Sasha Filipenko: Die Jagd

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren, er schreibt auf Russisch. 2020 musste er mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz. „Die Jagd“ handelt von einem Journalisten, der zum Verlassen seines Landes gedrängt werden soll. Der Roman ist „musikalisch“ komponiert in Sonatenform, mit Hauptsatz, Seitensätzen, Reprisen und Coda sowie Pausen. Das ist ein Kunstgriff, der den Text portioniert, episodenhaft ausbreitet, seine Struktur in der Verschränkung aber nicht einfacher durchschaubar macht. Man braucht beim Lesen oft viele Seiten, um sich das Gefüge der Komposition zu erschließen. Bei diesem Roman ging’s mir überdies so, dass ich erst nach einem Drittel der Seiten erfasste, was hier „gejagt“ wurde. „Aus den Stimmen von Jägern und Gejagtem setzt sich die Geschichte einer Menschenjagd mit fatalen Folgen zusammen.“ (Klappentext) Die Verfolgung wird in Sonatenart umspielt und aus den „Stimmen“ kristallisiert sich erst auf Seite 149 das Halali der Jagd heraus: »Wir machen ihm das Leben zur Hölle!«
»Gibst du ihm einen zweiten russischen Pass, oder was?« »Nein, im Ernst! Wenn wir wollen, dass er auswandert, dann müssen wir nur dafür sorgen, dass sein Leben hier unerträglich wird.«
»Willst du dafür sorgen, dass er ständig ins öffentliche Krankenhaus muss?«
»Ich weiß noch nicht, geben Sie mir ein paar Tage!«PAUSE
Die Jagd auf Anton Quint ist eröffnet. Quint ist Journalist, ist jung, ist ethisch motiviert und er „enthüllt“, was er für verwerflich hält, etwa die skrupellosen Machenschaften des Oligarchen Wolodja Slawin. („Wladimir Slawin scheint das System Putin zu symbolisieren. Das geradezu klischeehafte Dolce Vita der Familie von „Onkel Wolodja“, Kerstin Holm , FAZ) Solche ‚Verräter und Saboteure‘ sind in Russland (und auch in Belarus) nicht gerne gesehen und so beschließen die enthüllten Bonzen und ihre Hinter- und Nebenmänner aus Journaille, Wirtschaft und Politik, Anton Quint fertigzumachen. Das heißt zunächst: ihn außer Landes zu vertreiben. (Was in besagten Ländern eine eher humane Bestrafung ist.) Allerdings sind die eingesetzten Mittel in eigentlicher Banalität brutal, die Hatz ist im Roman zentrales und breit geschildertes Thema.
Um das Opfer in die gewünschte Richtung – den Wahnsinn – zu treiben -, muss der Druck überrumpelnd, aber moderat beginnen und dann erhöht werden. „Wir steigerten den Druck. Poco a poco. Von piano zu forte, jeden Tag mehr.“ Ich als Leser darf – oder muss – mich auf der Seite der Jäger einfinden. Es ist ja einer der ihren, der erzählt. Auf der einen Seite steht die beschworene Bewunderung über die Raffinesse der Hatz. Dazu gesellt sich das Überlegenheitsgefühl, weil sich die Quäler so abgefeimter – wie abgedroschener – Methoden bedienen. Ich bin ja unmittelbar an der Besprechung der Erfolge, auch der Schwierigkeiten, auch der angedeuteten, aber erfolgreich außer Acht gelassenen Skrupel beteiligt.
Was sagst du da von seiner Frau?«
»Ich hab daran gedacht, sie zu vergewaltigen.«
»Spinnst du komplett?!«
»Okay, ich werde sie nicht bumsen. Nur so ein bisschen mit dem Schwanz rummachen, und fertig.«
»Das machst du nicht!«
»Dann vielleicht lieber du?«
»Nein!«
Auf der anderen Seite will ich natürlich auch nicht mit Schuld tragen an der Tortur des Opfers. Sasha Filipenko legt dieses Wechselspiel im Leser nicht ungeschickt an. Dennoch wirkt das Hinschreiben auf die „Kulmination“ absehbar. Es ist klar, wer gewinnt, und es ist klar, dass dem „Sieger“ jede Legitimation fehlt, dass er nur für den eigenen Vorteil und sein eigenes Überleben agiert.
Der dritte große Teil der Sonate. Bleibt nur zu hoffen, dass Sie bereit sind …‘
Wir können nun zur Kulmination übergehen. Kindheit, Schule, Vaters Tod. Umzug in einen neuen Wohnblock, Arbeit, Ehe. Wir sind endlich hier, am Zenit, angekommen. Der Höhepunkt der Sonate, der Gipfel der Spannung.
Gerade noch hatten wir naiv angenommen, dass alles gut ausgehen würde. Oder nein, eigentlich nicht. Wenn ich ehrlich bin, habe ich über die Konsequenzen gar nicht groß nachgedacht. Es kommt, wie es kommen muss, dachte ich.
Der Kern des Romans ist- das verheißt schon der Titel: Trawlja (Die Hetzjagd ist ein grausames Spektakel, bei dem Hunde auf einen angebundenen Bären losgelassen werden und ihn am Ende zerfetzen.) – die Menschenjagd. Filipenko beschreibt vergnüglich-maliziös das Grauen in seinen Eskalationsstufen. Es beginnt mit der verklebten Wohnungstür, verfällt auf die Angst vor Hunden (!), beschallt mit dröhnender Musik die Wohnung Quints, diskutiert die Vergewaltigung der Frau („Ob es dir gefällt oder nicht, du musst es dulden, meine Schöne“, V. Putin) und streut das Gerücht der Pädophilie des Gejagten. Damit ist nicht das politische System erklärt, aber ein Aspekt des „System Putin, das uns nun auch außenpolitisch als brutalst-möglicher kriegerischer Aggressor vor Augen tritt, mit seiner systematischen Zerstörung allen zivilgesellschaftlichen Lebens, insbesondere der Pressefreiheit. Der Roman kreist um einen Investigativjournalisten (wie in Realität Alexej Nawalnyi oder Juri Dmitrijewdem) auf Oligarchenjagd, der schließlich selbst zur Beute wird.“ (Dieter Bach) „Diese ewige Infantilität, auch die der russischen Intelligenzija, fing nicht erst jetzt an. Es handelt sich um den Unwillen, ein Problem zu sehen, den Unwillen, Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube, dass Leben deshalb es in Russland auch in den 1990er-Jahren nicht gelungen ist, etwas zu verändern, und auch in den 2000ern nicht mit den Protesten. Erinnern Sie sich noch, wie es damals die ganze Zeit „nur ohne Gewalt, nur ohne Blutvergießen“ hieß? Das Ergebnis ist totale Gewalt und schreckliches Blutvergießen.“ (Wladimir Sorokin)
Sasha Filipenko bereitet die Hetzjagd in vielen Sätzen vor, er skizziert das System, das sich selbst in Aporien versenkt, aus dem es nur gewaltaffine Auswege bieten kann. Im zweiten Teil, der Aufführung der „Jagd“, gewinnen die Ereignisse Rasanz, drängen sich selbst voran, wobei das Interessante nicht die Action ist, sondern Filipenkos Spiel mit trügerischer Sprache und geduldetem Denken, sein Flirren zwischen den Positionen von Opfer und Tätern. „Die Jagd“ ist weniger politischer oder historischer Roman als Drehbuch für einen systemerhellenden, in den vorgestellten Methoden aber doch schon bekannten Film.
2016 – 280 Seiten
Der neue Roman des belarussischen Autors Sasha Filipenko (ARD ttt)

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