Alice Zeniter:
Kurz vor dem Vergessen

Ein Schriftsteller hatte, in Francks Augen, die Aufgabe, seine Vorstellungskraft in den Dienst einer Vergrößerung der Welt zu stellen, statt sich darauf zu kaprizieren, sie zu verkleinern. Nun vermittelte ihm Donnell jedoch immer den Eindruck, eine Welt zu beschreiben, die er aus allzu großer Nähe gesehen hatte und ohne Liebe. Er schrieb wie ein kurzsichtiger Depressiver.
Der Roman spielt auf einer Insel auf den Hebriden, im Westen Schottlands, einsam im Atlantik. Dorthin hat sich der Dichter Galwin Donnell zurückgezogen, der aber als verschollen gilt. „Über zwanzig Jahre nach seinem Tod thronte Galwin Donnell noch immer an der Spitze der Welt der Kriminalliteratur und der Buchverkäufe, mit der gleichen Arroganz, dem gleichen unverschämten Vorsprung vor seinen Kollegen wie zu Lebzeiten. Tatsächlich hatte er gut daran getan zu sterben.“ Émilie hat zu ihm geforscht und organisiert dieses Jahr das Donnell-Kolloquium, zu dem sich Professoren und Studenten versammeln und das – selbstverständlich – auf dieser Insel stattfindet: Mirhalay.
Mirhalay war eine dunkle Schliere mitten im Wasser. Die Insel löste sich wie ein dicker grauer Pfannkuchen aus dem Meer, am höchsten Punkt von Gräsern überzuckert. Die Sonne brach an einigen Stellen schwach durch den Wolkenschleier, und das Licht zeichnete goldene Punkte auf die Kuppel, äußerst sanfte Fingerabdrücke, die sich im Wind bewegten.(…)
Wenn man von fern den Blick darüber schweifen ließ, zeigte sich die Insel zugleich bedrohlich und winzig, wie ein Modell ihrer selbst, das man für einen Piratenfilm gebaut und dann dort vergessen hatte. Ihre Geschichte war eine lange Abfolge des Vergessenwerdens.
Bewohner, die fortgegangen waren und vergessen hatten zurückzukehren.
Eine Insel ist wie ein geschlossener Raum, da der Zugang und auch das Verlassen durch die Klippen schwer möglich ist. Wer da ist, ist da und gerät gegebenenfalls sofort in Verdacht. Alice Zeniter entwirft damit den Raum und die Personen, die mit der Situation, mit sich selbst und mit dem mystifizierten Galwin Donnell ins Reine kommen müssen. auf der Gedenktafel an der Rückwand der Inselkapelle steht, er sei „Misanthrop, Eremit & Schriftsteller“ gewesen. Gerade sein in Vermutungen versunkenes Verschwinden macht einen Macho wie ihn zum umstrittenen und deshalb fesselnden Objekt der Investigationen. Was ist der Grund seines Verschwindens – Mord? Selbstmord? Identitätswechsel? – Und was lässt sich über seine Frauen sagen? Für Frauen habe Galwin Donnell nur ein „vollkommenes und beängstigendes Unverständnis“ resümiert Émilie in ihrem Vortrag. Dennoch scharten sich manche um ihn. Der Inselverwalter Jock könnte mehr wissen oder ahnen.
Immer mehr stellt sich heraus, dass das Fabelwesen Galwin Donnell zwar Anlass des Kolloquiums ist, dass es aber daneben bzw. davor eine Insel-Agenda gibt, dass sich auch in der Gegenwart ein Ambiente des Verschwindens bildet. Émilie findet außer an ihrer Doktorarbeit auch Interesse an Professor Stafford. Franck, vielleicht noch ihr Ex-Partner, ist ihr auf Mirhalay nachgereist. Seine Reminiszenzen stoßen aber nur ins Leere. „Dass just in dem Moment auch Franck, Émilies Lebenspartner, aus Paris anreist, passt schlecht und bringt die Paarbeziehung in Schieflage. Franck hat nur die Nähe zu Émilie im Kopf, diese hat als Organisatorin des Treffens den Kopf aber anderswo.“ (Joseph Hanimann, SZ)
Es war vorbei. Er sah es deutlich. Er konnte es formulieren. Nicht: Sie hat mich verlassen, sondern: Es ist vorbei. Denn er hatte sie ebenfalls verlassen, letzten Endes, indem er sich lieber versteckt, sich zu Jock geflüchtet hatte, statt mit ihr über das Vorgefallene zu sprechen.
Er hatte sie verlassen, indem er sie um ein Kind bat. Sie hatte ihn verlassen, indem sie antwortete: Doktorarbeit. Er hatte sie verlassen, indem er nicht zu ihrem Vortrag kam. Sie hatte ihn verlassen, indem sie die Stelle in Cambridge annahm. All ihre Momente in letzter Zeit waren eine Abfolge winziger Trennungen gewesen, die sie angeblich nicht hatten deuten können. Das machte die Dinge nicht einfacher. Vielleicht wurden sie dadurch sogar noch hässlicher. Doch ab jetzt konnte er sie benennen.
Sie kam an den Tisch zurück, stellte einen Teller vor ihn hin, und er begann, langsam zu essen, die Augen auf das Fleischragout geheftet, unfähig, die Frau anzusehen, die er liebte, von der er geglaubt hatte, sie für immer zu lieben, und die er bereits jetzt, in erstaunlichem Tempo, nicht mehr zu lieben begann.
Er hatte seine Mahlzeit noch nicht beendet, als sie die Schreie hörten. (…)
Die Liebesgeschichte ist höchst einseitig: Die rational praktische Émilie, die Frau, lässt Franck innerlich leer und hilf- und planlos zurück. Alice Zeniter spielt mit der eigenen Fiktion. Sie legt Franck philosophische Spekulationen in den Kopf, mit denen er das Vergessen zu fassen sucht und schließt damit die „Liebe“ kurz mit dem Taumel der Natur auf der abgeschiedenen Insel und dem undurchsichtigen Entschwinden des Dichters.
Die objektive Welt existiert nicht. Wir erproben dort lediglich eine Abfolge persönlicher Wahrnehmungen. Und wenn das Ich so stark angegriffen ist, dass es nicht länger wahrnehmen kann, dann ist es die Welt, die zusammenstürzt. Das ist kein Sinnbild. Es gibt nicht auf der einen Seite einen Menschen mit gebrochenem Herzen, der glaubt, nicht begreifen zu können, wie ihm geschieht, und auf der anderen Seite eine objektive, ganz wirkliche Welt, die darauf wartet, dass er wieder zur Ruhe kommt, um ihm zu zeigen, dass sie immer noch da ist, um zu flüstern: »Siehst du, alles ist gut. Ich bin’s, die Welt. Ich war während deines Taumels immerzu an deiner Seite.« Nein. Im Moment der Detonation verschwindet die gesamte Welt, weil es keine Instanzen gibt, die sie erfassen könnten.
Alice Zeniter zieht mit freundlicher Gelassenheit über den Literaturwissenschaftsbetrieb her. „Da war Solange Théveneau, Professorin der Komparatistik an der Sorbonne, die vor allem auf afrikanische Literaturen spezialisiert war, sich aber auch für die Thematik innerer Dämonen und für das Exorzismusvokabular bei Galwin Donnell interessierte. (…) Da war Judith Maroon, Professorin der Gender Studies, knallige Halbrandbrille und altersloses Gesicht, die ihrem Tischnachbarn, Markus Mann, vom Vormarsch der Transidentität und dem Rückzug des Feminismus erzählte. Mann war ein Kriminologe aus Berlin, den sein Bauch in einigem Abstand zum Tisch hielt.“ Und alle spüren sie einem verschollenen kauzigen Krimischreiber nach. Und vielleicht auch anderen Objekten. Eine Insel ist dafür der perfekte Schauplatz. „Eine von Humor und Witz durchblitzte sanfte Traurigkeit schwebt über diesem Buch.“ (Joseph Hanimann) Magie und Ironie stehen sich manchmal ein wenig im Weg.
2015 – 320 Seiten
Alice Zeniter – Juste avant l’oubli (4:30 – französisch)

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