Giulia Caminito:
Das Wasser des Sees ist niemals süß

Ich rühre mich nicht und begegne dem Blick des Kindes, das ich war, es blickt mich an aus dem zersprungenen Spiegel im Bad und flüstert mir zu: Es gibt kein Zuhause für den, der kein Herz hat.
Das Zuhause ist oft nicht nur der Ort, wo man sein Herz hat, wo man sich geborgen fühlt, wo man sich sicher ist, dazuzugehören. Das Zuhause ist ein sozialer Platz, die Familie, die Freunde, mögliche Partner, Menschen, die man mag und die einen respektieren.
Gaia, das Mädchen, kämpft sich durch ihre Kindheit, ihre Jugend, die Schule, sie ficht um Freundinnen und Freunde. Sie kämpft, bis sie ihren Eingang ins Leben findet, bis sie die Position findet, in der sie Leben mag. Als sie nahe dran ist, als sie die Tür zu „ihrem“ Leben vor sich sieht, schafft sie es nicht durchzugehen. „Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet … bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Franz Kafka, der „Türsteher … vor dem Gesetz“. Gaia ist ein Mädchen, ein junges, aber wie bei Kafka ist es sie selbst, die sich den „Eintritt“ versagt. Sie kommt nicht „vom Lande“, sie ist in eine soziale Schichte, eine soziale Familienumgebung hineingeboren, aus der sie nicht herausfindet, aus der zu entkommen ihr niemand hilft. Und natürlich hat sie immer Angst vor dem, was eine hinter der Tür erwartet, Angst, den Anforderungen nicht zu genügen, und sie ist wütend auf alle und alles, was einer den entscheidenden Mut nimmt. Wütend also zu allererst auf sich selbst. Dazu kommt die Projektion, deren zentrales Objekt des Abreagierens die Mutter ist. Aber die Wut ist verschoben: Nicht die Mutter wird gehasst, die Person, die sie zum Lernen gedrängt hat, sondern die, die die eigene Schwäche thematisiert.
Ich besitze wenige Dinge, aber diese wenigen werden verhindern, dass ich meiner Mutter ähnlich werde, meiner Mutter, der Übergangenen, der Arbeiterin, der Tellerwäscherin, er mit dem auf dem Flohmarkt gekauften Leinenkostüm, das sie angezogen hat, um zu scheinen, was sie nicht ist. Ich muss schnellstmöglich aufhören, das fehlerhafte Kind zu sein, und mich in eine Frau verwandeln, in die man sich verlieben kann. Diese Verwandlung kitzelt und lockt mich, ich stürze mich kopfüber in den krankhaften Wettbewerb der Körper und Blicke.
Sie sorgt dafür, dass ich mich ungenügend fühle, gescheitert, gefallen, mich fühle wie ein zerbrochenes Getriebe, eine um sechs Uhr früh stehengebliebene Pendeluhr, wenn es mittlerweile tiefe Nacht ist: von der Rolle, blöde, ich weiß nicht, wo ich suchen soll, ich weiß nicht, wen ich fragen soll, wie ich mich arrangiere, warum ich mich nicht arrangieren kann, ich kann nur darauf warten, dass meine Mutter die Dinge arrangiert.
Mein Leben ist nicht ihr Leben, mein Leben ist meins, mein Leben steht mir zu, ich baue es auf, und ich zerstöre es, da reagiere ich, wie eine Marionette, die mitsamt dem Plankton vom Wal verschluckt wird, springe ich auf und strample, um ins Meer zurückzukehren, aufzutauchen, auf Sicht zu navigieren, ich werde dieser Behauptung nicht zum Fraß vorgeworfen werden, ich werde nicht in ihren Schlund aus Lauten und Sätzen fallen. Wutentbrannt sehe ich sie an und stehe vom Stuhl auf, als ob mich etwas zwischen den Schenkeln gestochen hätte, das Stechen steigt hoch und kriecht in die Unterhosen, ich spanne die Pobacken an und versuche es zu vertreiben, aber dieses unangenehme Gefühl ist schon in meinem Innern, baut ein Wespennest: unser Leben, unsere Situation, unser Dach, unser Geschirr, unsere Zukunft, unser Einkauf fürs Mittagessen, unser Geld, das fehlt.
Mein Leben ist nicht dein Leben, brülle ich lauthals, ich brülle aus meinem tiefsten Innern, aus meinem kleinen Ich, aus den feuchten Eingeweiden, und ich spüre, wie unser Boden sich auftut, Bäume abstürzen — Erdrutsche und Krachen —, mein Gesicht ist warm, die Haare elektrisch geladen, die Beine kribbeln, und da ist ein Wesen in mir, ein wütendes, niederträchtiges, das keine Selbstbeherrschung mehr erträgt.
„Das Wasser des Sees ist niemals süß“ ist ein eindringlicher Roman über soziale Zugehörigkeit und – natürlich nicht nur – daraus resultierend psychische Deformationen. Gaias Familie lebt beengt in einer Kellerwohnung in Rom. Sie können die Wohnung gegen eine größere in einem „besseren“ Viertel tauschen und ziehen dann in eine Sozialwohnung in Anguillara Sabazia am Lago di Bracciano. Der Vater verbringt seit einem Arbeitsunfall sein Leben im Rollstuhl, der ältere anarchistische Bruder Mariano zieht bald aus, die kleinen angepassten Zwillinge – „und die Mutter Antonia, die so zupackend wie rücksichtslos alles zusammenhält. Ihre Tochter, blass, sommersprossig, dürr, soll nicht so enden wie sie, Bildung soll der Ausweg für Gaia sein. Doch die erkennt früh, dass Talent und zwanghafter Fleiß nicht ausreichen, um mitzuhalten – wenn man kein liebes Mädchen sein will, den filzstiftgrünen Pullover des Bruders aufträgt und sich kein Handy leisten kann. Konfrontiert mit Herabsetzungen, Leistungsdruck und Orientierungslosigkeit verwandelt sich Gaias stumme Verletzlichkeit in maßlose Wut, die sie zunehmend Grenzen überschreiten lässt“. (Klappentext) Vielleicht hat sich Gaia das falsche Rollenmodell ausgesucht, vielleicht ist sie ein starkes Mädchen, wie wir es noch immer kaum gewohnt sind.
Für Gaia gibt es nur zwei Momente der relativen Zufriedenheit: als sie am Schießstand des Jahrmarkts einen großen rosa Bären gewinnt. „Ich will den Preis, sage ich und strecke die Arme aus. Ich bin bereit, die ganze Welt zu umfassen, das ganze Universum.
Sie dreht sich mühsam um und holt den zwei Meter großen Bären aus der Bude, sie verschwindet hinter ihm, sie weiß nicht, wie sie ihn mir übergeben soll, ich weiß nicht, wie ich ihn annehmen soll, er ist fast doppelt so groß wie ich, er ist eine belebte Figur, ein Koloss. Sie setzt ihn vor mir am Boden ab und sagt: Gratuliere.“ Und bei der Feier ihres Abiturs am See. „Ich hüpfe im Wasser herum und löse die Haare, ich schüttle sie, ich habe straffe Schenkel und zierliche Waden, ich bin blass, und die rote Mähne sieht aus wie ein Blutfleck vor dem Himmel, all diese unerwartete Schönheit fließt in meinen Adern, die Freude, bekommen zu haben, was ich wollte, ohne mich verbiegen zu müssen, ohne mich zu prügeln, ohne zu stoßen und die Ellbogen einzusetzen, jetzt habe ich etwas, womit ich prahlen kann, und die Gewissheit, dass ich gefalle, jedem, der mich ansieht, gefalle ich sehr.“
Doch auch in diese Momente der Euphorie mischt sich das Unvermögen, mit den eigenen Emotionen umzugehen. Das Hochgefühl muss herausgeschrien werden und wirkt in der Übertreibung unecht, verrät die Unsicherheit. „Es ist süß, es ist zuckersüß, dieses Wasser, dieser Sumpf, es hat den Geschmack von Kirschen, von Clementinenmarmelade, von Marshmallows, das Wasser des Sees ist immer süß, brülle ich aus Leibeskräften.
Und noch einmal: Das Wasser des Sees ist immer süß. Brülle ich aus Leibeskräften.
Im Literarischen Quartett des ZDF entwickelt sich ein heftiges Scharmützel zwischen Vea Kaiser, die den Roman vorstellt („ein großartiger Roman“), und Deniz Yücel, Sprecher des PEN Berlin. Yüzel, aufgebracht: „Dieser Roman ist wirklich schlecht … Dieser Roman ist keiner, er erzählt nämlich nicht“. Er zitiert Beispiele, wie ein 15-jähriges Mädchen nicht denkt und redet: „Meine Eltern haben schon seit langer Zeit keinen Sex mehr. Sie sind sich ferner denn je und dabei Partisanen ihrer identischen und doch gegensätzlichen Schmerzen.“ Yüzel: „Das ist manieristisch, das ist gewollt, das ist bemüht.“ Aber hier erzählt kein junges Mädchen, hier erzählt eine Frau, die Philosophie studiert hat, die aus ihrer jetzigen Position zurückblickt, die Verhältnisse überblickt. Das ist die Leistung des Romans: das Springen zwischen Perspektiven, zwischen Zeiten. Der Rückblick weitet sich vom innerfamiliären Gewurschtel über die prä-pubertären rosa Groß-Bären-Abenteuer und die frühen Freund:innen-Geplänkelgymna zu Elementen der Einordnung und sozial-politischen Auseinandersetzungen. Giulia Caminito erzählt viel und detailliert und nahe an den Personen, vieles aus dem all-täglichen Erleben, viele genaue Beobachtungen aus den Körpern, den Wohnungen, aus den Dörfern, vom See. Die große Welt wird karg angedeutet, der Bruder, der sich als Anarchist fühlt und an den G8-Protesten in Genua teilnimmt, 9/11 als Zeitmarke. Gaia steht als Erzählerin außerhalb und fühlt sich doch in die Protagonistin (hin)ein. Ihre Sprache schöpft die Bilder aus dem Empfinden der Person. Diese Ambiguitäten scheint Yüzel nicht zu verstehen. Im Nachwort schreibt die Autorin: „Dies ist keine Biografie, keine Autobiografie und auch keine Autofiktion, es ist eine Geschichte, die sich Bruchstücke vieler Leben einverleibt hat in dem Versuch, aus ihnen eine Erzählung zu machen, die Erzählung jener Jahre, in denen ich aufgewachsen bin, der Schmerzen, die ich nur umschifft habe, und denen, die ich durchlebt habe.“
Was ich jahrelang gemacht habe: mir den Klatsch über den Hausmeister der Schule anhören, der die Schülerinnen angafft, den über die hässlichen schnurrbärtigen Zwillinge, die immer zu zweit unterwegs sind und sich den albanischen Freund teilen, über den Tankstellenwart, der das Benzin mit Wasser streckt und deshalb billiger verkauft, über das Mädchen, das im Ausland Internationales Recht studiert hat, aber Unglück bringt und die Geliebte eines verheirateten Mannes ist, über den Typen, der junge Mädchen schwängert und sie dann sitzenlässt und nicht einmal die Namen seiner Kinder kennt, über die Kellnerin in der Bar, die magersüchtig geworden ist und bei der man schon die Wangenknochen sieht, über die beiden Heranwachsenden, die auf dem Motorroller verunglückt sind, ohne Helm und an einem Regentag, darüber, wie fett die geworden ist, die mal die Schönste im Ort war — du heiratest sie, und dann lassen sie sich gehen, legen am Arsch zehn Kilo zu —, den Klatsch über meine tote Freundin, die sich erstickt hat, sich erstickt hat, die sich erstickt hat, deine Freundin, deine tote Freundin, die sich erstickt hat, immer alles in der Hoffnung, dass nicht ich als nächste dran bin.
Was ich jahrelang gemacht habe: auf Revolutionen warten, auf Lawinen, Kettenreaktionen, die zuletzt meinen Aufstieg bewirken, die Eröffnung unendlicher Möglichkeiten.
Was ich jahrelang gemacht habe: bleiben, wo ich war, selber Ort, selbe Zeit, selbe Rolle, selbes Gesicht, und darauf warten, dass ich volljährig bin, so wie man auf das Eintreten einer Prophezeiung wartet, das Aufziehen eines Sturms, den Fall einer Mauer.

Das Cover zeigt ein entflammtes Zündholz zwischen en Lippen einer Frau, darübermontiert: Tropfen. Dazu noch einmal Yüzel: „Das Cover steht sinnbildlich … Ein Streichholz, das man so hält, wie eine Zigarette, Wasser auf dem Gesicht, aber ein Streichholz mit Wassertropfen!?“ Er sieht die Widersprüchlichkeit, erkennt darin ein „Sinnbild“, versteht aber nicht, dass dieser Antagonismus den Zwiespalt der Person reflektiert, die schnell entzündbare Wut und die moderierende Wirkung des Wassers. Das ist die Normalität des Lebens. (Übrigens: Auf dem Original-Cover sitzt eine junge Frau nachdenklich auf ihrem Bett, die Füße stehen im verschmutzten Seewasser – Fische eingeschlossen, das den Fußboden bedeckt. Ein leichter zu deutendes Symbol, das die soziale Komponente betont.)
Man kann sich über Gaia ärgern. Alle und alles sieht sie gegen sich verschworen. Der soziale Aufstieg, den sie sich erlernen wollte, gelingt nicht, weil sie sich am Schluss das falsche Studienfach wählt, das keine Berufsperspektive öffnet.
Luciano hat keine seiner Aufgaben erfüllt, er ist blass, still, leblos gewesen, er hat mir keinen Glanz verliehen, wenn überhaupt nur sehr selten, er hat meinen Status nicht erhöht, hat mich nicht an seinem Reichtum teilhaben lassen, ich bin die ganze Zeit über geblieben, wo ich war, keinen Millimeter vor und keinen zurück.
Ich habe mir ein Gymnasium für Reiche ausgesucht, das ist eine Sanktion, ein tiefer Schnitt, ein Erstickungsversuch. Ich habe mir eine schwierige Schule ausgesucht, an der tote Sprachen unterrichtet werden, und ich sage mir, ich hätte das wegen meiner Freundinnen getan, sie gehen dorthin und ich auch, aber die Wahrheit ist, dass ich eine ganz, ganz winzig kleine Sache in mir trage, eine Eichel, ein Insekt, und das ist die Stimme meiner Mutter, der ich beweisen muss, dass ich etwas tauge.
Dieses Wir, das dort unsichtbar im Raum steht, beherrscht mich, erschafft für mich Luftschlösser und Sümpfe.
Radiogeschichten „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ von Giulia Caminito. (DLF)
Giulia Caminito racconta L’acqua del lago (italiano)
Verständnisloser Deniz Yücel – Gespräch im Literarischen Quartett des ZDF (10 Minuten)
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