Rebekka Kricheldorf : Fräulein Agnes Komödie nach Molières “Der Menschenfeind“ Inszenierung : Andreas Merz-Raykov
Weshalb höre ich da Billy Joel, der aus dem Lautsprecher von „Honesty“ singt ? Wie finde ich von der Ehrhaftigkeit, der Aufrichtigkeit zu Fräulein Agnes, die auf ihrem weißen Sitzsack den Raum beherrscht ? Das „Fräulein“ ist doch heute ebenso obsolet wie die Tugend. Fanny zu ihrer Freundin Agnes: „Du forderst absolute Ehrlichkeit? Dann sag ich dir ganz ehrlich: Ich mach mir Sorgen.“ Sie sieht Agnes schon im „sozialen Abseits“.
Agnes‘ Ururahn Alcestes wollte auch ein rechtschaffener Mann sein, ein „honnête homme“. (Für Frauen kamen diese Epitheta noch nicht in Betracht.) Alcestes ist die Fiktion von Molière und wurde 1666 aufgeführt. Er ist Adeliger, aber er „weigert sich, in seinem Reden und Verhalten Kompromisse mit der Wahrhaftigkeit zu machen“. (wikipedia) Die eiserne Wahrhaftigkeit war im Adel verpönt, im Bürgertum galt sie als „Ideal“, man versuchte sich damit von „höfischen“ Konventionen abzugrenzen. „Sittsamkeit“ und „Feinfühligkeit“ gelten noch heute als „höflich“. („Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.“ (Goethe > Faust > Mephistopheles) Wer sich dem Lügen verweigert, macht sich unbeliebt, der verbohrt Ehrliche gilt bald als Misanthrop.
Rebekka Kricheldorf hat Alcestes für ihre Fassung umgeschrieben in eine Frau. Das ist heutzutage eine gern gewählte Methode, um zu zeigen, dass in den alten Texten oft etwas Zeitloses steckt und dass inzwischen auch Frauen das Prädikat „Menschenfeind“ führen dürfen. Honnête femme. Fräulein Agnes beginnt ihren Auftritt denn auch gleich mit einer minutenlangen fulminanten Suada der honesty.
„Ich habe diese Paare satt. Diese Paare, die sich ständig an einen ranschmeißen, weil sie ihre Zweisamkeit nicht aushalten. Ich habe diese Singles satt. Diese Singles mit ihrem verlogenen Geschwätz von Freiheit. Ich hab diese Künstler satt. Diese Stipendien-Parasiten, die ihre müden kleinen Affären mit anderen Parasiten aufblasen zu welthaltigen Seelendramen und damit die Atmosphäre zumüllen. (…) Ich habe diese Geliebten satt, die sich über die Ehefrauen ihrer Lover lustig machen und sich für das Bessere, Intensivere halten. Ich habe diese fremdgehenden, verlogenen, pseudogewissensverbissenen Ehemänner satt. Ich habe diese nichtfremdgehenden, verlogenen, pseudonichtuntervögelten Ehemänner satt. Ich habe diese gemütlichen Rotweintrinker satt mit ihren gemütlichen Rotweinnasen. Ich habe diese uralten Galeristen mit ihren jungen asiatischen Frauen satt. Ich habe diese schicken schwulen Agenten mit ihren hohl grinsenden Begleitern satt. (…) Ich habe diese fettgefressenen, selbstgefälligen, ihren eigenen Mythos in Zement gießenden Großschriftsteller in ihren schäbigen Großschriftsteller-Jacken satt. Ich habe diese Großschriftsteller-Gattinnen satt, die hinter ihren Männern herrennen und ihnen die Schuppen von den Schultern bürsten. Ich habe diese in Würde alternden Musiker satt. Ich habe diese Schauspielerinnen mit ihren leeren Hirnen und ihren piepsenden Stimmchen satt. (…) Ich habe diese Hundefreunde satt. Diese vom Mitmensch enttäuschten Schrullen, die als letzte anzapfbare Zuneigungsquelle das Tier missbrauchen, das Tier, das sich an jedem schabt, der ihm zu fressen gibt und das dafür seine animalische Ehre an den Nagel hängt. Ich habe diese auf Lolita gestylten, überreifen Frauen satt, die kreischend in den Großstadt-Bars rumhängen und ihre verdorrten Eierstöcke mit ihren teenierosa Mäntelchen bemänteln. (…) Ich habe diese kapitalismuskritischen Künstler satt, die steuergeldfinanziert herumgrölen und wie Welpen in die sie fütternde Hand beißen, ohne die sie längst verreckt wären in einem muffigen Büro mit Gummibaum. Ich habe diese Kunstsammler satt (…) Ich habe diese Männer satt. Ich habe diese Frauen satt. Ich habe diese Kinder satt. Ich hab die ganze Menschheit satt.
FANNY Tschüss. Ich geh dann mal.“
Das geht noch ellenlang so weiter. (Man kann’s nachlesen bei textbuehne.eu). Ich ertappe mich beim innerlichen Nicken, obwohl ich wohl nicht zur Zielgruppe der Tiraden gehöre. Vielleicht noch eins: „Alle Menschen sind mir in solchem Maße verhasst, dass es mich ärgern würde, wenn ich in ihren Augen weise wäre.“ Das letzte stammt von Molières Misanthrop Alcestes. Agnes findet ihre Lieblingsidiosynkrasien bei den „Selbstgerechten“ (Sahra Wagenknecht), den Lifsstyle-Bobos, die bei ihr herumflacken. Denn Agnes „lebt in einer geräumigen Altbauwohnung. Großzügig hat sie dort dem praktischen Philosophen Elias Obdach gewährt, der sich entschlossen hat, völlig ohne Besitz zu leben. Auch Freundin Fanny, ebenfalls Journalistin und seit nicht allzu langer Zeit von ihrem Mann getrennt, hat dort Unterschlupf gefunden. Ebenso großzügig sieht Agnes über die Groupies hinweg, die ihren Lebensgefährten Sascha umschwärmen. Letztlich aber träumt sie vom Ausstieg und der Flucht aufs Land.“ (Ankündigung)
Als erster erscheint Sohn Orlando mit seinem laut trötenden Saxofon. Haare rosa. Er hat ein Liebeslied geschrieben und erfleht von seiner Mutter um etwas PR in ihrem Blog.
AGNES Orlando. Es ist sehr schwer, ein wirklich gutes Liebeslied zu schreiben. ORLANDO Kommt auf das Sujet an. AGNES Nein, eben nicht. Es kommt auf deine Haltung an. Poesie kommt nämlich nicht von Pose. ORLANDO Ich würd das neue Lied gern bei unserem Konzert am Samstag als Zugabe singen. Unplugged. AGNES Weil du hoffst, dass SIE dann auch da sein wird. Du hoffst, dass SIE, von deiner zu Kunst geronnenen Großartigkeit in Wort und Ton hypnotisiert, blind und willig in dein weit geöffnetes Herz stolpert. Reine Schwanzverlängerung, dein Lied.
Es geht um die Auseinandersetzung, die Liebe zur Konfrontation, ein Machtspiel, es geht vordergründig um die Wahrheit, aber bei Molière wie bei Kricheldorf geht’s natürlich um das Spiel. Joscha Eißen trötet nicht nur laut ins Saxofon, sondern ist auch für die andere Musik im Stück zuständig. Maximilian Herzogenrath spielt Agnes‘ Gspusi Sascha, auch er ein versuchender Künstler, als „Event“ präsentiert er eine lausige Greenbox-Projektion, mehr weltproblematisches vortäuschend, einer, von denen Agnes schon in ihrem Eingangsmonolog wütete: „Ich habe diese Installationskünstler satt.“ Aber Sascha ist sehr schön und er lässt sich anfassen. Er fasst auch Annabelle und Cordula an, zwei weitere Inventarstücke von Agnes‘ Salon. Typmäßig wandelbar aufgebrezelt in der Art von heutigen Infoolenzerinnen, gackernd. (Sophie Juliana Pollack und Lilly-Marie Vogler). Lauter Ziele des wahren Hasses, Objekte, um diesen Überdruss anzufüttern. Agnes hält Hof. Weitere Günstlinge: Agnes‘ Ex Adrian (Michael Haake) sowie der „praktische Philosoph“ (Ankündigung) Elias, der in Wort und Tat die Hosen herunterlässt und für derart schonungslos offene Weisheiten später kruzifiziert wird. Max Roenneberg in einer kakophonischen Chaosszene. Schön.
Rebekka Kricheldorf verwandelt das allgemeine ethisch-moralische Sujet in ein selbstverliebtes Spiel einer Filter-Blasen-Welt, von der man vermutet, fast weiß, dass die Wahrheit ihren Platz hinter dem Schein hat, selbst der Begriff „Kultur“ ist hier nicht angebracht. Agnes belehrt ihren hippen Sohn: „Poesie kommt nämlich nicht von Pose.“ Die „Schaffenden“ halten ihre Machwerke für die Welt. (Lars Eidinger; „Ich hab auch das Gefühl, dass ich im Spiel mehr ich selbst bin als im Alltag.“)
Auch Fräulein Agnes gehört in diese Blasenwelt. So recht sie mit ihrem Kurz- und Kleinschlagen hat, so sehr umgibt sie sich mit den angeklagten Gestalten. Auch der Traum, aufs Land zu ziehen, scheitert nicht nur an der Weigerung Sashas, sie zu begleiten. In Kricheldorfs Um-Schreibung geht es um keinen Epochenbruch, sondern um Ausblühungen von Schein-Egoismen, von „People“, die sich „drin“ wähnen und sich doch ausgegrenzt geben. Der Zuschauer darf sich von Agnes‘ Verdikten angesprochen fühlen, er wird aber doch mehr vom erfrischenden Spiel der Darsteller in einer vergnüglichen Inszenierung unterhalten.
ORLANDODer Song heißt SCHWARZER FRÜHLING. AGNES Nein. Orlando schlägt einen Akkord an. Agnes sinkt theatralisch stöhnend in ihrem Sitzsack zusammen. ORLANDO singt und spielt Gitarre dazu
Der schwarze Frühling ist da Und immerzu regnet regnet regnet regnet regnet es Durch das Fenster meiner Gier Das ich aus Dummheit Offen ließ Der Teppich meiner Hoffnung ist verschimmelt Er war so teuer und antik Ich bin der, der den fernsten Mond anhimmelt In mir tobt ein unbenannter Krieg Und immer zu regnet regnet regnet regnet regnet es Durch das Fenster meiner Gier Das ich aus Dummheit Offen ließ Hab ich denn alles falsch gemacht? Führ ich solch stumpfes Schwert? Hab ich denn nur ein Nichts entfacht? Hab ich so ungeschickt begehrt? Und immerzu regnet regnet regnet regnet –