Nachrichten vom Höllenhund


Schulman
1. November 2022, 16:32
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Alex Schulman:
Die Überlebenden

Der Vollmond schien zwischen den Stämmen, und ein Wind kam auf, das Laub raschelte. Benjamin trat einen Schritt zurück, und als die Blätter sich entzündeten, musste er die Augen abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Der Funkenregen fiel über die dunkle Landzunge, wie ein Lauffeuer breitete sich der Silberbrand in den Bäumen aus.

Benjamin und seine Brüder. Nils, der ältere, Pierre jünger, Benjamin ist der Chronist, die Figur. Die beobachtet wird und im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Die Familie lebt in der Stadtwohnung, wichtiger aber ist das Sommerhaus, an Wald und See. „Sie sind auf der anderen Seite des Landes, fahren tiefer und tiefer in die Wälder hinein, und sie reden weniger und weniger, und als sie schließlich von der Landstraße abfahren, verstummen sie ganz. Jetzt geht es wieder durch das Wurmloch.“ Die Brüder streiten, raufen, fühlen sich als Einheit.

Sie konnten einander nicht helfen, und so ist es schon immer gewesen, seit sie erwachsen sind. Keiner von ihnen weiß, wie man sich in die Augen sieht, ihre Gespräche finden mit gesenktem Blick statt. Schnelle, stoßweise Kommunikation.  Manchmal denkt er an alles, was sie durchgemacht haben, wie sie sich in der Kindheit aneinandergeschmiegt haben, und wie seltsam jetzt alles ist; sie benehmen sich ja wie Fremde. Er ist überzeugt, dass es nicht nur an ihm liegt, es liegt an ihnen allen.

Die Söhne müssen ihre Zusammengehörigkeit und ihre Selbstbestätigung nicht zuletzt gegen die Eltern und dabei vor allem gegen die Mutter behaupten. Die Mutter stellt sich als eher abweisende Person dar, sie kann ihre Liebe nicht in Zuwendung zeigen, bestraft unüberlegt, zieht sich zum Rauchen und Trinken zurück. Erst nach ihrem Tod dürfen die Brüder ihren Brief lesen, in dem sie ihr Verhalten begründet.

Benjamin. Die schwerste Last hattest Du zu tragen. Vor allem um Dich tut es mir leid. Ich habe Dir nie Vorwürfe gemacht, niemals. Doch genau das konnte ich Dir nie sagen. Wenn ich Dir aus meinem Schweigen in all den Jahren nur eins vermitteln könnte, so wäre es dies: Es war nicht Deine Schuld.

Wenn wir uns treffen, schaue ich Dich manchmal an. Du stehst immer ein wenig abseits, gern in einer Ecke, und beobachtest die anderen. Du bist immer derjenige gewesen, der beobachtet, und du versuchst noch immer, Verantwortung für alle anderen zu übernehmen. Manchmal frage ich mich, was wohl aus Dir geworden wäre, wenn das alles nicht passiert wäre.

Die brüchigen Beziehungen der Personen werden nicht ausgesprochen, sie schweigen wie die Natur, die Fichten, der See, evozieren den Wunsch zusammenzugehören trotz der Geheimnisse.

Er wusste, dass Nils‘ Abreise bedeutete, dass etwas endgültig zu Bruch gehen würde.  Denn wie sollte es ihm gelingen, die Familie zu reparieren, wenn einer von ihnen verschwand? Er wusste auch, dass Nils‘ Abreise eine Gefahr für ihn selbst darstellte. Wenn Nils verschwand, verschwand jemand aus der Wirklichkeit, eine Hand auf seiner Schulter, die ihn am Platz hielt. Dann war da einer weniger, der Benjamin versichern konnte, dass es diese Familie gab, und dass es ihn gab. Jemand, mit dem er über den Abendbrottisch einen Blick wechseln konnte, der ihm stumm bestätigte: Du existierst. Und das hier ist passiert.Stumm.

Alex Schulman macht das geschickt. Baut Atmosphäre auf, drohend, aufdringlich, die Abgründe der nordischen Natur, die auch die Menschen hineinziehen. „Schulman legt die Unfähigkeit der Erwachsenen wie die Ängste der Kinder in allen Nuancen offen.“ (Werner Bartens, SZ) Aber es wirkt immer stärker wie eine artifizielle Anordnung. „Genial gestrickt“, 3SAT Buchzeit), doch es geht nicht auf. Schulman hat sich so sehr in die Geheimnisse und Effekte verloren, dass er triviale Tricks braucht, um sich – und den Leser – wieder herauszuziehen. Benjamin muss ganz am Ende zur Therapeutin, die den Knoten in wenigen Sitzungen löst, die andeutet, was Benjamin verdrängt und was ich als Leser kaum mitbekomme. Dass Benjamin mehrere maskierte Suizidversuche unternahm, dass da im Trafohäuschen etwas anderes geschah, als die Erinnerung festhalten wollte. Erst jetzt kann die Mutter erlöst sterben.

Aber ich habe einen letzten Wunsch: Bringt mich zum Sommerhaus zurück. Verstreut meine Asche unten am See. Ich möchte nicht, dass Ihr es für mich tut — ich weiß, dass ich jedes Recht verwirkt habe, Euch um irgendetwas zu bitten. Ich möchte, dass Ihr es um Euretwillen tut. Setzt Euch ins Auto, nehmt die längere Strecke. So möchte ich Euch sehen:  zusammen. In den vielen Stunden im Auto, in der Einsamkeit unten am See, abends in der Sauna, wenn es nur Euch gibt und niemand anderes zuhört. Ich möchte, dass Ihr tut, was wir nie getan haben: dass Ihr miteinander redet.

Alex Schulman erzählt abwechselnd in der Chronologie der Vergangenheit und im Präsens des Rückblicks. Die Jetztzeit dauert einen Tag, der im 2-Stunden-Takt rückwärts verläuft. Das letzte Kapitel heißt „0 Uhr“.

Benjamin nimmt einen Zug und gibt sie dann weiter an Nils. Pierre lacht auf. Nils‘ sanftes Lächeln im spärlichen Licht. Sie lassen die Zigarette reihumgehen und   sehen einander an, und sie brauchen jetzt nicht zu sprechen, ein kurzes Nicken genügt, oder auch nur die Andeutung eines Nickens. Sie wissen es, sie tragen sie in sich, als hätten sie sie bereits unternommen: Die Reise, die sie zum Einschlagpunkt zurückbringen wird, rückwärts in ihrer Geschichte, Schritt für Schritt, um ein letztes Mal zu überleben.

2020 – 300 Seiten

2-

Leseprobe bei dtv


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