Nachrichten vom Höllenhund


Ziegler
9. Juli 2022, 18:21
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Ulf Erdmann Ziegler:
Eine andere Epoche

»Glaubst du, Bibi, dass wir in einer Zeit des Endes oder einer des Anfangs leben?«
   »Da es Weihnachten wird und du mich nach dem Glauben fragst: Ich glaube, dass eine Epoche zu Ende geht. Ohne Vorwarnung beginnt eine neue. Du musst dich rüsten, Wegman, deinen Blick schärfen für die Zeichen der Zeit.«  
»Die Zeichen der Zeit?«
   Bibi sah ihm ruhig in die Augen. Der Anflug eines Lächelns, aber sie sagte nichts.

Wo – bitte – soll da eine „andere Epoche“ sein, gewesen sein? 2011/14 in Deutschland? Politische Schütteleien gab es immer, im Roman-Zeitraum auch, doch nichts, das Deutschland erschüttert hätte. Die „Zeichen der Zeit“ als Glaubensinhalt? Da erklärt auch Weihnachten wenig: Der Titel scheint vermessen, Käufer scheffelnd, egal, ob ihn Autor oder Verlag ersonnen haben. Anmaßend ist zudem die Kopplung von politischem Personal und zeitgeschichtlicher Relevanz. Im „Literatur im Römer“-Gespräch versucht Ziegler die Epoche(n) zu begründen und geht dabei über das hinaus, was ich im Roman gelesen habe. (ab 1:09)

2011/14 musste Bundespräsident Wulff wegen Gründen, die vergleichsweise gaga waren, zurücktreten. Sein Nachfolger war der Gaga-Pastor Gauck. Das weiß man oder kann man nachlesen. 2011/14 wurde Peer Steinbrück nicht Bundeskanzler, Philipp Rösler war Vizekanzler. Keine Zeitenwende. 2011/14 wurde endlich ruchbar, was Nazis unter dem Namen NSU unter den Augen des Verfassungsschutzes treiben konnten. Das weiß man heute oder kann es, wenn man will, nachlesen. Ulf Erdmann Ziegler liefern diese „Affären“ den Hintergrund seines Romans. Bisher unterdrückte Aufklärung ist nicht zu erwarten, muss auch nicht sein, denn Ziegler schreibt kein Sachbuch. Er braucht handelnde Akteure.

Der SPD-Abgeordnete Andi Nair leitet den NSU-Untersuchungsausschuss, Florian Janssen ist FDP-Abgeordneter und Vizekanzler geworden, Wulff bleibt Wulff. Erfunden hat Ziegler Wegmann Frost, Jugendfreund von Janssen und Büroleiter von Nair. Frost hat eine eigene Biografie: Er stammt aus einer Reservation in Idaho, wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Jetzt ist er Sozialdemokrat, in dritter Reihe, ein bisschen wichtig, ein bisschen Mitläufer, ein bisschen „Zaungast“. Er darf Reden schreiben, protokolliert Nairs Arbeit im Ausschuss. Wegman hat den Vorteil, Protagonist geworden zu sein, sein Leben und sein Sein stehen so im Mittelpunkt.

Okay, fand Wegman, der sich die Haare mit Papierservietten hatte trocknen wollen und vom Pizzachef wortlos Küchenkrepp gereicht bekam und nun auch schon fast satt und ein bisschen stolz war, dass er nicht nachgegeben hatte, kein Alkohol, mit der Wirkung, dass er sich nicht mehr vorkam wie ein treibendes Partikel in der urbanen Maschine. Es war einfach Wegman in einer Stehpizzeria am Fuße des Bergs, ohne Mütze, aber nicht ohne Kopf, und nun fiel ihm ein, was er wiederlesen sollte, nämlich Hannah Arendt. Wie würde man ihren Zugang zur Welt nennen: warmherzige Erbarmungslosigkeit? Er wollte nicht kalt werden, kalkulierend und zynisch, wissend, dass ihm das noch schlechter stehen würde als zugänglich und im äußersten Fall sogar naiv. Es musste doch irgendjemanden geben, der an das Gute glaubte, oder nicht wirklich das Gute, aber jedenfalls daran, dass das Böse nicht einsickern durfte ins Gemeinwesen, ein schleichendes Gift in der politischen Disziplin.

Wegman lebt zusammen mit seiner Lebensgefährtin Marion, einer erfolgreichen Immobilienmanagerin, und deren 11-jähriger Ziehtochter Ellie, beide unsichere, weil pragmatische und weltverlorene Partner. Der Roman verlagert sich vom politischen Berlin immer mehr zu den privaten Problemen Wegmans. Wegman hadert mit den beschränkten Möglichkeiten der Politik, seiner ermüdenden Suche nach einem Sinn des Lebens, er kann – sich – erst entspannen, als sein Mentor Nair nach einer Affäre aus dem Bundestag ausscheidet. Auch die Sprache des Romans kann der Autor erst aus der politbürokratischen Verkrampfung lösen, als Wegman zu sich findet.

Ausgerechnet gegenüber einem Abgeordneten, der im Bauausschuss saß, hatte er geäußert, es könne nicht weiter schwer sein, Wohnungen für Genossen zu finden — »Es gibt ja auch Wohnungsbaugenossenschaften«, hatte er gescherzt —, und so war die Aufgabe irgendwie an ihm hängengeblieben. Rasch zeigte sich, dass die Gilde der Makler den Markt tatsächlich nicht im Griff hatte. Es gab die Wohnungsbaugesellschaft Gewobag und private Bauinitiativen, Investoren, Architekten, Spekulanten, und während er die Stimmen am Telefon hörte, klickte er sich durch die Bildschirmseiten; jemand musste doch — wie sagt man — den Schlüssel dazu haben? Die Makler waren auf die Sozialdemokratie am schlechtesten zu sprechen. Natürlich versuchte Wegman es neutral, »Ich suche Wohnungen für Abgeordnete des Bundestags«, aber spätestens beim Buchstabieren der E-Mail-Adresse merkten sie, dass sie bei der SPD waren. Dann die Debatten, ob es stimme, dass die SPD vorhabe, den Maklern den Garaus zu machen — »Nein, wir wollen nur das Prozedere ändern, indem der Auftraggeber die Provisionen entrichten muss« —, aber das war es eben, was sie fürchteten. Die Stimmung war schlecht und Hilfe nicht zu erwarten.

Ein „sozialdemokratischer Roman“, Grundlegende Ideale, pragmatische Verschlingungen, Absturz durch Überforderung oder persönliches Versagen. Ulf Erdmann Ziegler positioniert sich auf der Seite der (halb)linken Ideale, macht die Verschlingungen zum Roman und gönnt dem Personal den „Erfolg“ im Kleinen, der im beruflichen Fiasko endet. Das Leben Wegman Frosts darf weitergehen – den Frauen sei Dank. „Wirklich interessant wird die Sache nicht als Schlüsselroman, sondern erst wenn man die Frage umdreht: Also nicht herauszufinden versucht, wer im Roman wer aus der Wirklichkeit ist, sondern ganz grundsätzlich überlegt, was das eigentlich soll oder bringt, die Wirklichkeit nun noch einmal in der Fiktion nachzuerzählen und um rein der Fantasie Entsprungenes – Figuren, Plot, Liebesgeschichte – zu ergänzen.“ (Ekkehard Knörer, taz) Für mich geht das nicht so leicht zusammen, wenngleich man auch subtil Ironisches im Wegman/Ziegler-Denken herausfinden kann. „Eine Relektüre des kaum Vergangenen in einem etwas anderen Licht.“, nennt es Knörer. Ohne eindeutige und erhellende Antworten, aber zum Rumdröseln gibt es ja den Leser.

Es war ein Mittwoch, als er ein wenig verschlief und in der Lounge Marion und Ellie in bester Laune fand, ein Lied für ihn schmetternd, zweistimmig. In einen hellgrün glänzenden Kuchen waren zweiundvierzig winzige, lavendelfarbige Kerzen gepflanzt. Sie brannten.

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag

Eine Befragung mit Missverständnissen: Literatur im Römer | Lesungen und Gespräche zur Buchmesse (1:05 – 1:26)

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Beauvoir
30. Juni 2022, 15:48
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Simone de Beauvoir:
Die Unzertrennlichen

Alles wäre einfacher gewesen, wenn sie, so wie ich, ihren Glauben verloren hätte, sobald der Glaube seine Naivität verloren hatte.

Da sind die zwei Freundinnen, zuerst 9, dann 20 Jahre alt. „Neben die neunjährige Simone de Beauvoir, Schülerin am katholischen Institut Adeline Desir, setzt sich ein Mädchen mit dunklem   Bubikopf, Elisabeth Lacoin, genannt Zaza, die nur wenige Tage älter ist als sie. Natürlich, witzig, unverfroren, hebt sie sich von dem herrschenden Konformismus ab.“, schreibt Sylvie Le Bon de Beauvoir, die Adoptivtochter von Simone de Beauvoir, im Vorwort. Sie hat das Manuskript 2020 veröffentlicht, das an andere Erinnerungen der Schriftstellerin anschließt. Die beiden Mädchen sind „unzertrennlich“, weil sie sich so ähnlich und doch so verschieden sind. In der Erzählung Simone de Beauvoirs heißt sie selbst Sylvie, ihre Freundin Zaza wird zu Andrée.

Sylvie blickt Andrée genau an und versucht sich in diesem Blick zu spiegeln.

   Andrées Blick wanderte durchs Zimmer; als würde sie Hilfe suchen; die strengen Bücher, die Porträts der Ahnen waren nicht dazu geeignet, sie zu beruhigen.
   «Wirkte sie sehr verärgert? Wann werden Sie erfahren, was sie entschieden hat?»
  «Ich habe nicht die leiseste Ahnung», sagte Andree. «Sie hat keinen Kommentar abgegeben, nur Fragen gestellt. Und dann hat sie in scharfem Ton gesagt, sie müsse nachdenken.»
  «Es gibt keinen Grund, warum sie etwas gegen Pascal haben sollte», sagte ich sanft. «Selbst nach ihren Maßstäben ist er keine schlechte Partie.»
  «Ich weiß nicht. In unseren Kreisen kommen Hochzeiten nicht auf diese Weise zustande», sagte Andrée und fügte bitter hinzu: «Eine Liebesheirat ist suspekt.»
  «Trotzdem wird man Ihnen wohl nicht verbieten, Pascal zu heiraten, nur weil Sie ihn lieben!»
  «Ich weiß nicht», wiederholte Andrée zerstreut; sie warf mir einen raschen Blick zu und wandte sich dann ab.
  «Ich weiß nicht einmal, ob Pascal daran denkt, mich zu heiraten», sagte sie.

Das Auffällige ist nicht nur, dass sich die Mädchen siezen, auch die Vorgaben fürs Leben kommen einem so seltsam überholt an, als sei bis heute eine andere Welt entstanden. Sylvie weiß natürlich nicht, dass ihre Gedanken, ihr Verlust der „Naivität“, ihr Zweifel an Glauben und Familie die neue Welt mit entstehen half. Andrée ist Studienobjekt für Sylvie, sie schwankt zwischen Staunen, Bewunderung, Mitgefühl und Hilfsversuchen, von denen sie weiß, dass sie in Andrées Welt-Kreisen nicht zu verwirklichen sein werden und die auch zu theoretisch sind. Sylvie fehlt in vielen Dingen die praktische Erfahrung, nicht zuletzt in der Liebe. „Was dem nunmehr zehnjährigen Mädchen da widerfährt, ist eine erste Liebe: Sie verehrt Zaza leidenschaftlich, fürchtet, ihr zu missfallen. Sie selbst in ihrer rührenden kindlichen Verletzlichkeit erkennt die frühzeitige Offenbarung natürlich nicht, nur für uns, ihre Zeugen, ist sie so ergreifend. (Vorwort)

Zaza und Simone

Die Familien der beiden Mädchen sind verschieden in Herkunft, Klasse, Bürgerlichkeit, Reichtum, Distinktionsmöglichkeiten, Verlustängsten, Teilhabechancen. Sylvie braucht Andrée, die einerseits offener ist, zielstrebiger, die Sylvie einladen kann, die aber ihre Lebenslust erkauft mit harten Beschränkungen. Ihre militant katholische Familie verlangt, dass sie sich absolut einzuordnen hat. „In ihrer an starren Traditionen festhaltenden Familie, bestand die Pflicht eines Mädchens darin, sich zu vergessen, sich selbst zu entsagen, sich anzupassen.“ (Vorwort) Das Interessante ist die Faszination der jungen Sylvie, ihr nüchtern beseeltes Herantasten an die Freundin, der Wunsch, sie zu verstehen, auch im Ahnen, dass sie nicht zusammenfinden werden. „Alles, was sie sagte, war interessant oder amüsant“, erinnerte sich Beauvoir in ihren Memoiren. Andreé verliebt sich. Liebe spielt in ihrer Familie keine Rolle. Ihre Mutter verkörpert einzig die rigorose Tradition, Andrée fügt sich.

«Man muss sie verstehen», sagte sie. «Sie trägt die Verantwortung für meine Seele; auch sie weiß sicher nicht immer, was Gott von ihr will. Es ist für niemanden leicht.»
  «Nein, es ist nicht leicht», antwortete ich vage.
  Ich war wütend.  Madame Gallard quälte Andrée, und nun war sie selbst das Opfer!
  «Es hat mich aufgewühlt, wie Mama mit mir gesprochen hat», gestand Andrée mit bewegter Stimme. «Wissen Sie, auch sie hatte es manchmal schwer, als sie jung war.»
  Andrée sah sich um.
  «Genau hier, auf diesen Wegen, hatte sie es schwer.»
  «War Ihre Großmutter sehr streng?»
  «Ja..»
  Andrée hing einen Moment ihren Gedanken nach.
  «Mama   sagt, Gott ist gnädig, er wägt ab, welche Prüfungen er uns auferlegt, er wird Bernard helfen, und er wird mir helfen, so wie er ihr geholfen hat.»
  Sie suchte meinen Blick.
  «Sylvie, wenn Sie nicht an Gott glauben, wie können Sie das Leben dann ertragen?»
  «Aber ich liebe das Leben», sagte ich.
  «Ich auch. Nur wenn ich mir vorstelle, die Menschen, die ich liebe, würden allesamt sterben, dann würde ich mich sofort umbringen. »
  «Ich habe keine Lust, mich umzubringen», sagte ich.

Zaza/Andrée stirbt mit 22 an Enzephalitis. Simone/Sylvie hat eine eigene Erklärung für ihren Tod.

Das Grab war mit weißen Blumen bedeckt.

  Ich begriff dunkel, dass Andrée gestorben war, weil all dieses Weiß sie erstickt hatte. Bevor ich meinen Zug nahm, legte ich auf die makellosen Sträuße drei rote Rosen.

1954 – veröffentlicht 2020 – 145 Seiten plus dokumentarischer Anhang

Lesung und Diskussion zur SWR-Bestenliste 12/2022 (Audio – 16 Minuten)

Svenja Flaßpöhler stellt das Buch im lesenswert-Quartett zur Diskussion (Video – 13 Minuten) Es geht auch um die innere Zerrissenheit Andrées und um die Natur.



Selge
19. Juni 2022, 13:50
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Edgar Selge:
Hast du uns endlich gefunden

Eine Erziehung in Deutschland, zwischen moralischer Selbstüberheblichkeit und christtraditionell vorgeübter Moral. Unendliche Geduld und Ohrfeige stante pede. Musik und Vaterland. „Das sind wir. Das ist Deutschland. Immer auf dem Kiwief. In Deckung, aber auf dem Sprung.“

Die Vergangenheit ist ein Abgrund – und am tiefsten stürzt man in die Familie. Da braucht es Mut hinunterzublicken. Edgar Selge weiß um diese unverschüttbaren Tiefen und wagt es, sich diesem Wagnis zu stellen. Er stellt uns seine Familie vor, seine Eltern, seine Brüder, sich selbst. Der Vater ist Jurist, leitet jetzt das Jugendgefängnis in Herford, lädt die Sträflinge zu Kammerkonzerten ins eigene Haus ein, liest der Familie Dostojewski vor, liebt Frau und Kinder. Er prüft die Lateinvokabeln seines Sohnes und prügelt ihn besinnungslos. Wenn sich die Söhne die Zähne putzen, reibt er ihnen seinen steifen Schwanz an den Arsch. Mutter Signe hat ihren Mann nur widerwillig geheiratet, sie hält ihr Leben für sinnentleert. Die Brüder halten zusammen, zwei sterben früh, einer will Musiker werden. Der kleine Edgar ist „renitent“, klaut seinen Eltern Geld fürs Kino. Dazu schleicht er sich aus der Wohnung. „Aber ich werde nie begreifen! Ich begreife es einfach nicht! Ich kann es nicht begreifen: Warum! Er! Mich! Schlägt!

Edgar Selge ist 1948 geboren, 1960 war er 12, da beginnt die Erinnerung, da kann er seine Beobachtungen verstehen und – zum Teil – einordnen. Aussprechen und formulieren kann er sie – öffentlich – erst jetzt. Das liegt zum einen an der Scham über „Unsagbares“, zum anderen der Erkenntnis, dass man selbst in der Erblinie der Familie steht. Das geht noch relativ einfach, wenn man darüber erschrickt, dass man die selbe Stimme wie der Vater hat, ja, dass der Vater, wie er selbst, Edgar hieß.

  Es ist   seine Stimme, die aus mir spricht. Die Stimme meines Vaters. Das weiß ich erst seit kurzem. Ich habe ein altes Tonband abgehört. Er hat mal eine Mozartsonate aufgenommen, auf einem der alten Magnetbänder, und er kündigt das Köchelverzeichnis und die Satzbezeichnungen an. Einen richtigen Schreck habe ich bekommen.  Einen Moment lang dachte ich: Das bin doch ich.

 Aber er ist es. Er! (…)

Und der   Edgar — ja, mein Vater heißt Edgar!

Das steht erst weit hinten im Buch. Aber könnte das nicht auch heißen, dass auch die Denkart der Eltern auf einen übertragen wurde? Edgar Selges Eltern waren deutschnational gesinnt. Das ist 1960 nicht selten, kommt in manchen Bevölkerungsschichten häufiger vor, auch, weil man die Vergangenheit nicht wegschieben kann, ohne sich selbst zu entwerten. Wegschieben will auch Edgar Selge jun., aber das erklärt sich anders.

Jetzt kommt Mutti in Fahrt: Die waren eben stolz auf ihr Land! Und sie klatscht wieder in die Hände. Es geht nicht immer nur um Musik. Und mit fast irrem Blick wiederholt sie das Wort: Musik Musik Musik! Und dann: Kunst! Literatur! Ihr denkt immer, das wär alles! Es gibt noch was Größeres, etwas, für das man bereit sein kann, sein Leben einzusetzen.
 Gott, sage ich prompt.
 Nein, ruft sie.
 Ich staune. Gott steht doch im Mittelpunkt ihres Lebens.
 Was dann?, frage ich.
 Das Vaterland! Davon macht ihr euch gar keine Vorstellung, was das für uns bedeutet hat! (…) Die Musik trat in den Hintergrund. Das Schicksal wurde wichtiger, das Schicksal unseres Volkes. Sie waren voller Stolz und wollten für Deutschland ihr Leben einsetzen. Das hat sie gepackt. Das hat damals alle gepackt. (…)
Aber Gott, sage ich, Gott ist doch kein Deutscher?
  So kann man das natürlich nicht ausdrücken, sagst du tadelnd, überlegst einen Augenblick: Wir dachten, Gott ist auf unserer Seite. Auch im letzten Krieg haben wir das geglaubt. Am Anfang wenigstens.

Edgar Selge blickt zurück von seinem aktuellen Alter auf Zeiten seiner Kindheit und Jugend. Er weiß jetzt mehr und anderes als früher, will aber das Erleben der Vergangenheit nicht überformen. Also versetzt er sich in den jungen Edgar, der aber – wie ließe sich das Dilemma lösen – ein auffallend teilnehmender Junge gewesen sein muss.

Ich baumele mit den Beinen auf meinem Stuhl und muss sagen, dass mich Mozart manchmal   schon langweilt. Irgendwie komme ich hier gar nicht vor.
  Das Schubert-Duo, das als Nächstes drankommt, spricht mich mehr an, als mir lieb ist. Es besetzt meine Gefühle und raubt sie mir gleichzeitig. Es macht mich zum Opfer. Immer von derselben Melodie in endlosen Modulationen herumgeführt zu werden, geht mir auf die Nerven. Schließlich wird man ganz willenlos und weiß nicht mehr, wer man ist. Ich habe dem nichts entgegenzusetzen.

Und er berichtet über seine Gedanken, wie er als Kind gefühlt hat, wenn sein Vater falsch spielte, zu schnell, ohne Ausdruck. Der verhinderte Musiker, der Gefängnisdirektor, der seine Häftlinge zum Privatkonzert einlädt. So spricht ein Zwölfjähriger? Auch das erzählende Präsens versetzt Autor und Leser in die erlebende Vergangenheit. Am eindringlichsten wird das Übereinanderlegen der Zeiten, wenn der Erzähler die Person damals unmittelbar anspricht. Du. Hier an den Vater gerichtet:

Jetzt pass aber auf!, schreist du, um zu verdeutlichen, dass es sich hier erst um den Anfang handelt.
  Du musst zuschlagen. Das ist ein Zwang. Du musst die Welt in Ordnung bringen. Du musst mit Ohrfeigen die Welt besser machen.
  Aber sie wird nicht besser. Meine Antworten werden immer katastrophaler. Wenn der erste Schlag gesessen hat, ist mir der zweite so sicher wie das Amen in der Kirche.
  Die Erfolglosigkeit deines Zuschlagens steigert deinen Zorn.
  Irgendetwas stirbt in mir.
  Warum stehe ich nicht auf und gehe?
  Warum nicht?

Worte, die man sich damals nicht zu sagen traute. Man weiß, wie der Vater reagiert hätte. Kennt – schon damals – seinen Jähzorn, seine Schwäche. Der Sohn ist dem Vater überlegen. „Warum stehe ich nicht auf?“ (…) „Wer so intensive Prügel bekommt wie ich von dir, Papa, der kann auch als Kind ein tieferes Verständnis vom Leben haben.“

Die Klarheit dieses Tageslichts fragt mich durch die Fensterscheiben: Warum schämst du dich? Die Pandemie hält die Zeit an, damit ich ausspreche, was mir so schwer auf die Zunge will. Hier drinnen bin ich im Reagenzglas. Die Welt ist draußen, blendend, fast unbetreten, und guckt mir zu:
  Mensch, Edgar, sag, was los ist!
  Meine Liebe zu meinem Vater. Das ist es, was los ist.
  Ich will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. Und noch weniger will ich zugeben, dass seine Schläge meine Liebe nicht ausgelöscht haben.
  Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.

Edgar Selge erzählt nicht linear. Die Kapitel heißen z.B. Hauskonzert – Todestag – Weihnachten – Königlicher Musikdirektor – Abwasch – Kasperpuppen – An der Mauer – Gelächter – Angina Pectoris – Kino – Kinderzimmer. Alltagsszenen aus der Familie, miteinander durch die Personen verbunden. Immer (wieder) kreist das Geschehen um den Vater, nicht nur, weil er der Herr im Haus ist, vor allem aber, weil er der zu liebende Tyrann ist, der die Familie nur mit Mühe und seine Gefühle oft nicht in den Griff bekommt. Hier schlagen die Episoden ins Dramatische. Man merkt Selge die Kraft und Überwindung an, die ihn diese Abrechnung mit den Einschlägen des Lebens kostet. Seine Sehnsucht, ein guter Mensch geworden zu sein.

Sie freut sich, aber sie ist gar nicht mal so überrascht. Eine sanfte Freundlichkeit schimmert auf ihrem Gesicht, und mir wird bewusst, dass dies das Wertvollste, Schönste ist, das ich je kennengelernt habe. Aber die Freundlichkeit bleibt bei ihr, sie wiegt sich in den Zügen ihres Gesichts, sie reicht nicht bis zu mir. Die Wellen, die alles im Leben transportieren, sind zu kurz und können diesen Ausdruck nicht bis in mein Herz tragen.
  Wie schön, sagt sie. Hast du uns endlich gefunden. (Aus dem „Traum von meiner Mutter“)

2021 – 300 Seiten

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Leseprobe beim Rowohlt-Verlag

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden (1. Kapitel) – Gelesen vom Autor

Gespräch im „lesenswert“ Quartett des SWR – 11:30



Gospodinov
12. Juni 2022, 17:28
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Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht

  Lotte, fragte ich ohne Vorrede, welches Jahrzehnt würden Sie sich aussuchen — die Sechziger, Siebziger oder Achtziger?
  Sie schwieg ein wenig und gab die präziseste Antwort, die man auf eine solche Frage geben kann: Ich wäre gern 12 in einem jeden von ihnen.
  Das wäre auch meine Antwort.

„Diskrete Ungeheuer“ macht Gospodinov – so heißt auch der Erzähler im Roman – im letzten Kapitel aus. Die Monster heißen Vergessen & Vergangenheit, wahres Leben oder falsches Abbild. Georgi Gospodinov spielt nicht mit Lebensräumen, sondern mit Lebenszeiten, mit der Täuschung und der Möglichkeit der subjektiven Wahl der Epoche, mit „Zeitzufluchten“. Die Flucht ist Therapie für zerlaufende Erinnerungen, der Weg von Demenz zum – vermeintlichen – Wohlbefinden. Das ist als Reminiszenztherapie bekannt.

„Es ist der Fall eines Mädchens beschrieben worden, das mit seinem linken Auge nur in die Vergangenheit sieht, doch mit dem rechten — einzig jenes, was in der Zukunft geschehen wird. Manchmal ziehen sich die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft so weit zusammen, dass sie mit dem linken Auge sieht, wie der Mond verschwindet, und für das rechte geht die Sonne auf. Ein andermal laufen die Grenzen auseinander, und vor dem linken Auge breitet sich die Erdoberfläche der ersten Tage aus, wüst und wirr, und vor dem rechten — der Planet der letzten Tage, verwüstet und wieder wirr. (…) Und es begannen massenhafte Verdopplungen von Gewesenem und Nichtgewesenem

                (Gaustín, »Über die Vermischung der Zeiten«)

Gaustín* ist Gospodinovs Avatar im Roman. Der Autor kann nur wiedergeben, Gaustín kann aktiv werden, auch indem er Notizen hinterlässt. Gaustín selbst entzieht sich der Zeit, er ist nicht immer greifbar. Im ersten Kapitel gründet Gaustín in Zürich die „Klinik für Vergangenheit“. In der „Geografie des Alters“ ist „Zürich … eine Stadt zum Altwerden. Die Welt hat sich verlangsamt, der Fluss des Lebens hat sich in einem See verborgen, langsam, ruhig an der Oberfläche, der Luxus der Langeweile und Sonne auf dem Hügel für die alten Knochen. Die Zeit in ihrer ganzen Relativität. Es ist überhaupt kein Zufall, dass zwei Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, die just mit der Zeit zu tun haben, genau hier gemacht wurden, in der Schweiz — Einsteins Relativitätstheorie und »Der Zauberberg« von Thomas Mann.

Für Demente werden Zimmer, ja, ganze Etagen bzw. Häuser eingerichtet, die eine Lebenswelt aus den Jahren simulieren, in denen die Personen zeitlich zu Hause waren: Farben, Musik, Einrichtungen, auch Gerüche, die besonders.

Und so reiste ich, sammelte Gerüche und Nachmittage, katalogisierte, es bedurfte einer genauen und dichten Beschreibung, welcher Geruch was zurückbringt, welches Alter des Menschen er am stärksten hervorruft, welches Jahrzehnt wir mit ihm erstehen lassen können, ich beschrieb sie in Einzelheiten, schickte sie Gaustín, in der Klinik konnten sie bei Bedarf immer zubereitet werden.  Sie unternahmen sogar Versuche, die Moleküle des entsprechenden    Geruchs zu konservieren. Obwohl Gaustín das für eine überflüssige Anstrengung hielt, viel einfacher und authentischer war es, eine Scheibe Brot zu toasten oder ein wenig Asphalt zu schmelzen.

Demenz breitet sich in alternden Gesellschaften zügig aus, Gaustíns Idee erscheint immer attraktiver, selbst „Gesunde“ verlockt das vorgegaukelte Wohlgefühl und sie weisen sich in die Kliniken ein.

Family collapse disorder

Irgendwo in einem Schweizer Dorf kommt ein Vater nach Hause und trifft drinnen unbekannte Personen an, eine Frau und zwei junge Männer, die sich in aller Seelenruhe in seinem Haus breitmachen. Er schließt sie ein, ruft die Polizei, die Polizisten kommen und umstellen das Haus. Papa, was ist los mit dir, rufen seine Söhne von drinnen.

Schließlich wird die Suche zur Sucht und greift auf ganze Nationen über. Gospodinov: Und dann machte sich die Vergangenheit auf, die Welt zu erobern … (…) Europa, das dachte, dass es nach einigen schweren Verlusten des Verstandes im 20. Jahrhundert bereits volle Resistenz gegen bestimmte Obsessionen, nationale Verrücktheiten usw. besaß, war tatsächlich unter den ersten, die kapitulierten. (…) Irgendwie unmerklich begannen die Menschen in Trachten, die Städte zu erobern. Plötzlich wurde es peinlich, mit Jeans, Jacke oder Anzug herumzulaufen. Niemand hatte offiziell Hosen und europäische Kleidung verboten. Aber wenn du nicht willst, dass man dich schief anschaut oder verächtlich übergeht, wenn du dir irgendwelche Bemerkungen und später auch Faustschläge ersparen willst, ist es besser, sich ein grobes Wolljäckchen überzuziehen oder Tiroler Lederhosen, je nachdem, wo genau du dich befindest.

Die sanfte Tyrannei jeder Mehrheit. (…)

Es begann ein neues Leben, ein Leben als Reenactment.

In allen Ländern wurden Referenden vorbereitet, in denen die Bevölkerung abstimmen sollte, welche Zeit – welches Jahrzehnt etwa – künftig als geltende Vergangenheit veranstaltet werden soll. „Wir gehen voran und betreten die endlosen Elysischen Gefilde der Vergangenheit.“ Gospodinov erzählt ausführlich von den Auseinandersetzungen zunächst in seinem Land, in Bulgarien. Auch Bulgarien hat Vergangenheiten, die immer noch nicht besiegt sind, um deren Wiederaufführung erbittert gerungen wird. Es gibt „zwei maßgebliche Bewegungen mit einem bedeutenden Vorsprung vor den übrigen. (…) Auf der einen Seite ist das die Bewegung für Sozialismus (BS), besser bekannt als die Sozis — sie steht für eine Rückkehr in die Zeit des reifen Sozialismus, konkret in die 60er und 70er. (…) Die andere Bewegung, deren prognostizierte Resultate gegenüber denen der ersten fast ausgeglichen sind, nennt sich offiziell Die bulgarischen Recken, familiär und inoffiziell einfach die Recken. Es fällt ihnen schwer, eine konkrete Periode zu benennen, ein Jahrzehnt, in das die Nation zurückkehren soll, der Mythos verwendet nicht unsere Einteilung nach Jahren. Großbulgarien ist dem, was in ihren Reden steht, zufolge stets Wunschtraum und Realität.“ Allerdings kennt man in Deutschland Bulgariens Geschichte nicht so gut – wer ist Dimitrov? Wann war die „Bulgarische Wiedergeburt“?  -, aber man kann vieles, was dort passiert, auf hier oder andere nationale Gegebenheiten übertragen. Überall scheint Gospodinovs Spott über die abgedroschenen Nationalismen durch.

Statt eines konkreten Jahrzehnts wählt Bulgarien nach langem Zögern irgendeinen Eintopf oder gemischten Grillteller aus. Ein wenig Sozialismus, wären Sie so freundlich, ja, ja, von dem mit dem Ajvar als Garnitur. Und eine Portion Wiedergeburtszeit, die ohne Knochen, die etwas fettere.  (…) Männer in Pumphosen legen sich neben Frauen mit toupiertem Haar …

In Kapitel IV – „Vergangenheitsreferendum“ – wählen verschiedene Länder Zeiten vergangener nationaler Größe als bleibende „Zukunft“. Gospodinov blickt mit den jeweiligen Stereotypen durch Europa. In Deutschland gewinnen „die 80er. Nein, genauer gesagt siegten die westdeutschen 80er. Nur dass Berlin erneut eine geteilte Stadt war. Es ist interessant, dass beide Seiten darauf bestanden.

   Die alten Deutschen wählten das Jahrzehnt wegen des gravitätischen Körpers von Helmut Kohl, der Stabilität und Sicherheit ausstrahlte. Die jungen oder diejenigen, die damals jung gewesen waren, das heißt der Großteil der Abstimmenden, wählten die Disco der 80er.
   Letztlich siegt immer das Banale, die Trivia und ihre Barbaren fallen früher oder später in das Reich der gewichtigen Ideologien ein und erobern es.

   »Du behauptest, das sei das Jahrzehnt, das am meisten Langeweile und Disco hervorgebracht hat«, schrieb mir E. nach der Abstimmung, »aber offenbar haben die Menschen am meisten Lust darauf, so zu leben — mit Disco und in Langeweile.«

Das Ende der Zeit. Die ewige Schleife, als Dystopie, der Raum verliert seine Bedeutung gegenüber der Zeit. Ein Roman voller AnSPIELungen, eine „unglaublich raffinierte Meditation über die Zeit“ (Barbara Vinken), über Augustinus*, psychologisch, historisch, reflektiert, ironisch-satirisch, philosophisch, absurd, verspielt. Man kann es – natürlich – auch als überdauernde Reminiszenz auf Aktuelles lesen. Z.B. die Tracht-“Tradition“ auf den Volksfesten, der nationalistische Wunsch nach Wiedererrichtung des (russischen) Großreichs. Was übertrieben erscheint, hat sein Substrat in der historischen Erfahrung, für Hoffnung ist nicht die Zeit.

Wie kann man ein wenig Zeit vorausgewinnen, wenn man vor einem schweren Defizit an Zukunft steht. Die einfache Antwort war — indem man ein wenig zurückgeht. Wenn   es etwas Sicheres gibt, dann ist es die Vergangenheit. Fünfzig Jahre zurück sind sicherer als fünfzig Jahre voraus. Wenn man 2, 3, 5 Jahrzehnte zurückgeht, gewinnt man genauso viele voraus. Ja, es mag bereits durchlebt worden sein, eine »Second Hand«-Zukunft sein, aber es ist trotzdem Zukunft. Es ist immer noch besser als das Nichts, das jetzt klafft. Wenn das Europa der Zukunft bereits unmöglich ist, lasst uns das Europa der Vergangenheit wählen. Es ist einfach, wenn du keine Zukunft hast — du stimmst für die Vergangenheit.

Ich ging durch einen   warmen Juniabend des Jahres 1978. Irgendwo von der Straße her erklang Such a lovely place, such a lovely place, such a lovely face … »Hotel California« von den Eagles strömte in diesem Jahr von überall auf einen ein. Düster und   berauschend, irgendwo verlor es den Sinn, danach kehrte er wieder zurück, der Gitarrenschlussteil war wirklich hypnotisch. Die Jungs hatten was drauf. Die Musikzeitschriften sagten ihnen eine strahlende Zukunft voraus. Rund dreißig Jahre später würde von all ihren Alben nur dieses Stück übrig geblieben sein.
 …  some dance to remember, some dance to forget .. .

2020 – 340 Seiten

+2

SRF Literaturclub (8 Minuten)

3SAT Buchzeit vom Frühling 2022 (5:30 – 15:00)

*Gaustín  > Verweis auf Augustinus von Hippo: Über die Zeit

Wystan Hugh Auden – 1. September 1939



Ginzburg
6. Juni 2022, 17:46
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Natalia Ginzburg:
Die Stimmen des Abends

»Wie du ruhig bist!«, sagte er. »Du weinst nicht; du sagst alles ganz ruhig!«
  »Und ich«, sagte er, »was werde ich machen?«
  »Du wirst das machen, was du immer gemacht hast«, sagte ich.
  »Und du?«, sagte er, »was wirst du machen?«
  »Auch ich«, sagte ich, »werde das machen, was ich immer gemacht habe.«
   »Wie ruhig wir sind!«, sagte er. »Wie ruhig, kühl und friedlich wir sind!«
   »Ich hoffe«, sagte er und ringelte seine Haare um den Finger, »dass du eines Tages einem besseren Mann als mir begegnest.«

So viel Gleichmut muss man sich erstmal einreden. Wer sich Ruhe, Friedfertigkeit und Coolness zuspricht und dabei mit seinen Locken spielt, betont nicht weint, der wird ganz schön erregt sein, wird die innere Unruhe mit Mühe bezähmen. In dieser Gelassenheit, die sie  Elsa verleiht, „liegt Natalia Ginzburgs pessimistische Gesellschaftsdiagnose, auf die der Roman hinausläuft. Denn die Geschichte, die er erzählt, stellt nichts anderes dar als den Verfalls- und Zerrüttungsprozess sozialer Strukturen, den das   moderne Dogma des Individualismus mit sich bringt. Die Institution der Ehe, vor der Tommasino aus schierem Energiemangel zurückschreckt, ist nur das sichtbarste Beispiel einer weitreichenden Aushöhlung verbindlicher Lebensformen.“ (Ursula März, Nachwort) Die Protagonist:innen scheuen das Wort „Liebe“, Liebe macht abhängig, und man will selbst entscheiden. Das ist natürlich Einbildung. Es ist nicht nur die Mutter, die Elsa mit ihren dauernden Vorhaltungen nervt, sie müsse endlich heiraten, egal wen. „Für Elsas Mutter, die in anachronistischen Modellen denkt und nach ihnen handelt, zählen Vernunft und Pragmatismus mehr als Liebe und Träume. Für Elsa aber, die mit einem Fuß bereits in der Moderne steht, zählen Gefühle.“ (Ursula März) „DIE BESITZER der Fabrik sind die De Francisci. Den alten De Francisci nannte man den alten Balotta. (…) Wir wohnen seit vielen Jahren im Dorf. Mein Vater ist der Notar der Fabrik. Der Advokat Bottiglia ist der Verwalter der Fabrik. Das ganze Dorf lebt von der Fabrik. Die Fabrik stellt Stoffe her.“ Die Fabrik macht nicht nur Gestank, „es ist ein Geruch, der manchmal an angefaulte Trauben, manchmal an geronnene Milch erinnert. Es gibt kein Mittel dagegen, sagt mein Vater“, die Fabrik bestimmt auch das Sozialgefüge des Dorfes. Wo und wie man wohnt, wen man kennt und wen man besucht, wieviel Geld und Freiheit man hat oder sich nehmen kann. Das Dorf weiß alles. Zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren kommen Zweifel an der Erzählung der Alten auf, hält man die alten worte für hohl, sucht eine neue Sagensweise – zieht es die Jungen in die Stadt.

»Wie schwer ein Dorf auf einem lasten kann!«, sagte er.
   »So schwer wie Blei, mit all seinen Toten!  Unser Dorf ist so klein, eine Handvoll Häuser, und doch lastet es so schwer auf mir. Ich kann mich nie von   ihm befreien. Selbst wenn ich nach Kanada gehe, schleppe ich es mit mir.«
   »Wenn du ein Mädchen aus einem anderen Dorf gewesen wärst!«, sagte er. »Wenn ich dir in Montreal oder anderswo begegnet wäre und dich geheiratet hätte! Da hätten wir uns frei und leicht gefühlt, ohne diese Häuser, diese Hügel, diese Berge! Frei wie ein Vogel hätte ich mich gefühlt!«
   »Aber wenn ich jetzt mit dir nach Kanada ginge«, sagte er, »so wäre alles gleich wie hier. Wir würden nichts Neues finden. Wir würden fortfahren, vonVincenzino, Nebbia und Purillo zu sprechen. Es wäre gleich wie hier.«

Elsa fährt mit Tommasino, dem Balotta-Sohn, zwei Mal die Woche in die Stadt, wo er ein Hotelzimmer gemietet hat. „Die Gespräche sind so trist, so umständlich und so vorhersehbar einfach wie das Leben. „»Wir haben unsere Gedanken begraben.« Die Stimmen des Abends ist eine Geschichte von Menschen, die versuchen, ihre Gedanken zu begraben, sich nur mit ihren Handlungen und ihren Worten zu identifizieren, und die sich zuletzt in einer Umklammerung von Absurdität und Schmerz wiederfinden.“ (Italo Calvino: Natalia Ginzburg oder die Möglichkeiten des bürgerlichen Romans) „Elsas Leben, dies lässt sich aus dem Gang der Dinge prognostizieren, ist zu Ende, bevor es überhaupt begonnen hat.   (…) Was er dem Leser mitteilt über Personal, Milieu und Handlung, transportiert er bevorzugt in wörtlicher Rede, ohne jeden auktorialen Kommentar, ohne inneren Monolog, ohne Beschreibung, ohne Illustrierung: (…) Sie reden über Dinge, welche die Menschen, denen die Stimmen gehören, persönlich nicht im Geringsten betreffen.“ (Ursula März)

Natalia Ginzburg mischt sich so in die Verhältnisse, wie es Schriftsteller immer tun, auch wenn sie nichts kommentieren. Sie ordnet an, fasst zusammen und lässt vor allem die Menschen sprechen, genauer gesagt: sagen. Das ist ihr einziges redeeinleitendes Verb und das macht das Sagen so lakonisch und das Gesagte oft scheinbar trivial. Dico solo.

1961 – 130 Seiten



Brown
31. Mai 2022, 18:06
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Natasha Brown: Zusammenkunft

Du musst  damit aufhören, sagte sie.

Womit  aufhören, sagte er, wir machen doch  gar nichts.

Eine gnadenlose Demontage des britischen Klassensystems – mit ruhig beobachtendem Adlerblick und in sarkastischer Reflexion – Eine stilbildende Erforschung mit verheerender Eleganz. Mit exzellenter Treffsicherheit – gewaltige Bedeutung – eine atemberaubende Autorin – Packendes Stück bester Literatur!

So steht es in den Publikationen, bevorzugt in englischsprachigen. Aufgeblasen wird da immer. Doch die „Zusammenkunft“ („Assembly“) ist keine Analyse, muss nicht treffsicher sein, da es sich im Innenraum der Befindlichkeiten aufhält, der „Sarkasmus“ hält sich an Grenzen, den Atem raubt einem eher solch überzogenes Geschwurbel als das konstruierte Pathos des Debütromans von Natascha Brown.

In Bernarda Evaristas „Mädchen, Frau, etc.“ liest man von Carole, Tochter armer afrikanischer Migranten, die an einer berühmten Universität Mathematik studiert, bei einer Bank in der City zur Finanzanalytikerin wird und dann zur Vice President aufsteigt. Sie musste sich dafür aber, wie üblich, von ihrer Herkunft (Mutter Bummi ist Putzfrau) radikal ablösen und sich überanpassen. „Und dann verlobt sich Carole auch noch mit einem Engländer, der zur High Society gehört und seinen Stammbaum bis zu William dem Eroberer zurückverfolgen kann. Bei der einzigen Begegnung mit seinen hochnäsigen Eltern Mark und Pamela spürt Bummi deren Verachtung.“ (Dieter Wunderlich)

Natasha Brown schreibt auf eine solche „Begegnung“ hin, auf die „Zusammenkunft“. Die Erzählerin ist zum ersten Mal bei Lous Eltern eingeladen, zu einer „Gartenparty“, für sie eine Überschreitung der sozialen Grenzen, eine intersektionale „Transzendenz“ (Kapitel). Der schnöselige Sohn hält sich die farbige Frau, um seiner Karriere „liberale Glaubwürdigkeit“ zu verschaffen.

Die Eltern begrüßen uns an der Tür, Helen und George — sie bestehen auf die Vornamen — holen mich ins Haus. An einer Wand ihres großzügigen Eingangsbereichs steht klobig eine Heizungsbank. Sie lächeln, warm und herzlich. Die Mutter, Helen, reibt die Schulter ihres Sohnes. (…) Sie alle sprechen und ich beobachte. Die meiste Zeit über jedenfalls — ich bin geübt im Nichtssagen. Ich höre zu, reagiere, stelle hin und wieder Fragen. Sie zählen ein paar Gäste auf, die morgen kommen   werden.  Freunde der Familie, aus der Politik, klar, aber auch Kreative, Akademiker, Anwälte und so weiter. Ein diskret schillerndes Aufgebot.

Denn sie beobachten (uns). Man hat ihnen in der Schule beigebracht, wie das geht. Man hat ihnen beigebracht, unsere Körper (uns) als Objekte zu betrachten. Sie lernen die Unterscheidung Industriestaaten/ Entwicklungsländer als Geografie, unwiderlegbar wie Berge, Ozeane und andere Naturphänomene. Ohne Warums und Weshalbs, oder die skrupellosen, über die Weltkarte schießenden Pfeile des europäischen Imperialismus.

Das kennt man, das hat man schon in vielen Filmen gesehen. Das joviale Spiel mit dem Parvenu, hier weiblich, schwarz, Vorfahren aus Jamaica. Das macht Leiden, die individuell gespürt, aber nicht individuell aus der Welt geschafft werden können. „Doch wem sie just passieret, Dem bricht das Herz entzwei.“ Am und im Postkolonialismus leidet man zurzeit – und zu Recht – besonders gern. Lou hat sie es nicht gesagt, aber die junge Frau hat Krebs. „Er wird streuen, sagte die Ärztin, als ich sie fragte, wie er mich umbringen wird. Sie erklärte die Stadien. Sagte, wenn ich ihn zu lange lasse, wenn er zu weit streut, wird der Schaden nicht zu überleben sein. Metastase: Er streut über das Blut in andere Organe, wächst unkontrolliert, überwältigt den Körper.“

Symbolische Aufladung,Verdoppelung, transsomatische Schmerzen, Zerstörung des Ich, des Subjekts („uns“), fragwürdige Alternative. Natasha Brown instrumentalisiert die Eindrücke, verdichtet sie erzählend, versucht, sich im Partygarten außerhalb zu bewegen, sich dem gesellschaftlichen Abseits zu stellen und sich von dort aus ständig zu befragen, woher diese intersektionalen Leiden stammen und was sie im Ich bewirken.

Das Verlangen besteht darin, dein Leid zu konsumieren, sich davon unterhalten zu lassen, von der Gänsehaut, dem haarsträubenden Schauder, den es auslöst; ein Leiden, das allem, was sie bereits wissen, wieder Geltung als höhere Einsicht verschafft / das in derKehle rüttelt und kitzelt und kratzt, wenn sie es in Gänze schlucken / mit der gleichen Befriedigung wie bei   einem gezogenen Faden, dem Ziehen, Entwirren, Auseinanderfallen) (…)Während des Gehens ist das Knirschen und Rascheln unter meinen Füßen zu einem staubigen Flüstern geworden. Schwerelosigkeit. Weiches Dahinschreiten. Ich habe mich verlaufen, buchstäblich und im weiteren, abstrakteren Sinne. Obwohl ich, wenn ich mich umdrehe undnach unten schaue, das Haus noch sehen kann: Der rote Backstein ragt über einer weißen Plane auf. Es scheint, als wären das Haus, das Festzelt und der Abstand die einzigen Dinge, die hier noch existieren. Warum tue ich das?

Sie geht in Schulen und sagt etwas über Diversität: „Zu den Aulas voller Kinder, die nach Inspiration suchen. Denn bis heute hat das Mutterland seinen Griff nicht gelockert. Großbritannien besitzt, beutet aus und profitiert weiterhin von Land, eingenommen durch die Taten des zwanzigsten Jahrhunderts. Es verheizt unsere Zukunft, um seine gierige Wirtschaft anzutreiben. Unter der   Androhung finanzieller Gewalt.

Gleichzeitig belehrt man uns über wirtschaftliche Unabhängigkeit. Mischt man sich in unsere Politik, unsere Demokratien, unseren Zugang zur Weltwirtschaft ein; kreiert man Entwicklungsländer.“

Die Mischung aus persönlicher Getroffenheit und Weitergabe der Erfahrungen und Gedanken darüber an Schüler, die wie selbstverständlich neugierig, aufgeschlossen sind. Sie hören von persönlichem Leid und von eher oberflächlichen Überlegungen zu Politik und Wirtschaft, zu Taten und Gier und Kreationen. Eingehauchte Inspirationen, denn die nächste Generation soll ja von den Übeln erlöst werden. Bernarda Evarista schreibt in der dritten Person, sie kann sich distanzieren, sie kann ersichtlich machen, sie erlaubt sich Ironie auf Augenhöhe. Natasha Browns „Zusammenkunft“ kommt über Betroffenheit nicht hinaus. „Natasha Browns „Zusammenkunft“ ist ein starkes Manifest, als Roman aber ein unerfülltes Versprechen. (…) „Zusammenkunft“ erscheint insofern nicht wie eine hochdosierte, sondern wie eine etwas dünnere Variante von Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“, (Judith von Sternburg, FR)

Was mache ich hier eigentlich? (…)

Die Antwort lautet: Anpassung. Der Druck ist   immer da. Pass dich an, pass dich an… Lös dich auf im Schmelztiegel. Und dann fließ raus, gieß dich in die Form. Verbieg deine Knochen, bis sie splittern und knacken und du hineinpasst. Press dich in ihre Schablone. Pass dich an, sagen sie, ermutigend. Dann stirnrunzelnd. Dann wieder und wieder. Und immer präsent, leise flüsternd, unter der dringlichen Sprache der Toleranz und des Zusammenhalts — Verschwinde!  Zerfließe in Londons Multikultisuppe.

2021 – 115 Seiten

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag

BR – Natasha Brown im Interview

SWR – lesenswert Quartett (0:15)

3-


Ahrens
10. Mai 2022, 14:58
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Henning Ahrens: Mitgift

» So ist das nun mal. So gehört es sich.«

Die Leebs. Der Hof. Sie gehören zusammen, seit sechs Generationen, seit 200 Jahren. Hans Wilhelm Leeb ist ein hitzköpfiger Mann, er herrscht tyrannisch über Hof, Frau und Kind, „die Gebote der heiligen Schrift stehen über allem“. Seit August Wilhelm Leeb den Hof 1865 an die „Mission“ vererbt, kämpfen die Nachfahren darum, den „Hof seiner Familie zurückholen“  zu können,  „koste es, was es wolle“. Das sind Rückblenden.

Die erzählte Geschichtszeit beginnt im Zweiten Weltkrieg. Wilhelm („Der erste heißt immer Wilhelm.“ – Man findet die Wilhelms auf einer Übersichtsseite.) Leeb ist im Kriegseinsatz in der Ukraine. Er hat erfahren, diszipliniert zu sein und von allen anderen Disziplin zu verlangen. Die Devise »Es geht nicht darum, was du willst. Du stehst in der Pflicht, und die Pflicht, die wird schlussendlich zur Freude, mein Sohn.  Wie auch  …« — er sah Willi listig an — »… die Freude zur Pflicht wird. Nicht wahr?« hat die Jahrhunderte überstanden und klebt als „Mitgift“ am Hof. Es ist auch ein passendes Motto für die Kriegsbegeisterung Wilhelms, er fühlt sich als Nazi-„Herr“ bannig wohl. Gerade als er sich auf der ukrainischen Erde als Landwirtschaftsführer eingelebt hat, geht der Krieg verloren. Wilhelm sieht sich betrogen, gerade noch gelingt ihm die Flucht. Einen Ukrainer und zwei Ukrainerinnen nimmt er mit in die „Heimat“. Die Begeisterung von Frau und Kindern über die Rückkehr des Familienoberhaupts ist verhalten.

Er hätte souverän und würdevoll Einzug halten müssen! Stattdessen ist er auf den Hof gepoltert, als wäre es nicht der seine. (…)
   Während er dasteht und seinen Blick über die Scheunen, die Ställe und die Kastanie schweifen lässt, die neben dem Tor zur langen Diele steht, überkommt ihn ein Gefühl der Verlorenheit: Weder hat man die Haustür zu seiner Begrüßung mit Eichenlaub geschmückt, noch lässt sich jemand blicken, und sein Sohn — sein Fleisch und Blut — hat gar Reißaus genommen.

Sein mentales Erbe erlaubt nur eine Reaktion: Disziplin und Herrschaft. Die Verbitterung über die Niederlage des Vaterlandes, womit er sich identifiziert, verschärft den Ton.

»Aufräumen!«, knurrt er. »Man muss erstmal aufräumen   in dieser Weiberwirtschaft. Schluss mit dem   Schlendrian! Ihr werft alles weg? Schön, dann ziehe ich hier neue Saiten auf, ihr werdet schon sehen, und mit euch …« — er zeigt der Reihe nach auf seine Kinder — »… fange ich an.« Er hält seiner Frau das Glas hin, und sie schenkt   gehorsam Doppelkorn   nach. Alle haben unwillkürlich den Kopf eingezogen, nur Oma Leeb nicht, die aufrecht dasitzt und ihren Sohn mit unergründlicher Miene durch die Nickelbrille betrachtet. Ihre Hände ruhen auf der im Schoß liegenden Leinenserviette mit dem   eingewebten    Monogramm; sie lässt ihre Daumen so rasant umeinanderkreisen, als würden sie das Räderwerk ihres Denkens antreiben.

   Das sieht aber nur der neben ihr sitzende junge Wilhelm. Er gibt nicht viel auf die Worte seines Vaters, der gerade erst heimgekehrt ist und deshalb nicht erfassen kann, was sie geleistet haben, aber das wird er schon noch begreifen. Wilhelm nimmt sich ein Beispiel an der Großmutter und drückt den Rücken   durch. »Wir haben gut gewirtschaftet, Vater«, widerspricht er, »gemessen an den schwierigen Bedingungen   während des Krieges. Und genauso danach, ja bis heute, denn vieles ist nach wie vor ein Problem, etwa die Beschaffung von Saatgut oder Setzkartoffeln, von Dünger ganz zu schweigen, und…«

  Sein Vater unterbricht ihn. »Ich bin nach all der Zeit, nach vier erniedrigenden …« — er presst das Wort zwischen den Zähnen hervor  — »… Jahren nicht heimgekehrt, um mir Vorträge anzuhören, Wilhelm! Ich bin heimgekehrt, um zu handeln. Ich bin nicht heimgekehrt, um am Katzentisch zu sitzen, sondern …« — er pocht auf die Tischplatte — »… um den mir gebührenden Platz einzunehmen. Was ihr gemacht habt, ist mir gleich. Was ich ab jetzt tue — das allein zählt. Nur das. Hast du verstanden, mein Sohn?« Er starrt ihn herausfordernd an.

   Der junge Wilhelm ist wie vor den Kopf gestoßen. »Ja, sicher«, murmelt er, »und trotzdem …«

   »Ab jetzt gibt es kein >Trotzdem< mehr. Keine Widerworte. Ab jetzt wird pariert. Und das …« — sein Vater sieht sich in der Runde   um — »… gilt für alle!« Als sein Blick auf seine Mutter fällt, verstummt er. Und Oma Leeb lässt die Daumen kreisen, kreisen und kreisen, wie sich die Erde dreht.

Schon der Großvater von 1870, Willi, wollte Lehrer werden, wollte den Hof nicht übernehmen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Der Wilhelm von 1931, Willem genannt, wogegen er sich vergebens sträubt, kann sich mit seiner „Mitgift“ nicht anfreunden. »Du bist doch ein Leeb, also reiß dich zusammen!  Was willst du denn machen, wenn du in der Hitlerjugend bist? « Der Vater ist zu laut, erwartet zu viel, die Mutter ist nur eine Frau, Willem schleicht in den Kuhstall, legt sich in die Rinderkrippe. „Da will ich lieber tot sein, denkt er, dann würde ich den Eltern weder Kummer noch Verdruss bereiten. Dieser Gedanke treibt ihm Tränen in die Augen.“

Der Ochse, es ist Kastor, der mit den Locken zwischen den Hörnern, stößt die feuchte, weiche Schnauze gegen Wilhelms Gesicht, er muss erstmal gucken, ob das, was da in der Krippe liegt, auch schmeckt, ist ja klar, und dann spürt der Junge die raue, feuchte Zunge auf der Stirn und auf den Wangen. Er beißt die Zähne zusammen, seine auf der Brust liegenden Hände verkrampfen sich, und er bekommt es mit der Angst, hoffentlich tut das nicht weh, aber alles ist besser, als das Geschrei seines Brüderchens und seines Vaters zu hören, und seiner Mutter ist er sowieso egal. Also fügt er sich in sein Schicksal und harrt des Maules, das ihn verschlingen wird.

„Mitgift“ ist kein „Dorfroman“, der Hof und seine Nachbarhöfe sind das Zentrum des Lebens, der Mühen und der Gedanken. Der Hof ist das Universum, selbst die Heiratskreise drehen sich um ihn. Der Hof wird stets als bedroht und zugleich bedrohlich empfunden. Die Menschen leben für ihn, buckeln, walten, die Männer fühlen sich zum Tyrannisieren gezwungen und empfinden kein Glück dabei. Der Krieg bringt einerseits alles ins Wanken, nur unter großem Aufwand lässt sich der Hof durch die Zeit bringen, für den Hof-Herren ändert sich gar nicht so viel, die Ideologie fußt ja in der Politik wie auf dem privaten Besitz auf dem Völkischen, auf dem Deutschtum, auf den überkommenen Hierarchien. Unerträglich wird es für den Hoferben, wenn diese eingebrannten Geisteshaltungen angezweifelt werden, wenn die alten „Werte“ plötzlich nicht mehr geachtet werden, nichts mehr gelten sollen. Angriffe auf den Mann, den Herrn.

Die niedersächsische Provinz scheint besonders bodenverbunden, exemplarisch deutsch, doch sind die Schicksale auch in anderen Regionen die gleichen. Die Katastrophen, den Krieg, ordnet man in den Lebensverlauf ein und hat sie zu ertragen. „Freiheiten“ kennt man nicht, man muss „in die Fußstapfen der Vorväter treten, so war es nun mal“. Gegen die Nöte der Frau soll „Klosterfrau Melissengeist“ helfen. „Die historisch weiter ausgreifenden Szenen liest man ein bisschen so, als blättere man in einem Familienalbum. Interessant sind die Realien. Man erfährt, wie wenig selbstverständlich Traktoren und fließendes Wasser noch bis weit in die Bundesrepublik hinein waren und wie hart, patriarchalisch, Gefühlen gegenüber indolent und dem Hof alles unterordnend das Leben war.“ (Dirk Knipphals, taz)

Henning Ahrens springt mit den Kapiteln durch die Zeit. Die Erzählordnung folgt nicht der Chronologie, sondern erzeugt historische Konnexionen, bildet Zusammenhänge ab, bebildert die Mechanismen der „Mitgift“ Zwischen diesen Geschichten aus der Vergangenheit wird auf das Ende geblendet: 1962. Die „Totenfrau“ Gerda Derking, nicht heiratstauglich, weil ohne Mitgift, wird zum Hof gerufen, einer ist gestorben, er fühlte sich der „Mitgift“ nicht gewachsen. Zusammen mit Lisbeth und Fräulein Bernhard sitzt sie in ihrem Garten und kommentiert die Hofwirtschaft wie ein griechischer Chor.„Es ist ein Buch wie Schwarzbrot. Man muss kräftig kauen, bis sich der Geschmack entfaltet. Aber ein Buch, das ins Mark geht, langsam erzählt, mit genauem, warmem Blick.“ (Peter Helling, NDR)

2021 – 340 Seiten

2

Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich

Henning Ahrens im Gespräch | #fbm21 24.10.2021 ∙ Frankfurter Buchmesse 2021



Sorokin
20. April 2022, 18:55
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Vladimir Sorokin:
Die rote Pyramide
(Erzählungen)

9 Erzählungen aus den Jahren 2017/18, dazu drei aus den 2010er-Jahren, sind hier versammelt. Erzählungen aus Russland, die Zeit der Sowjetunion ist immer noch gegenwärtig und das Er_Leben als solches ändert seine Muster nur schleppend.

Jura ließ den Blick durch die Umgebung schweifen. Und sah auf einmal, neben einem   Flachbau aus Silikatsteinen, ein verblichenes Transparent stehen:  Unser Ziel ist der Kommunismus!
   Unter der Schriftzeile ein Lenin-Kopf im Profil.
   »Jetzt sagen Sie bitte: Wer war Wladimir Iljitsch Lenin?«, fragte Jura laut und verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust.
   »Der Mann, der die Pyramide des roten Rauschens in Gang setzte.«
   Jura blieb der Mund offen stehen.
   »Wie bitte? Die Pyramide des roten was?«
   »Des roten Rauschens.«
   »Von der hab ich noch nie was gehört.«
   »Sie erzeugt das permanente rote Rauschen.«
   »Und wo steht die?«
   »Im Zentrum der Hauptstadt.«
   »Wo genau?«
   »Genau in der Mitte.«
   »Im Kreml?«
   »Nein. Auf dem Roten Platz.«
   »Mitten auf dem Platz?  Eine Pyramide?«
   »Ja.«
   »Und wo steht sie da, ganz konkret?«
   »Ihre Grundfläche nimmt   den gesamten Platz ein.«
   »Den ganzen Platz?! …«
   Jura lachte auf. Der dicke Mann blickte stoisch wie zuvor vor sich hin.
   »Na wissen Sie!«, meinte Jura. »Ich wohne zufällig ganz in der Nähe vom Roten Platz, in der Pjatnizkaja.  Eine rote Pyramide hab ich dort nie stehen sehen.«
   »Sie können sie nicht sehen.«
   »Aber Sie?«
     »Ja.«
     Alles klar, dachte Jura. Der Mann halluziniert.
     »Und was tut die Pyramide noch mal?«
     »Sie strahlt das rote Rauschen aus.«
     »So was wie … ein Lautsprecher?«
     »Etwas in der Art. Aber mit ganz anderen Wellen. Anderen   Schwingungen.«
     »Und wozu … strahlt sie die aus?«
     »Um die Menschen mit dem roten Rauschen zu infizieren.«
     »Wozu soll das gut sein?«
     »Um die innere Ordnung des Menschen   zu stören.«
     »Stören? Wozu?«
     »Damit der Mensch aufhört, Mensch zu sein.«
     Ein Staatsfeind, dachte Jura und schaute sich nach allen Seiten um. Aber der Bahnsteig war menschenleer wie zuvor.

(aus: Die rote Pyramide, 2018)

Solche durchaus direkten Aussagen sind aber selten in den Texten. Sorokin liebt flirrende Andeutungen, bettet sie ein in Grotesken, in karikaturhaft verzerrenden, auch stilistisch experimentierenden Erzählungen, die vom Leser Dekodierungen einfordern, ihn oft auch überfordern.  „Vladimir Sorokin macht in beunruhigenden Dystopien das gegenwärtige Putin-Russland kenntlich.“ Doch so einfach wie es Mirko Martin vorschreibt, ist es nicht. Was man ‚Russland‘ als ‚Seele‘ zuschreibt, ist das Absurde der Über-Lebensanstrengungen in einem Land, das immer noch in der Vor-Moderne festhängt. Da ist die Geschichte vom Besuch bei einem „Starzen“, dem „ehrwürdigen Greis“, der sich in einer Felshöhle zumauert und dort als „Lehrer und Berater fungiert“ (wikipedia). Von Kyrill I. ist nicht die Rede, der Putin als „Wunder Gottes“ bezeichnete.

»Vater Pankrati«, sprach Alex, sein Gesicht nahe an die Luke haltend, »was sollen wir tun?«
   In der Höhle stank es.
   »Schlafen!«, kam die Antwort des Starzen aus der Finsternis.
   »Wie … schlafen?«
   »Tief und fest.«
   »Wozu?«
   »Damit die Träume herauskönnen.«
   Alex atmete tief ein und wieder aus, er kämpfte um Fassung. Wollte den Starzen gerade fragen, was das heißen sollte, da kam der Alte ihm zuvor.
   »Geh jetzt. Schlaf!«
   Aus der Höhle drang ein Scharren, Ächzen, Murmeln.  Dann zog Stille ein. Mit dem Becher in der Hand stand Alex vor dem finsteren Loch und starrte hinein.  Es verging einige Zeit. Plötzlich wurde ein Stein in das Loch geschoben, der es vollständig verschloss. An den Fugen quoll etwas hellbraune Masse hervor. Einen Geruch konnte Alex nicht wahrnehmen.
   So stand er da, sein Blick prallte ab von der geschlossenen Mauer. Der blöde Ventilator summte und blies ihm in den Rücken. Alex klopfte mit dem Becher gegen den Stein.
   »Vater Pankrati.«
   Kein Ton von hinter der Wand.
   »Was soll denn das?«, stieß Alex ohnmächtig hervor und ließ die Hände sinken. Die Mauer mit all ihren Adern, Buckeln, Kanten und Rissen stand vor ihm wie zum Hohn. Er hätte sie bespucken mögen.
   »Rede!«, brüllte Alex wutentbrannt und hämmerte mit dem Becher gegen die Wand.
   Auf einmal war wieder ein Murmeln von drinnen zu vernehmen. Schwach und dumpf, aber nicht zu überhören. Alex presste das Ohr an den Stein. Doch es war nicht zu verstehen.  Etwas zwischen Gemurmel und Gesang. Nach kurzem Besinnen legte er den Becher an den Stein und das Ohr an den Becher – wie er es zuletzt als Jugendlicher getan hatte, als sich seine große Schwester im Zimmer nebenan ihrem Mitschüler hingab, einem dürren, schieläugigen Typen mit Fusselbart, von dem Alex gelernt hatte, Wodka zu trinken, und der Führt mich über den Maidan zur Gitarre sang.
  Der Becher half: Der Starze in seiner zugemauerten Höhle sang tatsächlich ein Lied. Es war eine simple Melodie, die jedes Kind kennt. Alex hielt sich das freie Ohr zu, um nicht das Surren des bescheuerten Ventilators zu hören, und strengte sich an. Jetzt verstand er:
  Dies war des Lebens letzter Akt:
  Wenig gegessen, viel gekackt.

Mehr Text   war nicht. Der Starze wiederholte die immer gleiche kurze Strophe. Und    irgendwann verstummte er ganz.

(aus: Lila Schwäne, 2017)

Nicht alle Geschichten Sorokins lassen sich entschlüsseln, auf politische oder gesellschaftliche Verhältnisse beziehen. Manche Geschichten erscheinen schlicht exzentrisch, krude, in hrer oft auch stilistischen Exaltation effektheischerisch. Es wird vulgär, es geht um Ärsche.

Frau Frajerman lachte herzlich mit allen mit, aber dann legte sie mit versierter Geste die Wange in die auf den Tisch gestützte Hand und sprach in bedeutungsschwangerem   Ton:
   »Das mag alles richtig sein, meine lieben Bobrows. Aber eine Frage hätte ich noch, eine ganz kleine Frage.«
   Sie spitzte die prallen, geschminkten Lippen,verengte die ausdrucksvollen schwarzen   Augen zu  einem Spalt und   sprach leise: »Womit wische ich  mir  den Po?«
   Alles grölte, mit Ausnahme der Bobrows. Als der Lärm verebbt war, kam von ihr die Antwort.
   »Mit gar nichts.«
   »Mit gar nichts geht nicht, meine Liebe.«
   »Dann nehmen   Sie halt den Finger.«
   »Ja, warum nicht den Finger«, sagte Herr Bobrow und bekräftigte es mit einem Nicken seines kurz geschorenen Kopfes.
   Die Gäste blickten einander an und lächelten betreten. Frau Frajerman fixierte die Bobrows mit strengem Blick und schluckte. Dann sprach sie:
   »Meine lieben Bobrows, es kann ja sein, dass Sie das so machen, sich den Po mit dem Finger abwischen. Das ist Ihr volles Recht! Aber ich ziehe es wie alle zivilisierten Menschen vor, Papier zu verwenden. Denn nicht nur die Sauberkeit des Pos, auch die der Finger liegt mir am Herzen.«
   Frau Bobrowa kaute gemächlich an ihrem Salat.

(aus: Der Fingernagel, 2018)

Das Gastmahl entartet, als der Sohn der Bobrows der Frau Frajerman ins Gesicht sagt, sie habe „einen Scheißarsch“. „In ‚Der Fingernagel‘, einer derben, urkomischen Persiflage auf die Erzähltradition des russischen Realismus, endet das Abendessen in einem Desaster aus Gewalt und Fäkalhumor. (…) In allen neun Texten arbeitet Sorokin die große ideologische Leere in seiner Heimat heraus – und die verschiedenen Versuche, diese zu füllen: durch Brutalität, Sexualität, Großmannssucht, pervertierte Religiosität, Nostalgie (die pittoresken Schilderungen der Landarbeit in „Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge“!) – und durch die schillerndsten Träume.“ (Michael Schleicher, Frankfurter Rundschau)

190 Seiten



Binet
15. April 2022, 17:57
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Laurent Binet: Eroberung

          63. DAS KARTOFFELZEITALTER

So erlebte der Fünfte Reichsteil eine Phase des Friedens und eines nie dagewesenen Wohlstands. Und wenn diese auch nicht andauerte, so kann man sich doch gut ihrer erinnern als eines glücklichen Augenblicks in der Geschichte der Neuen Welt. Wer weiß, wie lange diese Harmonie sich hätte ausdehnen lassen, wenn nicht außerordentliche Umstände eingetreten wären und ihr ein Ende gesetzt hätten.

Atahualpa kämpfte gegen seinen Halbbruder Huáscar um die Herrschaft des Inkareichs. Das war anfangs der 1500er-Jahre. Atahualpa gewann und wurde der letzte Herrscher, dann nahmen ihn die Spanier fest und töteten ihn.

Laurent Binet erzählt eine Variante der Geschichtsschreibung. Atahualpa flieht vor Huáscar auf Schiffen nach Osten, gerät in Lissabon an Land, schlägt sich und seine recht begrenzte Truppe nach Spanien durch und wirbelt das „orientalische“ Europa der Renaissance gehörig durcheinander. Nachdem seine Frau Higuenamota Nachschub an Menschen und Schiffen aus der alten Heimat beschafft hat, ziehen die Inkas eine Spur durch spanische Städte und treffen dabei auf das bekannte Personal der – für die Inkas – Neuen Welt.

Die Neuankömmlinge finden vieles seltsam: dass die Spanier nicht wie sie selbst nackt herumlaufen, dass die Christen angesichts ihrer religiös motivierten Gnadenlosigkeit einen „Angenagelten Gott“ verehren, dass Morisken und Juden als Rechtlose verfolgt, vertrieben und getötet werden. „Ein Brief von Margarete von Navarra berichtete, in Frankreich habe eine tobende Horde von Katholiken einem Lutheraner das Herz ausgerissen, und der Bericht von diesem Verbrechen, das die Königin selbst als «abscheuliche Metzelei» bezeichnete, kursierte im Alcázar und ließ die Inkas erschaudern. Solche furchtbaren Taten seien, so Margarete, die Folge von einem schwer nachvollziehbaren Glauben; die Anhänger der alten Religion im Orient wurden anlässlich der rituellen Handlungen in ihren Tempeln von ihrem Priester eingeladen, ein kleines weißes Gebäck zu essen und einen Schluck schwarzes Gebräu zu trinken, und glaubten durch ein Wunder der Einbildungskraft, das für die Quiterios schwer nachvollziehbar war.“

Die „Söhne der Sonne“ selbst sind für Toleranz, auch zwischen Glaubensrichtungen, sie sind aber süchtig nach Macht und Erfolg, nach „Eroberung“, auch von Frauen. „Ein von Michelangelo entworfener Sonnentempel wurde in die Kathedrale von Córdoba hineingebaut. Sevilla wurde von Tag zu Tag reicher, die Bevölkerung wuchs rapide und machte Sevilla zur größten Stadt der Neuen Welt. Die Juden kamen herbei und leisteten erstklassige Arbeit, was den Wohlstand im Land mehrte. (…) Der Handel nahm solche Ausmaße an, dass Atahualpa die Gründung einer besonderen Einrichtung befahl, die die Einheimischen Casa de contratación nannten und die die Handelsbeziehungen zwischen Tahuantinsuyo und dem Fünften Reichsteil verwaltete. Niemand in Spanien oder anderswo im Land der aufgehenden Sonne war berechtigt, mit den Ländern der untergehenden Sonne auf anderen Wegen als über Sevilla Handel zu treiben.

Karl V. wird gefangen und als Geisel genommen. Die Fugger aus Augsburg legen ihr Geld ertragreich an. Atahualpa lässt in den Pyrenäen und in der Sierra Nevada Mais und Kartoffeln anbauen. Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam schreiben sich Briefe. Laurent Binet lässt nichts aus. Die Bauernkriege, der Konflikt um Luther, die Kurfürsten, die Inquisition. Später darf auch noch Miguel de Cervantes mitspielen und wird zwischen den Inkas und den Christenmenschen zerrieben. Das alles ist aus der Sicht der „Sonne der Neuen Welt“ beschrieben, spielt aber im Europa des 16. Jahrhunderts, oft genug in den deutschen Ländern. An der Schlosskirche zu Wittenberg finden sich eines Tages

DIE 95 SONNENTHESEN

1. Die Sonne ist nicht die Allegorie für Gott den Schöpfer.
2. Sie ist der erschaffende Gott und die Quelle allen Lebens.
3. Viracocha ist ihr Vater oder Sohn und zugleich Vater oder Sohn des Mondes.
4. Der Inka ist der Statthalter der Sonne auf Erden. (…)
57. Der Sonnengott ist auf der Seite der Armen.
58. Er hat die Erde hervorgebracht, damit alle ihr Salz schmecken.
59. Sonne und Erde fordern von niemandem eine Abgabe, sei sie groß oder klein.
60. Grund und Boden darf nicht gekauft, gemietet oder gegen Zins geliehen werden.
61. Grund und Boden dürfen kein Privateigentum sein. Sie werden jedem gemäß seinem Bedarf zugeteilt.
62. Alles Wasser gehört zur Erde und ist frei.
63. Aller Fisch gehört dem Fluss an.
64. Alles Wild gehört dem Wald an.
65. Die Wälder gehören der Erde an, und sie gehört der Sonne an.
66. Der Sonnengott kennt keine Leibeigenen. Er kennt nur Menschen.

Laurent Binet hat die Geschichte tiefgehend erforscht und er erzählt sie minutiös, wobei er den Stil der Geschichtsschreibung  nachbildet. Natürlich ist es die Geschichte der Herrschaft, der Kulturen, des Handels und des Militärs, die hier auflebt. Die Idee, die Ereignisse zu drehen, Alte und Neue Welt zu tauschen, mit den Folgen und Kausalitäten zu spielen, ist zwar nicht ganz neu, aber doch originell. Zumindest im Ansatz. Aber Binet erzählt einerseits leidlich Bekanntes, flicht die Söhne – und einige Töchter – der Sonne ein und ermittelt aus der Konfrontation ein verändertes System, dessen fiktive Folgen wir bewerten können und deren Mechanismen der Neuordnung auf bekannten Mustern beruhen. Schlachten, Intrigen, Inszenierungen, Pomp, Rekrutierung. Das Vergnügen ist begrenzt. Ich ertappe mich dabei, zunehmend Abschnitte zu überfliegen oder zu überspringen. Für das abschließende Kapitel mit der barocken Überschrift (VON DER WILDEN, ERSCHRECKLICHEN SCHLACHT, DIE DIE VERGANGENEN, DAS GEGENWÄRTIGE UND DIE ZUKÜNFTIGEN JAHRHUNDERTE JEMALS GESEHEN HABEN UND SEHEN WERDEN, DIE ZUGLEICH DAS GRÖSSTE UNGLÜCK FÜR DEN ARMEN CERVANTES BEDEUTETE) endlich bleibt kaum mehr Interesse.

„Eroberung“ soll als Serie kommen, was wohl Erfolg verspricht. Vielleicht geht die Serie – anders als der Roman – über das 16. Jahrhundert hinaus und spielt uns vor, wie unsere heutige Welt aussähe, wäre aus Binets Imaginationen real geworden wären. So aber bleibt „Eroberung“ ein Roman über abgehobene Macht- und Interessenpolitik, trotz Inkas europazentriert, durchsetzt mit bekannten Namen, die aber nur ihre Geschichtsbuchrolle einnehmen. Personen als Spielfiguren ohne Kern. Großer Aufwand, hin und wieder aufblitzende Überraschung, verhaltene Ironie.

2019 – 380 Seiten

3-


Henisch
1. April 2022, 16:52
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Peter Henisch:
Der Jahrhundertroman

Dort oben, an diesem Fenster, sagte er: Musil! … Robert Musil, in einem gestreiften Pyjama.

Da hat der alte Herr Roch den Jahrhundertroman geschrieben. D.h. es geht nicht ums ganze Jahrhundert, sondern um österreichische Poeten, die in den letzten hundert Jahren gewirkt haben. Da kommen schon einige zusammen. Um nicht alle zu nennen: Robert Musil, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Franz Kafka, Peter Handke, Heimito von Doderer, Christine Nöstlinger, Ernst Jandl, Egon Friedell, Karl Kraus, Ödön von Horváth, Lili Grün, Joseph Roth. Herr Roch hat aber nicht so sehr die Literatur interessiert, sondern das Leben der Dichter, und darüber hat er Anekdoten verfasst.

Da der Herr Roch nicht mehr gut sieht und seit einem Schlaganfall auch nicht mehr so beweglich ist, sucht er nach jemandem, der ihm das Manuskript abtippt. In seinem Stammcafé, dem Café Klee, entdeckt er die junge Studentin Lisa, die dort als Aushilfsbedienung arbeitet. In ihr erkennt er eine verwandte Seele – sie hat auch schon Gedichte verfasst – und bietet ihr 2 € pro Seite, wenn sie den Text in den Laptop tippt. Da Lisa zögert, weil sie die Cafébesitzerin Frau Resch vor dem alten Roch warnt:

Ist der Herr Roch ein Autor? fragte sie die Chefin.
    Der? Ein Autor? –  Hören Sie zu, Lisa: Dieser Herr ist vor allem ein Dampfplauderer!
    Nun schloss ja das eine das andere vielleicht gar nicht aus. Und   Dampfplauderer – das klang ja beinahe harmlos.
    Doch die Frau Resch fügte diesem Urteil noch etwas hinzu:
    Passen Sie auf, Lisa, lassen Sie sich von dem nicht einwickeln!
    Und dann erhob sie ganz ungewohnt laut ihre Stimme: Das wollte ich Ihnen ohnehin schon längst sagen, Lisa, der Herr Roch ist ein Stammgast und es ist gut, wenn Sie angemessen freundlich zu ihm sind, aber es ist besser, wenn Sie dabei eine gewisse Distanz wahren!

Da sie aber das Geld reizt, besucht Lisa den Herrn Roch nach einiger Zeit in seinem ‚Depot’ im 8. Bezirk in der Florianigasse 4a.

Es dauerte eine Weile, bis Roch zur Tür kam. Seine Schritte hörten sich an, als käme er von weit her. Er blinzelte. Haben Sie es sich doch noch überlegt? Das freut mich. Kommen Sie weiter. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen?    Und schon hatte er einen ihrer Ärmel ergriffen. Und dann den anderen.  Eher eine Behinderung als eine Hilfe. Aber sie ließ es über sich ergehen. Roch hängte ihren Mantel an einen schon etwas invaliden Thonet-Kleiderständer.    Dann stand er da und wusste ein paar Sekunden lang nicht weiter. Nehmen Sie Platz, sagte er schließlich. Vielleicht setzen Sie sich am besten in den Schaukelstuhl. Draußen regnet es. Sie sind ein bisschen nass geworden, nicht wahr? Warten Sie, ich werde uns ein Kännchen Tee machen.
   Und war schon verschwunden im dunklen Hintergrund. Der Raum war erstaunlich tief und gleichzeitig hoch. Keine flache Decke, sondern ein Gewölbe. Als sie vor der Tür gestanden war, hatte sie diese Dimensionen nicht erwartet.
   Und überall Bücher, Bücher und wieder Bücher … Bücher, die nicht nur in den Regalen standen, die an so gut wie jedem verfügbaren Stück Wand montiert waren, sondern auch in unglaublich hoch getürmten Stößen aus dem Boden wuchsen. Manche dieser Stöße sahen aus, als hätten sie schon längst umfallen müssen. Doch da und dort schien es, als hätte das eine oder andere Buch, das vielleicht gerade noch rechtzeitig hinzugefügt worden war, ein vages Gleichgewicht wiederhergestellt.

Die Dichter sind ja markiert durch eine gewisse Grundgrummeligkeit, manche geben sich auch miesepetrig, viele aber stzen gerne im Kaffeehaus auf eine Melange. Etwa im Bräunerhof, dem Brioni, dem Tirolerhof . Aber das„Hawelka kann er ohnehin nicht leiden … Dort stehen die Tische viel zu distanzlos beisammen … und dazwischen die bittersüßliche Luft … und gewiss sitzen da ein paar drittklassige Autorinnen oder Autoren mit  ihren  Anbeterinnen und  Anbetern,  Figürchen, deren   Selbstbewusstsein an ihre zeitweilige Präsenz  in  diesem  sogenannten   Künstlercafé geknüpft  ist.
    Im  Hawelka  unterschlüpfen? Kommt   nicht in Frage! ..
.“  für Thomas Bernhard.

Und ja, genau, die Ecke, an der dieser junge Mann steht, muss die von Lange Gasse und Josefsgasse sein. Wenn Roch die Augen schließt, sieht er diese Ecke vor sich. Und die andere Ecke, die mit der Trafik, ist wohl die von Lange Gasse und Zeltgasse. Der kleine Platz dazwischen ist noch nicht glatt asphaltiert wie heute, sondern gepflastert, in den Rillen zwischen den Pflastersteinen wächst da und dort Gras und Löwenzahn.
    Und der junge Mann wird die Straße überqueren und die Tabaktrafik betreten. Und wird eine Packung Zigarren kaufen und die Trafikantin wird ihm zulächeln. Und er wird denken:
Ach Gott, diese dürre Gräte, die ist mir zu alt! Aber zurücklächeln wird er trotzdem, denn er ist ein charmanter Mensch.
    Auf Wiedersehen, sagt die Trafikantin und sie betont das Wort Wiedersehen ganz besonders. Ja, ja, denkt Horváth, b’hüt dich Gott, schöne Gegend. Und geht mit großen Schritten an der Fleischerei neben der Trafik vorbei, obwohl da, in der offenen Tür, recht verführerische Würste hängen.

Und da sitzt einer im Zug. Sitzt im Zug und macht sich Notizen in ein kleines, schwarzes Buch. Ein Mann mit fahlen Haarbüscheln auf der Stirn, einem vergilbten Schnauzbart, der die Zahnlosigkeit (maximal drei Zähne) kaum mehr   hinreichend kaschiert. Sieht sein Spiegelbild in der Fensterscheibe, draußen ist Nacht. Sitzt im Speisewagen und schreibt und trinkt.
   Ist am Abend in Paris eingestiegen und wird am Morgen in Wien sein. Mit einem Zug, der durch die Schweiz fährt, nicht durch Deutschland. Längst ist er der letzte Gast im Speisewagen, ein Gast, der nichts isst, sondern nur trinkt und immer noch ein Glas mehr bestellt. (…)
   Ach ja, natürlich, denkt Roch, das ist Joseph Roth. Seine Leber wird nicht mehr lang durchhalten und auch die anderen Organe sind schon recht mitgenommen. Er weiß das, er ist ein Mann, der sich über seine Lebenserwartung keine Illusionen macht. Aber die Mission, in der er nun unterwegs ist, will er noch erfüllen.

… saß auf einer Bank, murmelt er, saß auf einer Bank im Volksgarten … saß auf einer Bank im Volksgarten mit – ach ja: mit aufgestelltem Mantelkragen  … Die Bäume kahl, die Rosenstöcke – was heißt das – verparkt? … Ach so: verpackt. Das heißt, bereits eingewintert.

   Also: … saß auf einer Bank im Volksgarten mit aufgestelltem Mantelkragen. Die Bäume kahl, die Rosenstöcke verpackt. Saß und schaute … Ja klar: … und schaute aufs Burgtheater
Also, das ist doch offensichtlich nicht Musil!
   Nicht?
   Nein, definitiv nicht, sagt Roch. Das ist nicht Musil, Lisa, das ist Thomas Bernhard!    Thomas Bernhard, wie  er zwei Stunden vor der  Uraufführung seines Bühnenstücks  Heldenplatz auf einer kalten Bank im Volksgarten sitzt und sich fragt, ob er Richtung Burgtheater weitergehen oder sich diese voraussichtlich schreckliche Uraufführung lieber ersparen soll. Zweifellos eine interessante Perspektive und sicherlich eine signifikante Passage – aber das werden Sie doch nicht für den Anfang des Romans gehalten haben!

Lisa hat die Blätter durcheinander gebracht, aber das macht nichts, auch Herr Rochs Fantasie wird angeregt, nochmals nachzusinnieren, zu versuchen, die Dichter zu sortieren. Und an Lisa zu denken. Vielleicht sind die vielen Dichter ja auch zum Vorwand geworden, dem alten Herrn Roch eine fantasierte Romanze zu gönnen. Oder Peter Henisch wollte seine mehr amüsanten als informativen oder gar unerhörten Geschichten über die Schriftsteller bloß nicht so schematisch erzählen wie Volker Weidemann, Uwe Wittstock oder Ralf Höller. Er hat ha nicht nur ein Jahr oder einen Monat im blick zu haben, sondern eben ein Jahrhundert.

Ja, und: Zu diesem Jahrhundert gehört nicht nur, dass die Schriftsteller durch die Welt oder von Kaffeehaus zu Kaffeehaus getrieben werden, dazu gehören auch die Flüchtlinge im 21. Jahrhundert. Lisa hat ein Flüchtlingsmädchen zur Freundin, Semira. Jetzt droht Semira die Abschiebung. Ob da nicht der alte Herr Roch in seinem Depot in der Florianigasse helfen könnte?

Ein Jahrhundertroman, ein Roman, dessen Autor den langen Blick hat, erzählfreudig verknüpft Peter Henisch das Alte mit der Jungen, packt auch noch die Kurve zu den Geschichten der neuesten Zeit. Ein sympathischer Roman, österreichisch in seinem milden Herabschauen auf die angesammelten Dichter. Nur Doderer ist eine Ausnahme, ein ungenießbarer Eigenbrötler, ein narzisstischer Nazi, der kriegt mehrPlatz.

Wer ich bin.  Nämlich der Schriftsteller, auf den die Kulturnation Österreich gewartet hat. Der Autor, auf den man stolz sein, den man als Repräsentanten des neuen und alten Österreichertums herumreichen kann. Jetzt sind jene, die noch vor kurzem das Maul gegen mich aufgerissen haben, auf einmal kleinlaut. Auch wenn sie hinter meinem Rücken mauscheln, klar, darüber mach ich mir keine Illusionen. Ich hab nach wie vor Feinde, vielleicht jetzt erst recht. Aber viel Feind, viel Ehr – nächstes Jahr, wird gemunkelt, soll ich den Großen Österreichischen Staatspreis bekommen. Und übernächstes vielleicht sogar den Nobelpreis. Es gibt einflussreiche Leute, die sich dafür einsetzen wollen – darunter, wohlgemerkt, auch ein paar Jüdinnen und Juden.
    Denkt Doderer. Und wenn er so denkt, richtet er sich gleich wieder ein wenig auf. So wie er dasteht, am Fenster, und in die Nacht hinausschaut. Brust heraus Bauch hinein, vielleicht schafft er sogar noch den Ansatz einer Erektion. Er ist Doderer, er ist stolz auf sich – auf die immerhin um dreizehn Jahre jüngere Frau an seiner Seite, auf Dorothea, ist er auch stolz.



2021 – 290 Seiten

2-3


Haruf
29. März 2022, 16:27
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Kent Haruf:
Ein Sohn der Stadt

Dann, etwa Mitte Februar, schlug dieses persönliche Gefühl von Schock und Angst plötzlich in Feindseligkeit und offene Empörung um. 

Kent Haruf arbeitet gerne mit solchen Voraussagen. Das zeigt, dass er als Autor den Überblick hat und dass man ihm vertrauen und weiterlesen kann, wenn er Spannung verspricht. Für den Roman delegiert Kent Haruf seine Erzähler-Autorität an den Zeitungsmann der Stadt, Pat Arbuckle, den er als Beobachter und als Akteur ins Geschehen steckt. Eigentlich geschieht ja nicht viel in Holt/Colorado. „Ein Sohn der Stadt“, Jack Burdette, ist plötzlich verschwunden und kehrt nach acht Jahren ebenso unvermutet wieder zurück. Er schien verloren – später stellt sich heraus, dass er in Kalifornien war, aber das liegt außerhalb des Holter Horizonts – und das hat die Stadtgesellschaft – zumindest einen Teil davon – ganz schön ins Vibrieren gebracht.

Jack Burdette war kein großes Licht in der kleinen Stadt. Aber er war groß und eignete sich als Highschool-Football-Star, was in den USA zu sowas wie Ruhm verhilft. Wegen dieser ‚Qualifikation‘ darf Jack Burdette zum ‚Studieren‘, was ihn wenig interessiert und was er auch bald beendet, da er im Footballteam jetzt nur einer von vielen besseren ist. Er geht zurück nach Holt.

  Ich rutschte ein Stück weiter am Tresen und bestellte noch ein Bier. Wanda Jo Evans saß ganz allein an einem Tisch. Sie winkte mir, und ich ging rüber und setzte mich auf einen Stuhl neben sie. Jack Burdette stand am Billardtisch und unterhielt sich mit einer Gruppe von Männern. Schwer, kräftig, massiv, eine imposante Gestalt, stand er da und redete, gestikulierte mit einem vollen Schnapsglas in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand, sein Gesicht schwebte über denen der anderen, erhitzt und lebhaft, die Augen ein bisschen glasig. Alle Männer sahen ihn an, während er schwadronierte. (…)

So hätte es ewig weitergehen können. So war es schon seit mehr als zehn Jahren gegangen. Im Jahr 1970 dann wurde Doyle Francis fünfundsechzig und beschloss, in Rente zu gehen.   Und Doyles Ausscheiden aus dem Arbeitsleben entpuppte sich als das Erste in einer Reihe von Ereignissen, die für Wanda Jo das Ende bedeuteten, obwohl das damals weder sie noch sonst jemand ahnte.

Dann wird Jack Burdette Manager der Farmer-Kooperative in Holt. „Dann war es 1971. Frühling.“ Und dann war Jack Burdette verschwunden und mit ihm viel Geld. Die Stadt vibriert – und richtet es sich wieder zurecht. Pat Arbuckle und Jack Burdettes Frau Jessie finden zueinander und so hätte es weitergehen können.

Die amerikanische Kleinstadt (des Mittleren Westens) ist eigentlich auserzählt. Auch in „Ein Sohn der Stadt“ ist der Plot nicht neu, ist die Geschichte routiniert und anschaulich geschrieben. Der Titel gibt sich wenig Mühe, auch der Originaltitel „Where You Once Belonged“ ist eher banal und auf dem Niveau des Schlagers. Kent Haruf hat sechs Romane geschrieben, die in Holt angesiedelt sind. Es geht um die Menschen, die fiesen und die mitmenschlichen, Politik oder Geschichte spielen nicht in die Stadthinein. Am bekanntesten ist wohl der letzte Holt-Roman: „Unsere Seelen bei Nacht“. Auch hier wird die Kleinstadt umgetrieben, doch verleiht die Altersfreundschaft zweier einsamer Menschen, Addie und Louis, dem Roman ungeahnte Wärme.

1990 – 280 Seiten

3


Salzmann
27. März 2022, 16:38
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Sasha Marianna Salzmann:
Im Menschen muss alles herrlich sein

»Die Leute schlossen die Augen,
um sich in eine Vergangenheit zurück-
zudenken und darüber so lange
Unwahrheiten zu erzählen, bis sie
stimmten. Immer und immer wieder.
Alle hatten sich auf eine Welt geeinigt,
die draußen nicht mehr stattfand,
und hoben darauf die Gläser.«

Ein schönes Zitat. Im Roman von Sasha Marianna Salzmann findet man es abgedruckt auf der Rückseite des Umschlags. Es ist aber eine Beobachtung, die immer passt, nicht nur in „Umbruchzeiten“, nicht nur, „wenn politische Systeme zerfallen“. In die „Vergangenheit“ geht es immer nur zurück und wenn man sie so sehen will, wie man meint, dass sie war, schließt man die Augen, denn das Denken ist nie „wahr“, die Vergangenheit gibt es nicht, es ist immer eine. Oft in eine Zeit, als man jung war und die Wege offen schienen.
Das Zitat grenzt sich ab, will die Kontrolle und Unabhängigkeit bewahren gegenüber den ‚Autofiktionen‘. „Die Leute“, das sind die anderen, und zwar „alle“. Im Roman ist es Edita, die nichts mit solchen „Unwahrheiten“ zu tun haben will, nichts mit einer Heimat oder Herkunft, die man sich schön säuft, nichts mit diesen Vorfahren. Edita nennt sich „Edi“, sie sucht ihre Identität in der Distanz, in bunten Haaren, im Joint. Edi-ta ist die Tochter von Lena.
Von dieser Lena erzählt Sasha Marianna Salzmann zunächst „detailsatt“ (Wolfgang Schneider, Tagesspiegel). Das Leben in den Siebzigern, den Achtzigern und den Neunziger Jahren, letztere als Zeitalter des „Fleischwolfs“ betitelt. Sie durchläuft die üblichen Stationen für ein Kind in der Sowjetunion, deren Teil damals die Ukraine noch war.

„Auf allen Fotos der Einschulungszeremonie   schaute Lena grimmig. Hunderte von Schülerinnen standen auf der Treppe der Schule in Reihen und hielten sich aneinander fest, sie lächelten ihren Eltern zu, ohne die Hand des Nachbarkindes loszulassen und zu winken. (…) Lena fühlte sich taub vor Scham und beschloss, in den kommenden zehn Jahren, die sie auf diese Schule gehen würde, nie wieder den Mund aufzumachen. Nie wieder. (…)
Obwohl Lena in der Schule oft genug »Wir sind aktive Dinger / Denn wir sind Oktoberkinder / Oktoberkind, vergiss nicht — / Bald bist du Pionier!« mit den anderen aus der Klasse anstimmen musste, war für sie Pionier eigentlich nur der Name   des Fotoapparats, den ihre Eltern zu Hause oben auf dem Schrank aufbewahrten und den sie bis jetzt nur zu ihrer Einschulung herausgeholt hatten. Sie verstand die Tragweite des Übergangs vom   Oktoberkind   zum Pionier erst, als ihre Mutter zu Beginn der dritten Klasse verkündete, dass sie ab dem nächsten Sommer   in ein Lager fahren werde, wo sie in der Natur herumtoben könne und gleichzeitig lernen werde, Teil einer Gemeinschaft zu sein, eines Kollektivs.“

Der Pfad zum Eingang des Pionierlagers ist die „Allee der Helden“. Die Prüfungen besteht Lena schließlich auf die obligatorische Art. „Ein Mädchen aus Sotschi fährt nach Moskau, in die Hauptstadt, und will eine große Wissenschaftlerin werden, wichtige medizinische Entdeckungen machen. Das wollte ich tatsächlich, glaube ich. Die Professoren müssen sich totgelacht haben über mich, als ich komplett ohne Bares zur Prüfung angetreten bin, einfach so.“ Sie wird nicht für ihr bevorzugtes Fach Neurologie zugelassen, landet in der Dermatologie, wo aber eh mehr Geld zu verdienen ist – dank älterer Männer mit verschwiegenen Leiden. Auch die Familienplanung ist von Formalien bestimmt, welche aber maßgeblich von der Familie auferlegt werden. Ein Tschetschene erweist sich als patent, ist aber nicht für die Heirat zu haben, es springt Daniel ein, aus jüdischer Familie, er drängt zur Ausreise. In Deutschland ist die Ärztin Lena Krankenschwester. Die Vergangenheit ist eingelegt, die Zukunft? Ungewiss.

Sasha Marianna Salzmann wendet den Blick auf Edi.

Ich war damals jung, kräftig, dünn und ohne bestimmtes Geschlecht — lauter Vorteile beim Pilgern. So zog ich los … Das waren nicht ihre Gedanken. Aber wessen dann?  Der Name der Autorin war ihr im Halbschlaf weggerutscht. Und wohin würde sie pilgern, wenn sie könnte? Allein würde sie das ohnehin nicht wollen, selbst die Frau aus dem Buch, deren Zeilen sie beim Aufwachen wie einen Ohrwurm im Kopf hatte, war mit einem Typen losgezogen, auch wenn sie ihn kaum kannte und ihm erst mal einen neuen Namen gab. Edi schaute aufs Handy, das neben ihr auf dem Kissen lag, sprang auf und lief zum Schrank.   »Du hast doch ein Date.« Leeza schnipste den Stummel weg und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, als wäre sie jetzt zu irgendetwas Waghalsigem bereit.
  »Merkt man mir das an?« Edi überkam die Angst, dass ihre Stirn glühte, das tat sie meistens, wenn sie aufgeregt war, sie zog das Xanax-Cap tiefer ins Gesicht.
   »Immer wenn du so aussiehst, als wüsstest du nicht, wie man   Kleidungsstücke kombiniert, weiß ich, da drin wartet jemand auf dich.« Der weiche Flaum auf Leezas Oberlippe kitzelte Edis Wange, als sie ihr einen Kuss gab, dieses Mal näher am Mundwinkel.  »Viel Vergnügen!«

Edi hat keine Vergangenheit. Sie weiß nicht mal sicher, wer ihr Vater ist. Edis Zukunft ist die Gegenwart, die Suche nach einem Ich, die Selbst-Findung. Sie hat nicht die Welt der Vorfahren, eine Welt [], „die draußen nicht mehr stattfand“. Es gibt nicht den Zusammenhalt der Familie, keine Großmutter, in die man sich wickeln könnte, im Angebot sind vereinzelnde Drogen, bunte Haare als Alleinstellungsmerkmal, das alle haben, die „Xarax-Cap“, die ungezwungene Partnersuche, wenn man die Augen nicht schließen will, sieht man zu viel. Was davon ist die Wahrheit? Immer wieder aufspringen und weglaufen.

Die für sie zuständige Kollegin hatte es noch drastischer formuliert, als sie ihr den Text zurückgegeben hatte. Edi solle sich nicht einbilden, dass die Welt um sie herum verschwinde, wenn sie die Augen schließe — sie wäre dann noch da. Sie drehe sich wunderbar auch ohne Edi und all die anderen, die glaubten, ihre Recherchefaulheit damit kaschieren zu können, dass sie behaupteten, Konstruktivisten zu sein, weil sie den Begriff schon mal gegoogelt hatten. Das hier sei schließlich kein Lifestyle-Magazin und auch kein Blog, für den sie ab und zu was tippe. »Im Politikressort gibt es kein Ich! Hier passieren wirkliche Dinge, und wir berichten darüber. Man bildet euch aus, gibt euch eine Chance, und dann hört man am Ende trotzdem nur ich, ich, ich, ich, ich! Ich kann es nicht mehr hören, diese Ich-Sucht!« Da war Edi schon auf den Gang hinausgestolpert.

Sasha Marianna Salzmann führt eine weitere Person ein: Tatjana, eine Freundin von Lena, und mit ihr geht der Weg nach 250 Seiten wieder zurück in die Ukraine. Erneut schlingert eine Frau in der Ukraine um die Steine, die im Weg liegen. Im Restaurant, wo Tatjana bedient, bricht eine Schlägerei aus, Tatjana flieht nach Kriwoi Rog und arbeitet in einem Spirituosen-Kiosk, bis dort Michael auftaucht, der sie mit nach Deutschland nimmt, dann aber verschwindet. Edi trifft Tatjana wieder auf der Fahrt nach Jena zu Lenas fünfzigstem Geburtstag. Gelegenheit, sich über ihr Leben und ihre Abgründe zu erzählen. Für die älteren Frauen liegen diese Abstürze im Ver- und Zerfall der Sowjetunion, von dem sie sich auch in Deutschland nicht erholen können.Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch.“ Edi und Tatjanas Tochter Nina haben wenig gemein außer ihrer Herkunft, beide aber stemmen sich gegen eine „unwahre“ Vergangenheit. Nina „hat mir ausrichten lassen, dass sie von uns allen nichts wissen will.“

Vier Frauen, die unterschiedlichen Anteil am Erleben, am Geschehen, an den Lebensräumen, am Roman haben. Lena ist die Zentralperson des ersten Teils, Tatjanas Beziehung zu Lena wird nicht erzählerisch motiviert. Edi ist in ihrer Rolle als Tochter beschrieben, aus der sie fliehen will, sie kriegt – ebenso wie Nina – eine „Ich“-Stimme, während sonst die Handlung in der dritten Person erzählt wird. Nina und Edi sollten ein Gegengewicht zur überlebten Vergangenheit und zu deren abgestorbenem Staat sein, eine teils aggressive, teils fast autistische Kontroll- und Kommentarinstanz. Die Aussagen sind scharf: „Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch. Sonst kann man wenig mit Sicherheit sagen. Ich habe mir Filme, selbstgedrehte Videos, alles, was ich kriegen konnte, angeschaut, um zu begreifen, was ihnen alles passiert sein könnte und in welches Paralleluniversum die Zentrifugalkraft der Geschichte sie hinausgeschleudert hat.“ Die Romananteile der Jungen sind aber zu gering. Sasha Marianna Salzmann plant, alle vier Frauen zu Lenas 50. Geburtstag in Jena zu versammeln, doch das Treffen misslingt. Auch das eine Botschaft des Romans, vielleicht die Botschaft. Die „Herrlichkeit“ als Utopie zerstiebt angesichts des Elends – nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der prekären Gegenwart in Deutschland. „Berlin war ein Schild“, so heißt es einmal, „das besagte: ‚Alle Richtungen‘. Es ging überallhin. Eine Startlandebahn für alle, die noch tanken mussten.“

„Im Menschen muss alles herrlich sein“ hat in seiner Komposition einige Tücken. Interessant ist die Erzählung von Lenas Hineinwachsen in die sowjetische Gesellschaft und raffiniert sind die vielen Detailbeobachtungen und Sprachbilder aus dem anstrengenden und noch ausweglosen Denken der jungen Frauen. Darin steckt wohl eine gehörige Portion von Sasha Marianna Salzmann.

2021 – 380 Seiten

2

Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich (die aber bei diesem Roman wenig wegweisend ist)

Gespräch im Literaturclub des SRF – 0:15

Sasha Marianna Salzmann: Darkroom des Erzählens – Literaturforum im Brecht-Haus – 1:05

Homepage von Sasha Marinna Salzmann




Kühsel Hussaini
18. Februar 2022, 18:54
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Mariam Kühsel Hussaini: Tschudi

Courbet … in Berlin … Berlin ganz weit … ganz groß …  und die ganze Welt kommt … und die ganze Welt staunt…  und Berlin … atmet. Seine Augen küssten diese Vorstellung.

1896 wurde Hugo von Tschudi Direktor der Nationalgalerie in Berlin und kaufte als erstes Werk für die Ausstellung das Bild „Wintergarten“ von Édouard Manet. Damit war mit einem Frühwerk des Impressionismus die Moderne in Deutschland angekommen. Das gefiel nicht allen. Der Deutsche Kaiser, Wilhelmzwo, war gar nicht angetan.

«Na aber Herr von Tschudi, diese ganze neue Malweise da, in ihrer Subjektivität so höchst disziplinlos und provokant!», Wilhelm II. war erleichtert, diesen Satz, den er seit dem Morgengrauen auswendig gelernt hatte, fehlerfrei aufgesagt zu haben. «Und was höre ich da allerorts von einer Sezession? Hier in Berlin? Unfertige Bilder sind doch keine Lösung! Jeder will jetzt eine Persönlichkeit sein! Will Herr sein! Das führt in die reinste Sozialdemokratie!»
Der Ceremonienmeister wusste nicht zu handeln, weil Tschudi nun, vollkommen lässig und entspannt aber unnahbar und bedrohlich erhaben, seine Hand vor den Kaiser hielt und Einhalt gebot.
«Ihr seid doch ein moderner König, mein König. Unfertig ist der falsche Begriff— offen würde man eher sagen. Und der Kult um Persönlichkeit ist ein eigentlich aristokratisches Grundprinzip. Das sollten wir beide doch am besten wissen, nicht wahr, Eure Majestät?»
Wilhelm verlor sein gelerntes Lächeln wieder, er hatte es doch so sorgfältig vorbereitet und nun das!  (…) Die Franzosen sollen sich nicht mehr blicken lassen unter denen, die Europa erst machen! Die französische Küche, die ist es wert, geschätzt zu werden, Französeleien jedoch in Form von Unverschämtheiten wird es nicht geben in den Häusern unserer edlen deutschen Malerei!

Als „edler deutscher“ Maler gelten (dem Kaiser etwa) Adolph Menzel oder Anton von Werner. „Werners Gesicht war verständnislos, aber klar. (…) «Neue Zeiten, meine Herren», räumte Werner auf. «Jetzt wichsen Franzosen auf die Leinwand und wir sollen noch davor stehen und es anbeten.»“Tschudi findet auch Unterstützer, vor allem in Max Liebermann oder Max Slevogt und anderen Mitgliedern der „Berliner Secession“. Die Anti-Impressionisten motivieren ihre Abneigung nationalistisch, die Sympathisanten geben sich „offen“, schauen genau in das Bild. Mariam Kühsel Hussaini verleiht ihnen Blick und Stimme, der Leser darf sich hineinfühlen in die Betrachter.

Schließlich, Manet.
Der Klarsteller unter den Malern.
Dschungelartige Gewächse   — ein Blick — fesselnd und abgeneigt, bedrohlich, unbeherrscht.
Sie, wie sie da saß, mitten im Bild, es war die Art wie sie ihre verstörenden Linsen ins Nichts bohrte, wie ihr stummes seelenkrankes Gesicht weich schrie, sie war es, sie war das Bild.
Tschudi trat noch näher heran, neigte den Kopf, das große Werk wie ein nervöses Fenster vor sich, die Leute im Rücken, auch die vom ersten Saal waren alle gekommen, wie in Trance, gelblich ernst, Tschudis steinernen Kolossrücken abwartend und die fremden Flecken anstarrend.
Sie ist es, dachte er. Sie ist es.
Seine Zunge schmeckte die köstlichsten Früchte, allein beim Anblick solcher Malerei.
Ein rasches Frauengiftrot über ihrer makellosen Wange, eine leblose Hand, nach welcher er, der Bärtige neben ihr, der Geduldige, der Erschrockene, vor ihr Bangende doch so zart verlangte und die er nie mehr berühren wird.
Tschudi vergaß sein Dasein in diesen Minuten. Die Leinwand saugte es zu sich.
«Treibhaus», las jemand jemandem vor.
Sein Blick fiel auf ihren Schoß, da lag ein Seidenschirm. Die Farbe, irgendein ehrgeizloses und durchsichtiges CremeWeißgold, raubte alle Präsenz.
Wie in einem Zuge hingezogen und noch ein wenig abgeglitten, vollführte Manet das eigentliche Portrait, einen Gegenstand. Mittelpunkt des Universums, ein Seidenschirm. Er war Manet.  In ihm vibrierte der neue Wahnsinn, vor dem Maupassant fast schon gewarnt hatte. Der Wahnsinn eines neuen Zeitalters, das sich so ungut ankündigte?

Ist der Blick in die impressionistischen Gemälde selbst impressionistisch? Kann Literatur das leisten, macht das Sinn? „So leistet dieser Roman durch seinen literarischen Eigensinn, durch eine selbst impressionistische Sprache, auch etwas für die Kunstgeschichte und lädt ein, die Werke so neu zu sehen, als sähe man sie an Tschudis Seite zum ersten Mal.“ (Niklas Maak, FAZ) Mariam Kühsel Hussaini überträgt ihren „malerischen“ Stil auf die Beschreibung von Stadt-Landschaften und Personen, wobei sie die Eindrücke abwechselnd ihren Figuren in den Sinn legt. Es entsteht ein Wechselspiel von verlebendigter Umgebung und mentalen Stimmungen.

Der Baum vor dem Fenster wippte. Tschudi stand im Zimmer und sah auf ihn. Verschlucke mich, bat er. Es war einfach nicht möglich: ein Urwald war ausgebrochen! Die Straße schäumte Smaragdgrün auf. Man konnte schon nicht mehr hindurchsehen. Hunderte Umdrehungen an nur einen Ast gebunden. Gestern Nacht, flüsterte Tschudi, trat ich hier heran und du mir entgegen, du, wild, ungeheuerlich, Ungeheuer der Liebe. Ich wich ich schritt zurück und fürchtete mich vor dir und deiner Schönheit. (…) … und der Baum war von leisem Orangegelb heimgesucht. (…) Die Gondel, die nun einmal nicht viel mehr ist als eine Wimper auf dem Wasser, schaukelte so heftig, dass sie sich gleichzeitig aneinander festhielten, festdrückten. (…) Draußen atmete Tschudi die Sprühregenluft ein. Die Straßen glänzten wie bei Caillebotte silberblau und auch die Schultern der Männer und ihre metallen aufleuchtenden Hüte, die an ihm vorüber schwebten, auf seinem Gang zum Restaurant. Wild zischende Droschken durchschnitten die Konzentration. Die Leute schwirrten an ihm vorbei, voller Hast und voller Ernst, wie Wellendruck. Was ist mit den Minuten heute, fragte er sich und sah auf, zu den hoch oben sich zu einem einzigen ewigen Innehalten verschwörenden Wolken.

Man kann dieses Sprechen auch als manieriert bezeichnen, auf jeden Fall ist der Stil auffällig, verstörend, betörend. Auch die Komposition der romanhaften Biografie orientiert sich an der Methode des Impressionismus, „die durch die stimmungsvolle Darstellung von flüchtigen Momentaufnahmen einer Szenerie gekennzeichnet ist“. (Wikipedia) „TAGE SPÄTER SPAZIERTE TSCHUDI gegen späten Nachmittag durch den kronenzwitschernden Tiergarten.“ So beginnen diese Momentaufnahmen, auf über 70 Kapitel bringt es Mariam Kühsel Hussaini auf den 320 Seiten. Alle sind voller Farben, voller Gezwitscher, voller Gespräche, voller Vergleiche. „DER VORHANG GING AUF.  Er war Dunkelrot wie in der Oper.“

Hugo von Tschudi ist „hochgewachsen“. Kühsel Hussaini wird nicht müde, das zu beschwören. „Er war sehr groß von Wuchs, sehr kräftig, sehr auffällig. “Ein magischer  Ausdruck, starr, voll sinnlichstem Umfang,  er war so groß, in dem er da nur stand. Diese Präsenz. Diese Ergriffenheit seines Blicks in Richtung Schloss und seiner glänzenden Kuppel. Der ungeheure Körper dieses ihr unbekannten Mannes.“  „Überhaupt war er begehrenswert und zwar ganz und gar.“ „Tschudis Herz quirlte leicht und erwartungsvoll in seinem schweren Körper.“ Aber, und das macht ihn für die Schriftstellerin darüber hinaus faszinierend: Er leidet an Lupus vulgaris, kurz: Lupus.

Kühsel Hussaini malt auch diese Krankheit aus. „Tschudi schwankte kerzengerade auf ihm fort … abgewandt, den Blick in die vielgeliebte Lagune bohrend, Torcello, mit seiner teuflischen  Brücke … San Francesco, die  Toteninsel … mit ihrer schwarz flüsternden Mauer aus Zypressen,  sich kleiner und kleiner schaukelnd in Tschudis Linsen … denen eine Träne floh, über kleine rotweiche Knötchen, die an   den Rändern ihrer abgeheilten bläulich braunen  Wunden   neue Knötchen   bilden würden  … bald wieder … tief in die Haut ineingeschlängelt, über die Nase, beide Wangen,   im Inbegriff, diesen Schatz von Antlitz schwer zu entstellen.

Man kann sich über die Personen und Auseinandersetzungen im Internet informieren. Mariam Kühsel Hussaini greift sich bestimmte Aspekte heraus, um sie zu einer Tschudi-Hymne zu arrangieren. Bei Tschudi gerät sie in pathetisierte Verzückung, die „französische“ Malerei betrachtet sie durch die Augen und durch das Herz von Tschudi, Liebermann & Co. Und sieht die Bilder der Impressionisten deshalb mit deren – oberflächlicher – Euphorie. Unser Blick hat sich durch die zeitliche Entfernung abgekühlt, kann sie neutraler einordnen. Die politische Grundierung des Konflikts leuchtet die Autorin in vielen Szenen an, der nationalistisch intrigante Kaiser und der Kunstliebhaber und Leiter der „National“-Galerie treffen öfters aufeinander, der Kaiser hat gegen die selbstsichere Autorität von Tschudi keine Chance, er muss zur Macht greifen. In den Stil von Mariam Kühsel Hussaini muss man sich einlesen, er kann auch nerven, die „geradezu lodernde, unerhörte Sprache“ (Elke Heidenreich, ZEIT) drängt sich schon sehr auf. Der Roman wird dazu anregen, sich neben und nach dem Lesen weiter mit dem Thema zu befassen, vor allem die Bilder anschauen.

Malerei ist, wenn die Grundierung keinen Ausweg und die Akzente keine Ausreden mehr kennen.
Wenn sie verschwimmen,wie der Blick verschwimmt.
Wenn Grün zu Rot wird, weil es Licht sein will.
Wenn   alle Zeiten in fünf Strichen vereinigt sind. Alle Menschenalter und alle Tode.

2020 – 320 Seiten

Buchtipp im Handelsblatt

Rezension von Harry Nutt, Frankfurter Rundschau

2-3


Koch
2. Februar 2022, 17:39
Filed under: - Belletristik

Ariane Koch:
Die Aufdrängung

Bin nicht ich es, die alles gesehen hat, obwohl sie blind spielt?

Aufdrängung, die. Das klingt nach belastend, unangenehm, in der Substantivierung könnte es auch ein Begriff aus der Psychiatrie sein, wie Übertragung, mehrdeutig, nicht recht greifbar. In Russland warnt man vor „künstlicher Aufdrängung von Homosexualität“. Die Aufdrängung kann auf ein Objekt, eine Person einwirken, aber auch von der Person als Instanz ausgehen. Negativ konnotiert ist beides.

Das Cover kann weiterhelfen. Ich sehe eine Frauen(?)-Hand, die sich auf ein Fell legt. Ein lebendiges Fell? Ein Tier? Von der Farbe her könnte es ein Esel sein, ein Wildschwein, Hand und Fell scheinen aber vertraut: also Hund. Drängt sich die Hand, drängt sich der Hund auf? Weshalb dann die – gesuchte (?) – Nähe.

Aber auch der Text lässt einen im Unklaren. Es gibt zwar Hinweise, vage Indizien, Ariane Koch entzieht ihnen aber sofort den Boden. Der „Gast“ hat ein Fell, aber er kann sprechen, er hat spitze Zähne, ernährt sich von Stubenfischen und Socken, er hat „Pinselfinger“, er beansprucht Platz im Haus, den der Hausmensch (Mann? Frau?) für sich haben möchte, er mischt sich ein, was sich für einen „Gast“ nicht gehört, lässt sich nicht vertreiben, nicht abwimmeln. Aber: Er wird als GAST bezeichnet.

„Das Ganze spielt sich ab in einer Kleinstadt im Schatten eines pyramidenförmigen Berges, in der alles klein und puppenartig ist und in der noch nie etwas Interessantes geschah. Die „Insassen“ verbringen ihr Leben auf ihren Sofas, die zum Sinnbild des Trägen, Faulen, schon halb Toten werden.“ (Nicole Seifert, ZEIT)

Der Gast liegt zudem ständig [auf dem Sofa] herum, als sei es dafür gedacht. (…) Morgen schon werde ich dem Gast befehlen, sich vom Sofa zu erheben, es hinauszutragen   und auf der Straße zur Mitnahme bereitzustellen.

Bedrückung, Angst, Obsessionen können durch fiktionales Schreiben materialisiert werden, man kann davon „erzählen“ und sich – vielleicht – davon befreien, es bewältigen oder doch zumindest etwas einhegen. Zur Psyche gehört aber das Soziale. Die Assoziation geht vom „Gast“-Arbeiter zum Flüchtling. Ariane Koch spricht von lumpiger Bekleidung, von Asyl, von Beherbergung.  Das alles bleiben Notwendigkeiten, der „Gast“ aber stört doch, er will sich nicht gehörig integrieren oder assimilieren.

Ich blättere in einem Parasitenbuch und erkenne den Gast in allen Exemplaren wieder. Ich lese, dass Parasiten — ganz im Gegensatz zu Löwen — ihre Opfer nicht verschlingen, sondern sanft ins Gemeinsame zwingen, ihre Wünsche   zu den Wünschen   des Wirts   machen, wahrscheinlich wie in einer Ehe. Es ist ein gemächliches Sterben. Vielleicht ist der Gast so sehr in mich übergegangen, vielleicht hat er seins längst zu meinem gemacht, dass ich gar nicht mehr den Gedanken   hegen könnte, mich gegen ihn zu wehren.Der Gast hat sich derartig in mir ein- genistet, dass ich — sogar wenn ich mich noch gegen ihn auflehnen wollen würde  — mich schlussendlich nur selbst zerstörte.  
Das ist das Letzte, was ich zu denken im Stande bin, bevor ich über dem Parasitenbuch in einen Schlaf sinke, der mir vorkommt, als wäre es nicht mein eigener.

Wer einen Gast möglichst loswerden will, dem ist zu empfehlen, ihn auszuhungern.  Die Esswaren in den Schränken müssen verschweißt und vakuumiert sein. Auf das Einkaufen muss fortan verzichtet werden. Die Vorratskammer ist mit einem Reigen an Schlössern azusperren. Der Gast wird — sobald er sich alleine wähnt — hungrig zu den Schränken marschieren, aber nichts Essbares vorfinden. Es wird sein Gemüt mit sofortiger Wirkung garstig machen. Jedoch wird er es sich keinesfalls anmerken lassen, denn er hat Dankbarkeit zu behaupten — muss durch und durch von ihr erfüllt sein —, die sich aus dem temporären Dach   über seinem Haupt, sprich: aus seinem erduldeten Aufenthalt, speist. Der hungrige Gast wird nach erster Missstimmigkeit sodann in eine Lethargie fallen, die ihn gefügig macht. Er wird am Tisch sitzen und mich aus ausgehungerten Augenhöhlen anblicken. Was immer ich ihm befehle, empfängt er abwesend nickend. Er sagt und wirkt dabei, als wäre er vollends des Wahnsinns: Ich ernähre mich zunehmend gesünder und werde zunehmend   kränker. Es ist Zeit, wieder mit dem Trinken anzufangen. Bin ich ein Fisch, der am Ufer strandete? Erst wenn mich jemand mit Flüssigkeit begießt, erwache ich zum Leben.

   Dann bricht der Gast in Gelächter aus.

   In der Nacht, als der Gast in seinen albtraumigen Schlaf gefallen ist, messe ich seines Gebisses Umfang.

Es kann natürlich sein, dass der „Gast“ nur das schlechte Pendant zur Erzählerin ist, ein eigensinniger Avatar, der nur solange benötigt ist, bis man mit seinem anderen Ich wieder fusionieren kann. Die eine ist ohne die/den andere/n nicht denkbar. Sie hängen aneinander. Das Auseinanderfallen wie auch die Kongruenz sind ge- und erträumt. Auch der Traum lässt sich erzählen und bildet das Gegengewicht zum rationaleren All-Tag. Wenn beide übereinstimmen, wenn sie sich angleichen, ist man erwachsen. Wenn’s gut geht. „Das Leben ist ein Abgleichen mit Bekanntem.“

Der  Gast wirke zwar klein, würde aber immer  größer werden, so dass alle zehn Zimmer  vonnöten  seien, ihn zu beherbergen, und somit müsse vorerst vertagt werden, dass sie — also meine werten Geschwister — ins Haus einziehen könnten, falls dies der Grund für ihr Auftauchen sei, auch wenn mir die Dringlichkeit sehr wohl bewusst wäre, schließlich hätten sie Schatten oder besser gesagt Kinder, die diese Dringlichkeit untermauerten, aber genauso oder fast noch mehr verdringliche auch der Gast das Wohnen  in diesem Haus. Er sei damals in Lumpen gewickelt und ohne jede Lebensfreude an meiner Tür kratzen gekommen, und so hätte ich mich dazu erbarmt, ihm temporäres Asyl zu gewähren, bis er die Lumpen wieder in anständige Tücher verwandelt hätte oder irgendwo ein wenig Lebensfreude fände, was leider bis jetzt noch nicht der Fall gewesen sei. Der Gast sei ja — wie ihnen sicher nicht entgangen sei — noch immer eine geradezu erbärmliche Gestalt, so dass ich sie inständig bitten würde, ihre ganze Menschlichkeit zusammenzunehmen und den Gast und auch meine Wenigkeit noch etwas im Hause hausieren zu lassen, wir beide würden es ihnen herzlich danken.

Wenn jedoch ein Gast, ohne den das universelle Gleichgewicht und das Haus zusammenbrechen würden, sich zu gehen entschließt, so ist durchaus in Erwägung zu ziehen, ihn aufzuhalten. Und wenn ein solcher Gast nun den Türgriff zu betätigen versucht, so ist es allenfalls angebracht, seine Pinselfinger in Gegenrichtung der Gelenke von der Klinke zu reißen, so dass er verschreckt aufschreit. Wenn ein Gast, den man gewaltsam aufzuhalten sich aus der Not heraus entschieden hat, sich loszumachen versucht, so ist es nötig, sich an ihn zu hängen.

Vielleicht spielt Ariane Koch bloß. Vielleicht hat sie Spass am Flirren der Existenz(en). Es gibt Vorbilder. Tiere werden zu Menschen und umgekehrt. Franz Kafka oder Bruno Schulz. (Vgl. Evi Fountoulakis, ‎Boris Previsic: Der Gast als Fremder: Narrative Alterität in der Literatur). Ariane Koch bebildert das Genre, alle Versatzstücke aus Psychologie, Politik, Pädagogik tauchen auf, Begriffe, Symbole, Metaphern verwirbeln sich in einer Traumerzählung. Den Gast sieht die als „Projektionsfläche“. „Sprachlich flankiert ist die Lakonie von einem gewissen Hang zum leicht verschrobenen, doppelbödigen Vokabular zwischen schweizerischem Idiom, Spaß am Antiquierten und vielen Kafka-Anspielungen.“ (Miryam Schellbach, SZ)

Am Schluss zieht die Erzählerin weg „aus dieser Kleinstadt, in der man dich töten will“. „Wir fahren immer weiter, die Sonne geht unter, die Straßen werden dunkler, ich bin die Letzte, die ihr Gepäck aus der Ablage hievt.

2021 – 170 Seiten

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag

Ariane Koch liest aus ihrem Roman Die Aufdrängung



Reisinger
31. Januar 2022, 16:06
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Jovana Reisinger:
Spitzenreiterinnen

Reisingers „Roman“ verteilt sich auf neun Personen, exakt: Frauen, die in kurzen Kapiteln in ihren je spezifischen Drangsalen vorgeführt werden. Fünf Tage hat Jovana Reisinger ausgewählt, in denen die Frauen auftreten, fünf „Frauen“-Tage. Ihrer Übersicht sieht man die Seelennöte nicht an. Am 14, Februar (Valentinstag!) ist Laura „erleichtert“, die anderen Frauen machen Ähnliches durch, teils Banales, teils für die Frau Einschneidendes. Die Frauen sind keine Personen, sondern Anschauungsobjekte, Facetten des femininen Leidens und ihrer Degradierung zum Objekt. Einige der Frauen gehören zusammen, treffen sich, leiden gemeinsam und hoffnungsvoll. Wie Brigitte: „Was sie jetzt braucht, sind Nährstoffe. Was sie jetzt dringend benötigt, ist Komfort. Und womöglich einen ganzen Tag lang Schlaf. Vielleicht ein kleines bisschen Hoffnung. Manchmal wird ja trotzdem alles gut.“

Die Männer sind abgehauen: weggelaufen oder gestorben, oder sie lassen sich nicht wegkriegen oder die Verbindung steht vor der Tür. Die Frau weiß nicht so genau, was besser oder schlimmer ist, sie weiß ja nicht einmal genau, was – für sie – gut oder schlecht ist. Die Männer heißen A. oder C. oder F. – der unbenannte Täter. So viel zum Spiel der Geschlechter. Aber „manchmal wird ja trotzdem alles gut.“

A. will in erster Linie Recht haben. Das Recht, über jeden Zustand und Körper in der Familie zu bestimmen. Am allerliebsten bestimmt er über den Körper und Zustand seiner Frau. Und wenn die ihn hintergeht, betrügt, belügt, manipuliert, dann darf er erst recht walten und schalten, wie es ihm beliebt. Selbst ohne stichhaltige Beweise. Er hat halt Instinkt. Menschenkenntnis. Ein Nasen für Intrigen. Und ausgerechnet seine Frau ist, das weiß A., eine besonders ausgschamte Intrigantin. Heute soll die Familie glücklich sein. A. hat sie allesamt ins Auto gesteckt, ist in die Hauptstadt gefahren, hat sie zum Einkaufen geschickt und zum Essen ausgeführt.

Die Frau und die andere Frau. „Gemeinsam werden sie sich retten.“ Frauen gemeinsam sind vielleicht stärker als die Frau allein, sie verbünden sich, sie sind Konkurrentinnen. Meist bleibt es bei Versicherungen.

Tina wird die fremde Frau suchen. Sie wird die fremde Frau finden. Und gemeinsam werden sie sich retten. Das weiß die fremde Frau noch nicht, aber Tina weiß es. Gedanklich tritt die Fremde erneut vor das Restaurant. Da steht sie. Schaut böse. Tina greift nach ihr. Sie lässt sich angreifen, die Frauen fallen sich in die Arme. Beide weinen. Happy End.

Wichtig ist auf jeden Fall, bereit zu sein, für jeden Fall. Selbstoptimierung ist angesagt, in allen Zeitschriften, ob sie jetzt Brigitte oder Tina oder Petra oder wie eine der anderen Frauen in „Roman“ heißen. (Insta gibt es noch nicht? Influencerinnen nennen sich anders, jede einzeln Massenware.)

Laura sitzt auf einem sehr bequemen Stuhl und hat neben sich eine Frau stehen, die ihre Hände massiert, und vor sich eine Frau hocken, die ihre Füße behandelt. Die Ganzkörpermassage bereits hinter sich, ist sie jetzt bereit für die Optimierung der äußeren Umstände. Schöne Hände, schöne Füße, schöne Haare, schönes Gesicht.Nur so wird in den neuen Lebensabschnitt   gegangen. Laura versucht, sich zu entspannen, in ihrem Hirn rasen die Gedanken jedoch nur so dahin. Der größte Tag im Leben einer Frau. Oder war’s im Leben einer Partnerschaft? Jedenfalls wird Laura heute aufgeräumt, wie ihr Vater das nennt. Da werden die Zuständigkeiten und die Verhältnisse geklärt, und Laura wird im Anschluss einen neuen Namen tragen und wissen, wo sie hingehört. Zu ihm nämlich, zum C. Seinen Namen annehmen ist so eine Sache, findet Verena. Aber dann kommt sie gedanklich nicht weiter: Was ist schlimmer — den Namen des Vaters oder des Partners zu tragen? Aussichtslos. (…) Laura fächert sich Luft zu. Wer gackert, muss auch ein Ei legen. Die Angestellten schauen inzwischen eher besorgt als belustigt drein. Endlich kann Laura sich beruhigen. Ihr fällt schier die Maske vom Gesicht. Eine Angestellte assistiert ihr.

»Stell dir einmal vor, das war’s jetzt.«

Die Gespräche entlarven sich selbst als ambitioniertes Weibsgewäsch, Jovana Reisinger will es bloß als Klischee zitieren und, manchmal, eine kleine Pointe draufsetzen, die Frauen entlarven sich damit selbst. „Überhaupt enthält dieser Roman eine beeindruckende Sammlung von Lifestyle-Phrasen, wobei der Leitspruch des Kapitalismus, „Jeder ist doch seines eigenen Glückes Schmied“, nicht fehlen darf, so wenig wie: „Wer schön sein will, muss leiden.““ (Marie Schmidt, SZ) Hin- und wiedrige dialektale Anklänge evozieren ein schmales Schmunzeln. Reisinger behandelt ihre Personen mit sanftem Zynismus, sie tritt ihnen nahe, ich erlebe einen Reigen (ab)gedroschener Selbstdarstellerinnen. Nach Leseunterbrechungen halte ich die Frauen nicht mehr auseinander, der „Roman“ wird zur Vorführung.

Schließlich ist jede selbst für ihr Glück verantwortlich. Und für ihr Unglück ebenso. Hoffentlich schlägt jetzt die Stunde der Frauen.

»Wie, das war’s jetzt.«
 »Ja. Jetzt kommt nichts mehr.«
  »Was soll denn kommen?« 
»Verliebt, verlobt, verheiratet.«
  »Stimmt. Da kommt nichts mehr.«
  »Das ist das Ende.«
»Das ist doch kein Ende. Ich dachte, das soll der Anfang sein.«
  »Wovon?   « 
»Ja, weiß ich doch nicht. Das musst du doch wissen.«
»Ich weiß es aber nicht.« 
»Was hast du dir denn vorgestellt?« 
»Eine Traumhochzeit.«
  »Ja, und dann?«
»Ja, nichts. Weiter ging’s nicht.«

  Lauras Augen füllen sich mit Tränenflüssigkeit. Verena würde sie gern streicheln, aber beide Hände stecken fest in einem Gerät zur Verjüngung.

2021 – 260 Seiten

3-4

Leseprobe beim Verbrecher-Verlag

Homepage von Jovana Reisinger

Jovana Reisinger im ARD-Forum