Nachrichten vom Höllenhund


Poladjan
7. November 2022, 18:43
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Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

Играем — Igraem – „Lasst uns spielen“ – Das Motto für den Roman

Spielen heißt nicht, nicht ernst zu sein.  Spielen heißt, trotz des Ernstes nicht zu verzagen, spielen heißt, Musik zu machen, auch wenn man keine Gitarre hat. „Am Abend würde sie ein Konzert in ihrer Küche geben, ein Kwartirnik, sie allein mit der Gitarre vor zehn, vielleicht zwanzig Leuten. Wenn so viele kämen, würde es eng werden, und noch immer hatte sie kein anständiges Instrument.“ Wenn in der UdSSR der Trauermarsch von Chopin (3. Satz der Klaviersonate Nr. 3 op. 35) im Radio zu hören war, wusste man, dass einer (nie: eine!) von ganz oben gestorben war.

„Im hinteren Teil der Wohnung wurde ein Radio eingeschaltet, es erklangen die letzten Takte von Chopins Trauermarsch, dann intonierte ein Chor: Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin. Das Radio wurde wieder ausgeschaltet.
Es ist ja nicht zu überhören, dass in Moskau schon wieder einer gestorben ist, bemerkte Maria Nikolajewna.
Und wer ist gestorben? Sie spielen Chopin.
Der verehrte Matwej Alexandrowitsch vermutet –
Solange nichts offiziell verlautbart ist, vermute ich gar nichts! rief Matwej Alexandrowitsch mit ungewöhnlicher Heftigkeit.
Wer auch immer gestorben ist, beschwichtigte Maria Nikolajewna*, ich muss mich jetzt fertig machen. Bis später.“

Die „Zukunftsmusik“ spielt nur an einem einzelnen Tag: dem 11. März 1985. „Es war ein Morgen, an dem zwar der Trauermarsch aus allen Lautsprechern drang, und doch lag die Hoffnung auf etwas Neues in der Luft.“ Die Bewohner der Kommunalka sprechen es nicht aus, aber an diesemTag, einen Tag nach dem Tod des sowjetischen Staats- und Parteichefs Konstantin U. Tschernenko wird Michail S. Gorbatschow in Moskau zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt. „Sagen Sie, verehrter Matwej Alexandrowitsch, Warwara Michailowna sprach so leise, dass er sich zu ihr beugen musste, ich nehme an, dass Sie in Kenntnis sind, was uns erwartet?

   Uns? Sie meinen die Bürger unseres Landes? 
  Sehr richtig, die Bürger unseres Landes. Oder von mir aus auch nur unsere kleine Schicksalsgemeinschaft hier.
Was erwartet uns?
   Nun, es ehrt mich, und es schmeichelt mir, dass Sie bei mir ein höheres Wissen vermuten. Was wünschen Sie uns denn, Warwara Michailowna?
   Warwara   Michailowna sah Matwej Alexandrowitsch an und lächelte.


Die Kommunalka – „unsere kleine Schicksalsgemeinschaft“ – ist eine Wohnform, in der mehrere Personen/Familien in einer ehemaligen herrschaftlichen Großwohnung zusammen leben. Jede Person hat nur wenige Quadratmeter Wohnraum, Küche, Bad und Toilette werden gemeinsam benutzt. „Privat“ sind nur der Herd und der Esstisch, der allerdings exakt die gleiche Größe haben muss wie die Tische der anderen. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen, denn die Belegung der Kommunalka wird nicht von den Bewohnern bestimmt, Individualität hat einen schweren Stand, ist aber auch vom System nicht erwünscht.

In der Roman-Kommunalka leben sechs „Parteien“, vom Imgenieur Matwej Alexandrowitsch, der allerlei in kleinen Kästchen für die Zukunft aufbewahrt, von dem er sich noch Nutzen in der Zukunft verspricht: „Fotografien 1935-1975, Knöpfe, Zähne, Bindfaden, Insekten, Schnipsel aus Papier und Stoff, Stifte, Gummibänder,   Weihrauch,  Nägel, Bonbons,  Vitamine, Gewürznelken,   Muschelschalen,  Zeitungsausschnitte, Liebe, Theaterkarten, Troilit, Bahnfahrkarten, Watte, Gedichte, Rinde, Murmeln i. versch. Größen, Kabel.“ In einem Zimmer wohnen vier Generationen einer Familie: Großmutter Warwara Michailowna hilft als pensionierte Hebamme im Krankenhaus aus, Mutter Maria Nikolajewna arbeitet im Museum für Natur- und Völkerkunde. Matwej Alexandrowitsch sucht sie dort auf.

Wir müssen die jungen Leute in ihren musikalischen Ambitionen unterstützen, meinen Sie nicht?
  Ganz   und gar nicht. Es ist keine Musik. Es ist böse.  Maria Nikolajewna lachte hell auf. Sie sind wirklich drollig. Was ist denn daran böse? Erinnern Sie sich an Ihre eigene Jugend!
Lieber nicht.
   Sie haben recht. Wir hatten keine gute Jugend.  Andererseits ist die Jugend immer schön. Wir haben geküsst, und wir haben getanzt, und alles schien möglich. Die Zukunft hatte Zeit.
   Nein, ich erinnere mich nicht.
   Das ist sehr schade. Ich erinnere mich. 

Janka, die Tochter von Maria Nikolajewna, arbeitet nachts in einer Glühbirnenfabrik, sie schreibt Songs und will sie am Abend im „Kwartirnik“ vortragen. IhreTochter Kroschka (dt. Brösel) ist vier, Janka hat an diesem Tag nicht viel Zeit für sie. Man hätte sich viel zu sagen, hat sich das meiste auch schon gesagt, traut sich aber nicht laut zu sein, wer weiß, wer aller mithört. Alltag in der Sowjetgesellschaft.

Ich bewundere Sie, Matwej.
  Wofür   bewundern Sie mich, Verehrteste?
  Ich bewundere Sie dafür, dass Sie das Leben — unser Leben hier — nicht hinterfragen. Aus vollem Herzen singen Sie die Lieder der Partei, aus vollem Herzen halten Sie an der großen Idee fest.
   Tun Sie das denn nicht?
  Soll ich Ihnen diese Frage ehrlich beantworten?
  Wovor   haben Sie Angst?
  Ich fürchte mich vor so vielem, ein ganzes Lexikon der Angst könnte ich schreiben. Die Ängste gehen ineinander über und bilden einen allumfassenden Schrecken.
   Jetzt übertreiben Sie aber, liebe Maria Nikolajewna.
   Vielleicht ein wenig, aber ich bin nicht der Mensch, der sich durchsetzt. Ich mache kleine Schritte. Vielleicht ist das ein Fehler, aber so habe ich es immer gemacht.
   Es ist bestimmt kein Fehler.
   Ich wäge meine Schritte ab. So kann ich meine Ängste in Zaum halten.

Der Roman ist voller Anspielungen auf die Sowjetgesellschaft. Die Zeitenwende versteckt sich in den kleinen Nischen des Alltags. Niemand weiß etwas, der Leser kann auf die Suche gehen, möchte die Personen anstupsen. Der Trauermarsch kündigt sich als Zukunftsmusik an. „Und zwischendurch verbeugt sich die Autorin mit phantastischen und absurden Schlenkern vor Satirikern wie Gogol, wenn etwa Leute das Fenster öffnen und einfach davonfliegen aus der bedrängenden sowjetischen Enge. Am Schluss stürmen alle aus der Wohnung, denn das sowjetische Haus wird abgerissen, oder vielleicht auch nur umgebaut. „So genau weiß das niemand.“ Bis heute wissen wir das ja nicht so genau.“ (Sigrid Löffler, Deutschlandfunk) Играем — Igraem – „Lasst uns spielen“.

2022 – 190 Seiten

* In Russland haben auch die Frauen „Vatersnamen

2

Gespräch mit Katerina Poladjan in „Druckfrisch“ (9 Minuten)

Kommunalka

Google-Suche: Bilder zu Kommunalka

Kwartirniki: Wie man mit Russen eine Hausparty schmeißt


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