Lydia Tschukowskaja:
Sofja Petrowna

Sie hatte das Verlangen, jeden Augenblick jemandem zu sagen: »Man hat Kolja entlassen. Wissen Sie? Kolja ist entlassen worden!« Doch sie hatte niemanden, dem sie es sagen konnte.
Das Jahr ist 1937. Sofja Petrownas Mann, der Arzt Fjodor Iwanowitsch, ist gestorben, sie lebt mit ihrem Sohn Kolja in einer kleinen Kommunalka in Leningrad. Sie arbeitet in einem Verlagshaus als Leiterin des Schreibbüros. Sie ist überzeugt, dass die Staatsführung ihre Kraft zum Besten des Volkes einsetzt. Lydia Tschukowskaja hat den Roman im Winter 1939/40 geschrieben. Sie ist also zeitlich nahe am Geschehen und an ihrer Protagonistin, es gibt keine Distanzierung im informierten Rückblick, der Leser ist eingebunden in die erzählte Geschichte.
Es gab jedoch keine Leser, denn der Text konnte während der Herrschaft Stalins selbstverständlich nicht veröffentlicht werden. „Ohne Wissen der Autorin erschien der Roman später in Zürich, Paris, London und New York gleichzeitig, und erst 1988 in der Sowjetunion“ unter Gorbatschow. (Gisela Reller)
Kolja, Stolz und Lebensmotivation von Sofja Petrowna, Mitglied im Komsomol und überzeugter Bolschewik, arbeitet in einer Fabrik in Swerdlowsk und erfindet eine Vorrichtung zur Verbesserung der Produktion. Dann wird ein Arzt verhaftet, der mit ihrem Mann befreundet war, und auch der Direktor ihres Verlags wird festgenommen. Ein Freund ihres Sohnes informiert sie, dass auch ihr geliebter Sohn Kolja seine Freiheit verlor. Sofja hält das alles für ein Missverständnis.
Plötzlich klingelte es und dann noch einmal. Sofja Petrowna ging zur Tür. Zweimal klingeln, das war für sie. Wer konnte so spät noch kommen?
Im Türrahmen stand Alik Finkelstein. Alik allein, ohne Kolja, das war nicht normal.
»Wo ist Kolja?« schrie Sofja Petrowna und faßte Alik am heraushängenden Schal. »Hat er etwa Unterleibstyphus?«
Langsam, ohne sie anzusehen, zog Alik seine Galoschen aus.
»Pst!« machte er schließlich. »Wir wollen zu Ihnen gehen.«
Auf Zehenspitzen überquerte er den Gang, seine kurzen Beine weit auseinanderspreizend. Sofja Petrowna, ganz außer sich, folgte ihm.
»Um Gottes willen, Sofja Petrowna, erschrecken Sie nicht«, sagte er, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, »bitte, ganz ruhig, Sofja Petrowna, es liegt wirklich kein Grund vor, sich zu erschrecken. Es ist nichts Schlimmes. Vor-vor-vorgestern.., oder wann war das? Nun, vor dem letzten freien Tag… ist Kolja verhaftet worden.«
Alik setzte sich auf das Sofa, löste mit zwei raschen Bewegungen seinen Schal, warf ihn auf den Boden und begann zu weinen.
Jetzt beginnt der Hauptteil des Romans: Sofja Petrownas Suche nach dem Verbleib ihres Sohnes. Vor den Behörden, vor den Behörden, in denen sie Auskunft erhofft, stehen lange Menschenschlangen, die Informationen sind kümmerlich oder ablenkend, irgendwann erfährt sie, dass Kolja verurteilt und deportiert wurde. Grund wird keiner genannt, Mutmaßungen laufen ins Leere und wühlen auf, die Hoffnungen schwinden. Sofjas Kollegin und Freundin Natascha wird aus dem Schreibbüro entlassen – weil sie statt Rote Armee Zote Armee getippt hatte – und nimmt sich das Leben, Koljas Freund Alik wird ebenfalls verhaftet.
Man kennt das aus anderen Romanen, aus Dokumentationen und Geschichtsbüchern. Stalins und des NKWDs Schreckensherrschaft, willkürlich erscheinender Terror, Machtlosigkeit und Verzweiflung der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Das Buch erschien bei detebe 2003, seine Aktualität hat sich 2022 noch einmal verschärft. Ein eindringliches Stück russischer Geschichte, ein Bild eines Menschen, einer Familie in einem System undurchdringlicher Repression. Ein System, aus dem Russland anscheinend nicht herausfindet.
170 Seiten
Zur Biografie von Lydia Tschukowskaja
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