschenkt hatte, entgegenbrachte, als Rudy ihr mit aller Vorsicht ankündigte, dass er daran gedacht hatte zu gehen, da belog sie ihn erneut durch ihre Tränen und ihre betroffenen Worte, um ihn zu schonen, wie sie meinte, denn er hatte die Rolle des sensibleren von ihnen beiden übernommen“.
Auch zu Sharon, der Putzfrau ohne Papiere, hat Me Susane ein ominös zwiespältiges Verhältnis. „Me Susane spürte von Anfang an, dass Sharon auf obskure Weise eine zutiefst verworfene Frau in ihr sah — einen Morast.
Und das hasste Me Susane an Sharon.
Me Susane fühlte sich dessen, was Sharons schlichte Intuition ihr unterstellte, so unschuldig, wie es die anmutigen, liebenswürdigen, erlesenen Kinder waren, auf deren Schultern Sharon demonstrativ ihren schützenden, puritanischen Arm gesenkt hatte.
Dieser Arm war es, so dachte Me Susane zornig, das erbauliche Gewicht dieses Armes war es, was das ehrliche Herz der Kinder verdarb.“ Der Kontrast lässt sich nicht auflösen, verworfen steht neben liebenswürdig, ehrlich neben verdorben. Me Susane wird ihren rivalisierenden Gefühlen nicht Herr, sie ist von ihnen abhängig.
„Sie fühlte sich stolz, auch wenn sie tief verletzt war. Da sie sich jedoch bewusst war, verletzt zu sein, verspürte sie darüber keine Scham.“
Eines Tages besucht Herr Principaux die Anwältin und bittet sie, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen. Marlyne Principaux hat ihre drei Kinder in der Badewanne ertränkt.
»Das hatte ich nicht vorhergesehen, ich wollte ihm doch nichts Böses tun, ich wollte niemandem etwas Böses tun, vor allem nicht meinem geliebten Kind!«, würde Marlyne voller Verzweiflung sagen, als sie sich an die Szene erinnerte.
Allen, die sie hörten, würde es unzweifelhaft erscheinen, dass sie sich bemüht hatte, diese drei Kinder, von denen sie versicherte, dass sie sie über alles liebte, nicht mehr leiden zu lassen als nötig (da für sie klar war, dass sie sterben mussten). (…)
Von welcher Natur war diese Tat?
Allein der Hass, sagte sich Me Susane, kann es jemandem erträglich machen, solche Gräuel zu begehen.
Denn Marlyne, das musste man sich klarmachen, hatte ihren drei Kindern Folterqualen zugefügt, nicht wahr?
Me Susane fühlte sich zutiefst aufgewühlt.
Me Susane besucht Marlyne Principaux im Gefängnis. Sie merkt, dass sie die Frau hasst und sich – gerade deshalb, weil sie in ihr eine gleich Bedauernswerte sieht, zu ihr hingezogen fühlt. Marlyne Principaux verliert sich in einem langen Monolog in ihren Gefühlen. „(Me Susane hatte die Hände in einer entschiedenen, freundschaftlichen Geste über den Tisch hinweg auf Marlynes Schultern gelegt, sie hatte durch den weichen Stoff des Sweatshirts hindurch die angespannten Muskeln dieser Frau gedrückt, die ihr Schrecken und Abscheu einflößte.“
Aber es ist Monsieur Principaux, den ich in seinem schmutzigen Badewasser hätte ertränken sollen. Stattdessen habe ich ihn von einer Last befreit, aber ja. Aber das ist nicht das, was ich wollte. Aber Monsieur Principaux ist zu einer tragischen Figur geworden, oder? Aber das ist nicht das, was ich wollte. Aber er sagt mir, dass wir danach wieder zusammen sein werden.
Me … Me Susane, Verzeihung, aber sagen Sie ihm bitte, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will, weder jetzt noch danach. Aber sagen Sie ihm, dass ich ihn hasse. Aber sagen ie ihm, dass …«
In Lëila Slimanis „Dann schlaf auch du“ tötet die Kinderfrau Louise die ihr anvertrauten Kinder. Auch hier geht es um den “erweiterten Suizid“, die „Tötung aus Liebe“. „Der erweiterte Suizid geschieht im Grunde genommen aus reiner Liebe. Dabei meine ich (…) vor allem Mütter, die ihre Kinder und sich selbst töten.“ (Andreas Marneros, ZEIT) Die Frau fühlt sich unterlegen, minderwertig, glaubt, den körperlichen und sozialen Ansprüchen nicht zu genügen.
Bei Slimani liegen die Gründe in den sozialen Verhältnissen, bei Ndiaye spielen diese auch eine Rolle, doch wird das übertüncht von den aus dem Ruder laufenden Emotionen. Der Roman verstrickt sich in den Obsessionen der Figuren und wird spätestens ab der Mitte für mich zäh, uninteressant. Das Erzählen verplempert sich in Wiederholungen, neu auftauchenden Figuren (wie das Kind Lila), Abschweifungen (wie die Reise Me Susanes nach Afrika, vorgeblich um Sharons Papiere zu besorgen). „Die Rache ist mein“ seziert nicht die Gesellschaft, er vertieft sich in subjektive Psychosen, die nicht durch den Arm-Reich-Gegensatz geschaffen werden, die aber ein Korrelat zu sozialen Problemen werden können. Eine „Krankengeschichte moderner Subjektivität“, einen „Psychoirrgarten“ liest Jörg Plath (Deutschlandfunk Kultur). Der Kindermord gerät immer wieder aus dem Blick, die Rache ist vielfach motiviert. „Keine der Figuren lädt zur Identifikation ein, alle sind voller Schatten und Geheimnisse, immer häufiger verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Halluzination und Wahn. So wie die äußere Welt von Nebel, Glatteis und arktischer Kälte bestimmt ist – Dunst, Nebel, Kälte, Eis sind die am häufigsten vorkommenden Wörter –, so sind die Beziehungen der Personen untereinander bestimmt von Heuchelei, Feindseligkeit und Hass. (…) Marie NDiaye ist eine Meisterin des Suspense, der Spannung, der Zweideutigkeit. Ihre Figuren sind ohne inneren Kompass, ihre äußeren Konturen zerfließen, der Leser bleibt ratlos zurück.“ (Barbara Machui, Der Standard) Auch die Erzählung selbst „zerfließt“. Mein letzter Roman von Marie Ndiaye.
2021 – 235 Seiten

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
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