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Knut Cordsen:
Die Weltverbesserer.
Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?
„Das Jahrhundert des Aktivismus“ beginnt nicht mit den Klimaklebern. Knut Cordsen hat sich eine detaillierte Übersicht verschafft über das Treiben von Leuten, die nicht auf die zähe Reform von privaten und Welt-Angelegenheiten warten wollen (oder können), sondern ihren Idealen nur im Jetztgleich eine Chance auf Realisierung geben müssen. Das meint „Aktivismus“ und Knut Cordsen offenbart schon im Untertitel seine verhaltene Sympathie: „Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?“ (Könnte da nicht auch ‚braucht‘ statt ‚verträgt‘ stehen?) Eine Prise davon will er ihr wohl zugestehen, zu viel will er aber nicht erlauben, sonst, so heißt das, könne „unsere“, also auch seine Gesellschaft, darunter leiden. „Jesus! Wird da der eine oder andere ausrufen, geht es denn nicht ein paar Nummern kleiner?“
Als Urvater des Aktivismus zieht Knut Cordsen Kurt Hiller durchs Buch.
Der Resolutionär Hiller, dessen »kraftschreierische« Prosa der marxistische Philosoph Georg Lukäcs später zu Recht in ihrer »blechernen Monumentalität« als »fanfarenhafte Überheblichkeit« brandmarkte, machte hier einmal nicht den Fehler, »von der Wirklichkeit wegzuabstrahieren« (Lukäcs), sondern zu benennen, was sein sollte. Der verabschiedete »Vorläufige Dogmenkatalog des Aktivismus« ist ein eindrucksvolles Dokument anti-demokratischen Denkens. Das Ziel war klar für Hiller: »Herrschaft des geistigen Typus über den Pöbeltypus«. Deshalb ist 1919 auch eine der »drei Hauptforderungen aktivistischer Politik« neben Pazifismus und Sozialismus (»Man kann nicht Aktivist sein, ohne Sozialist zu sein.«) — »Aristokratismus«. Der »Weltbesserer« hält sich für etwas Besseres und formuliert also in unverhohlener »Vonobenherabheit« (Hiller) seine Abscheu vor allem »Demokratismus (Ochlokratismus)«. Snobistisches verachtet »Mobistisches« (auch so eine Hiller’sche Wortkreation, an Neologismen mangelte es ihm wahrlich nie).
Ausgehend von dieser kritisch betrachteten Basis führt Cordsen durch ein ganzes „Florilegium“ von Aktivist:innen. Von öffentlichen Strickerinnen („selbstgestrickte pinke Pussy Hats“ – Knut Cordsens Kommentar ist typisch ironisch“: „rosafarbene Wolle wurde knapp“), weiter zur Solo-Aktivistin („im Dürre-Sommer 2018“) Laktivistinnen bis zu Peter Handke: „Ein friedliches in-sich-Schauen: der ideale Aktivist“. Cordsen mischt sich in den Streit zwischen Journalisten und Aktivisten: Darf der Journalist Stellung beziehen, zur Tat aufrufen? Karl Kraus vs. Egon Erwin Kisch, die Spur führt zum Blogger Rezo, „rund hundert Jahre später“ zur Zerstörung der CDU aufrief.
Weitere Kapitel fragen nach Sympahisanten oder Gegner des Aktivismus in der Kunst:
„Was tun, sprach Beuys. Über Artivismus“ – oder der Wissenschaft: „Der Gelehrte als Gefährte“. Neben Phasen aktivistischen Glimmens sind einige Momente der Zeitgeschichte hervorgehoben, in denen der rigorose Idealismus aufflackerte: etwa die „Studentenrevolte 1968“. Cordsen erhellt die Auseinandersetzungen zwischen Ernst Bloch, Rudi Dutschke, Jürgen Habermas (‚infantile Scheinrevolution‘), Hans Magnus Enzensberger (»Die Moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir verhaßt.« Cordsen: „So redet ein unabhängiger Geist. Kein Akivist.“
Knut Cordsen im Interview: „Ich glaube, den liberalen Aktivismus. Einen, der kritikfähig ist, der seine Ziele nicht doktrinär verfolgt und Andersdenkende nicht ausgrenzt. Er muss offen bleiben und darf nicht „grimmig“ werden, wie Karl Raimund Popper es mal genannt hat.
Cordsen hätte gerne einen Aktivismus light, eine Radikalität à la SPD, einen, der bei Widerständen mit sich reden lässt, einen Aktivismus, der keiner mehr ist. Trotzdem sind die „Weltverbesserer“ informativ, subjektiv, mit „unabhängigem Geist“, ironisch engagiert. Schön zu lesen.
Thorsten Jantschek spricht mit Knut Cordsen
über sein Buch „Die Weltverbesserer“ (ZDF – 9 Minuten)
Knut Cordsen: „Der heutige Aktivismus hat ein weibliches Gesicht“ – FR Gespräch mit Bascha Mika
Jens Balzer: Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache. Von den 50er-Jahren bis heute
Vielleicht ist es nur dann oder dann besonders interessant, wenn man die beschriebene Zeit miterlebt hat und die Texte mitsummen kann. Von den 50er-Jahren bis heute. Jens Balzer ist 1969 geboren, hat sich den „deutschen Pop und seine Sprache“ der Frühzeit indirekt einverleibt.
Einverleibt hat sich der deutsche Schlager auch die „Rebellion“: Das „Fernweh“ gründete auch bei Freddy Quinn auf der „Heimat“, den Rock’n’Roll nationalisierte Peter Kraus und das spätere Schlager-Englisch verlor durch Unverständnis oder durch verschmalzende Harmonien jegliches Protestpotential. „Liedermacher und Rocker entdeckten das Deutsche wieder“, ihre Resonanz war aber eher bescheiden und blieb in der Blase.
»In der Bar sah ich Lou / Und war verliebt im Nu / Denn so einen Swing, den gab’s noch nie / Kein Mädel rockt und rollt wie sie.« Wobei die überwiegende Mehrheit des deutschen Publikums weder verstanden haben dürfte, dass »rocken und rollen« als Synonym für den Geschlechtsverkehr diente, noch dass »tutti frutti« eine Bezeichnung für große prächtige Frauenbrüste war. Generell wurde in diesen Jahren im Schlager der Sound des Rock ’n’Roll zwar aufgegriffen, doch zunächst von Komponisten, Textern und Produzenten, die schon lange im Geschäft tätig waren und ein Interesse an der Entschärfung der Musik und der Inhalte hatten, um im gegenüber der US-amerikanischen Popkultur immer noch reservierten Deutschland kommerziell erfolgreich zu sein. So war die Peter-Kraus-Version nicht nur weniger, sondern überhaupt nicht sexuell aufgeladen und auch langsamer und weniger wild.
Jens Balzer nudelt sie alle durch und präpariert aus der Sprache – in vielen Zitaten – die Ideologien in ihren Wechselspielen heraus: Seitenblicke auf die „Beatmusik in der DDR“, den „kosmopolitischen Krautrock“ der 1970er-Jahre, die Wiederentdeckung des Dialekts und des Regionalen, auf „migrantische … Musik aus der Fremde“ ergänzen das Spektrum. Das abschließende Kapitel über „reaktionären Rap“, die Hamburger Schule“ oder Rammstein bleiben mir infolge Altersüberschreitung eher fremd, auch in ihrer potenziell sprach-bildnerischen Relevanz. Jens Balzer wertet nur indirekt, indem er die vorgestellten und einander kontrastierenden Phrasen auf ihre Abgrenzung von reaktionären Ideologien befragt und das „rebellische“ Potenzial untersucht.
Das letzte Kapitel untersucht die „kulturelle Aneignung und die Frage der Identität“ zu Beginn der 2020er-Jahre. Es ist überschrieben mit „Aus der Pussy“. ens Balzer hat über die geborgten und vermischten Identitäten ein eigenes Büchlein gemacht.
Jens Balzer: Ethik der Appropriation
In diesem knapp 90-seitigen Text in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ des Verlags Matthes & Seitz erweitert Balzer den Blick auf den zurzeit wütenden „Diskurs“ über die Legitimität der kulturellen „Aneignung“.
Was ist so schlimm daran, wenn man sich als weißer Mensch das Gesicht mit roter Farbe bemalt? Das kann man fragen; freilich muss man sich dann auch eine andere, scheinbar weniger unschuldige Frage stellen. Sie lautet: Wenn es in Wirklichkeit gar nicht so schlimm ist, sich als weißer Mensch das Gesicht mit roter Farbe zu bemalen, ist es dann in Wirklichkeit auch gar nicht so schlimm, wenn man sich als weißer Mensch das Gesicht mit schwarzer Farbe bemalt? Bei der Antwort auf die erste Frage kann man eventuell zögern, abwägen und diskutieren (zumal wenn man sentimentale Erinnerungen an die Cowboy-und-Indianer-Spiele der eigenen Kindheit hegt). Bei der zweiten Frage hingegen scheint die Antwort sofort klar: Natürlich darf man sich als weißer Mensch auf keinen Fall das Gesicht mit schwarzer Farbe bemalen. Das »blackfacing« ist eine rassistische Praxis, die Menschen mit schwarzer Hautfarbe verhöhnt und erniedrigt. Zumindest ein großer Teil der aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft wird dies bestätigen, ohne zu zögern.
Jedenfalls sehen wir das heute so. Bis sich diese Einsicht durchgesetzt hat, gehörte das »blackfacing« über Jahrhunderte hinweg aber zu den selbstverständlichen und unhinterfragten Bestandteilen der Popkultur.
Balzer hält nicht die „Appropriation“ an sich für verwerflich, sondern ihren Ge- bzw. Missbrauch zur Ausbeutung oder Verhöhnung. In dieser Hinsicht hat sich weiße Macht und weißes Geld lange Zeit der eingesammelten Andersartigkeit bedient und damit seine Herrrschaft vertieft.
Die Debatte um »cultural appropriation« kreist gegenwärtig nur um Kritik und Untersagungen und wird vor allem, wenn nicht ausschließlich, im Modus der Verbotsrede geführt. So unmittelbar einsichtig in jedem einzelnen Fall die Einsprüche gegen die Aneignung der kulturellen Traditionen von jemand anderem auch sein mögen, so sehr widersprechen diese Verbotswünsche in ihrer Summe doch dem ebenso unmittelbar einsichtigen Eindruck, dass es so etwas wie in sich geschlossene, mit sich selber identische kulturelle Traditionen gar nicht gibt, weil jede Art der Kultur schon immer aus der Aneignung anderer Kulturen entstanden ist; weil sich kulturelle Schöpfung, Beweglichkeit und Entwicklung ohne Appropriation gar nicht denken lassen. Kultur ist Aneignung, was umso mehr gilt in einer Welt, die geprägt ist von der Globalisierung der Kommunikation und der kulturellen Produktion. Seit die elektronischen Massenmedien und schließlich das Internet jedes irgendwo auf der Welt existierende Bild, jeden Sound, jede Art der Selbstinszenierung verfügbar gemacht haben, kann man sich jederzeit von jedem beliebigen »kulturellen Artefakt« (Susan Scafidi) aus welcher Tradition auch immer inspirieren, anregen, herausfordern lassen. Und dass das so ist, bedeutet zunächst einen Zuwachs an Möglichkeiten, an individueller, künstlerischer und existenzieller Freiheit.
Appropriation ist eine schöpferische, kulturstiftende Kraft. Aber zugleich ist sie in Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt. Man könnte sagen, dass dies für jede Art der Kultur gilt. Doch treten diese Verhältnisse in bestimmten Formen der Appropriation besonders deutlich zutage: Es sind jene, die der Gewaltlogik führt, die letztlich in das Völkische mündet. Wer auf diesen Holzweg nicht gehen will, muss die Kritik der falschen Appropriation aus einer Bestimmung der richtigen Appropriation heraus entwickeln, oder anders gesagt: Man kann das dialektische Wesen der Appropriation — ihre schöpferische, kulturstiftende Kraft und ihre Verstrickung in Macht- und Ausbeutungsverhältnisse — nur dann zur Gänze erfassen, wenn man sie einer ethischen Betrachtung unterzieht.
Jede „Kultur“ ist ein „Sampling der Identitäten“. Man muss sich in die Terminologie der Betrachtung einlesen, doch betreibt Balzer nicht nur Theorie, sondern erläutert die Ambivalenzen der Ethik anhand vieler Beispiele, die er auch hier überwiegend in der populären Musik findet.
1954, Spielt Elvis Presley in den Sun Studios in Memphis seine erste Single ein: »That’s All Right« stammt im Original von dem schwarzen Bluesgitarristen Arthur Crudup. Mit dem Rock ’n‘ Roll von Elvis schlägt die Geburtsstunde der modernen Rockmusik, wie wir sie kennen. Doch auch der Rock ’n‘ Roll wurzelt tief in der schwarzen Musiktradition, im Rhythm ’n‘ Blues der 1940er-Jahre, der am Anfang übrigens nicht Rhythm ’n‘ Blues hieß, sondern »Race Music«. Eine ganze Generation von schwarzen Musikern erfindet die Musik, die Gesangstechniken, den Habitus, den Stil, mit deren Aneignung Elvis zum »King of Rock ’n‘ Roll« auf- steigt: ein weißer Junge, gerade zwanzig geworden, der alles, was ihn so spektakulär machen wird, von seinen schwarzen Vorbildern übernimmt – und dann mit ein paar weißen Country- und HillbillyEinflüssen verbindet, um es dem weißen Publikum noch schmackhafter zu machen.
Inhaltsangabe und Leseprobe beim Duden Verlag
Christoph Leibold (BR) im Gespräch mit Jens Balzer (Text)
Ethik der Appropriation (Talk) | Pop-Kultur 2022
(Gespräch – 50 Minuten)
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Marshall Sahlins:
Das Menschenbild des Westens – Ein Missverständnis ?

Marshall Sahlins beginnt – wo sonst? – im antiken Griechenland. Da ist, anders als bei „Naturvölkern, einiges an Geschichtsschreibung überliefert. Der Diskurs startet im Krieg – hier: im Bürgerkrieg – von Kerkyra – und es geht um nicht weniger als um die Stellung des Menschen in und zu der Natur. Darum, ob der Mensch ein Natur- oder ein Kulturwesen ist.
Was bestimmte Philosophen des 5. Jahrhunderts v. Chr. versuchten, war seiner Meinung nach deren Trennung. Genauer gesagt wurden Gesellschaft und Natur als Gegensätze definiert, »ein Ergebnis bestimmter Kontroversen im 5. Jahrhundert über die physis (Natur)und den nómos (Übereinkunft)«. Dort wurzelt der Dualismus, der die natürliche Grundlagefür unser metaphysisches Dreieck darstellt: die vorgesellschaftliche, antisoziale Natur, die dikulturellen Systeme der Gleichheit und Hierarchie zu kontrollieren versuchen.
Politisch war die Frage, ob sich die Gesellschaft als Verbundene selbst organsiert oder ob die ungezügelte Selbstsinnigkeit des Menschen eines Herrschers (König, Tyrann, Diktator, …) bedarf, um gemeinsam überlebens- und handlungsfähig zu bleiben.
„Die alten Königreiche, die von einem Palast aus von oben herab, privat, mit Zwang und auf mythische Weise legitimiert regiert wurden, wandelten sich schließlich zur Polis, in der die Regierungsmacht kollektiv, gleichberechtigt und öffentlich den Bürgern übertragen war. Sie versammelten sich öffentlich im Zentrum der Stadt (auf der Agora) und bestimmten in vernünftigen Diskussionen die politische Linie, die ihren Eigeninteressen ebenso wie dem Staat zugutekam — wenigstens dem Prinzip nach war es so.“
Später sieht es Hobbes so: „Angeleitet von Vernunft und getrieben von Furcht beschließen die Menschen letztendlich, ihr persönliches Recht auf Gewaltanwendung an eine souveräne Macht abzutreten, die dieses zugunsten des kollektiven Friedens und der Verteidigung ihrer Interessen vertritt. Auch wenn diese souveräne Macht eine Volksversammlung sein könnte, stand für Hobbes doch fest, dass nach der Erfahrung der parlamentarischen Selbstüberhöhung »ein König sinnvoller ist«.“
Sahlins verfolgt das Dilemma dann durch die Jahrhunderte: Er reflektiert „Die Monarchie des Mittelalters“ und „Die Republiken der Renaissance“, wühlt sich ein in die „Gründerväter“ des jungen Amerika und in den libertären „Egoismus“ vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute. „Koryphäen wie Samuel Johnson, Jonathan Swift, Bernard Mandeville und zahlreiche weniger große Denker hatten als Ego-Systematiker in der Tat die radikal-sophistischen Vorstellungen erneuert, denen zufolge hinter allen sozialen Handlungen, auch hinter den scheinbar tugendhaften und mildtätigen, natürliche Begehrlichkeiten nach Macht und Besitz stecken. »Unsere Tugenden sind meist nur verkappte Laster«, lautet das Motto von La Rochefoucaulds viel gelesenen Maximen. „Der Egoismus kommt moralisch wieder auf die Beine.“ Sahlins will das nicht stehen lassen und sucht nach „Andere[n] Welten des Menschen“. Die Natur als ebenbürtiger Partner des Menschen, so wird das Über-Gewicht des Menschen reduziert bzw. relativiert und damit die Vorrangstellung des „Westens“ korrigiert. Sahlins zitiert eine Vielzahl anthropologischer Befunde aus allen Teilen der Welt. Nicht nur der Mensch ist Maßgröße, auch Tiere, auch Pflanzen, auch Wetterphänomene bestimmen die Vorstellungen vom Leben und von Gesellschaftlichkeit.
Marshall Sahlins findet seine Ruhe in der Synthese. Nicht mehr physis contra nómos, nicht mehr die Natur als latent Böses, das beherrscht werden muss, sondern der „Mensch als kulturelles Wesen von Anfang an: „Die menschliche Natur ist die Kultur.“ Nun, dann müssen auch Vernunft, Vorstellung, Berechnung, Kunst und Gesetz ursprünglicher sein als Hartes und Weiches und Schweres und Leichtes, und ebenso werden dann auch die großen und ursprünglichen Schöpfungen eben als solche Werke der Kunst, was jene Leute aber Werke der Natur und die Natur selbst, die sie (eben) hiernach fälschlich mit diesem Namen nennen, werden etwas Späteres und von der Kunst und Vernunft Abhängiges sein.“ Marshall Sahlins führt ausführlich durch die Entwürfe eines „Menschenbilds des Westens“, das sich in abwechselnden Phasen von gesellschaftlicher Herrschaft durch Macht von oben zur Einhegung der eigensinnigen Gewaltbereitschaft des Menschen (Hobbes) und der Gegenthese von einer genuinen Solidarität, die sich in einem republikanischen oder demokratischen Gesellschaftsvertrag realisiert. Gegenmodelle zum westlichen Menschenbild werden in einem Kapitel eher knapp dargelegt, sie zeigen einen Kontrast, aber keine begründete Einschränkung oder Widerlegung. Das Fragezeichen nach dem „Missverständnis“ ist eher plakativ, die erwartete Antwort wird nicht eingelöst.
Der Verlag Matthes & Seitz publiziert das Buch in der Reihe »Fröhliche Wissenschaft«. Ein Missverständnis?
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Anne Applebaum:
Die Verlockung des Autoritären.
Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist
Anne Applebaum verspricht im Untertitel die Antwort auf die Frage, „warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“. Die Antwort finde ich nicht. Ja, es gibt einige gut gemeinte Gemeinplätze, die sie, wie fast immer, an Personen festmacht.
Es gibt Apokalyptiker, die überzeugt sind, dass ihre Gesellschaft dem Untergang geweiht ist und gerettet werden muss. Einige sind zutiefst religiös. Manche genießen das Chaos und wollen es herbeiführen, um der Gesellschaft eine neue Ordnung aufzuzwingen. Sie alle versuchen ihre Nationen umzudefinieren, Sozialverträge umzuschreiben und manchmal auch die demokratischen Regeln zu ändern. Alexander Hamilton warnte vor ihnen, Cicero bekämpfte sie. Einige dieser Menschen waren einmal meine Freunde.
Von vielen dieser Freunde erzählt sie und stellt – erstaunt? – fest, dass sie sich geändert hätten, zu Reaktionären geworden seien, während sie, Applebaum, eine liberal-konservative Demokratie verteidigt. Weshalb aber war sie früher mit so vielen Rechten befreundet?
Im August 2019 luden wir zu einer Party ein. Diesmal war es ein Sommerfest, und die Gäste unternahmen keine Schneewanderungen und Schlittenfahrten, sondern sonnten sich auf der Wiese und schwammen im Pool. Statt eines Feuerwerks hatten wir ein Lagerfeuer.
Menschen, die in einem abgelegenen Winkel Polens lebten, unterhielten sich prächtig mit Menschen, die anderswoher kamen. Wie sich herausstellte, können Menschen mit grundverschiedener Herkunft ausgezeichnet miteinander auskommen, denn die »Identität« der meisten Menschen geht weit über diese einfachen Gegensatzpaare hinaus. Es ist möglich, an einem Ort verwurzelt und dennoch weltoffen zu sein. Es ist möglich, gleichzeitig regional und global zu denken.
Anne Applebaums Begriffe von Politik und Ideologie sind unpräzise. Was ist „Demokratie“? Was ist die „Größe“ einer Demokratie? Was kann am Konservatismus „großzügig“ sein? Wasv ersteht man unter „bürgerlich“? Was ist rechts und links?
„Mancherorts wurde die Angst vor der Krankheit und anderen Aspekten der Moderne zur Inspiration für eine neue Generation autoritärer Nationalisten. (…) In den letzten Jahren gingen einige Haltungen der alten marxistischen Linken, allen voran ihr Hass auf bürgerliche Politik und ihre Umsturzfantasien, eine sonderbare Verbindung mit der Verzweiflung der christlichen Rechten angesichts der Zukunft der amerikanischen Demokratie ein. (…) „Im besten Falle war dieser Konservatismus dynamisch, reformfreudig und großzügig, er gründete auf einem Vertrauen in die Vereinigten Staaten, in die Größe der amerikanischen Demokratie und auf dem Ehrgeiz, diese Demokratie mit dem Rest der Welt zu teilen. (…) In den letzten Jahren gingen einige Haltungen der alten marxistischen Linken, allen voran ihr Hass auf bürgerliche Politik und ihre Umsturzfantasien, eine sonderbare Verbindung mit der Verzweiflung der christlichen Rechten angesichts der Zukunft der amerikanischen Demokratie ein.“
Zum antidemokratischen Populismus wird man verführt durch Geld, Ruhm und Macht, es gibt in Ländern, die jahrzehntelang von einer fremden Macht unterdrückt worden waren, offenbar eine tiefverwurzelte Sehnsucht nach nationaler Identität, zugrunde liegt meist die „autoritäre Veranlagung“.
Anne Applebaum belegt ihre Erzählungen mit Gedanken von Theoretiker der Geschichte, auch Hannah Arendt taucht auf. Viele zeitgenössische Intellektuelle, Schriftsteller, Politiker kennt sie selbst, vor allem aus Polen und den USA.
„Meines Erachtens ist der nach der Lektüre gewonnene Eindruck, Applebaum betrachte die politischen Umbrüche lediglich anekdotisch statt analytisch, weitaus kritikwürdiger. Sie bietet keine Begriffserklärungen und ihren Ausführungen fehlt die argumentative Stringenz. Zweifellos kamen die Rechtspopulisten durch die Unterstützung etablierter konservativer Kräfte an die Macht. Doch wann genau haben Politik- und Demokratieverachtung begonnen und was sind die spezifischen Gründe für die sich weiter radikalisierende autoritäre Entwicklung, die wir ausgerechnet in den letzten Jahr(zehn)ten beobachten können? Nicht nur kann die Autorin auf diese Fragen keine neuen Perspektiven oder Überlegungen, geschweige denn überzeugende Antworten liefern, auch der Ausblick, Demokratie müsse im digitalen Zeitalter neu gedacht werden, bleibt unbefriedigend und schwammig.“ (Frauke Hamann: Eine Milieustudie des eigenen Umfelds – Soziopolis)
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Julia Friedrichs:
Working Class.
Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können
Für die Arbeiterklasse heißt Wandel meist, dass du gefeuert wirst.«

Julia Friedrichs fährt durchs Land und spricht mit Menschen. Sie hört genau zu, schreibt die Antworten zusammen und bündelt sie. Sie ist empathisch. Ihre Erkenntnisse vergleicht sie mit Statistiken und Auskünften von „Experten“. Ihre Themen sind: ARBEIT – wie ist sie organisiert, wie wird sie entlohnt, welche Perspektiven bieten sich? GELD – Wie hoch und regelmäßig sind die Löhne, welches Leben kann man sich vom Einkommen leisten, wie sind die Aussichten auf die Zukunft? LEBEN – Kann man zufrieden sein?
Julia Friedrichs‘ Stationen auf den Erkundungen: Alexandra und Richard, zwei überwiegend freiberufliche Musiklehrer. Sait, Putzmann bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Reza Eskats, Pächter des „Zapfhahns“ im Untergeschoss eines Karstadt-Warenhauses. Man trifft sie immer wieder, begleitet sie durch die Zeiten.
Alle Arbeitsverhältnisse ähneln sich: Das Geld reicht gerade mal so aus, „Luxus“ ist nicht drin, Zurücklegen kann man nichts, auch wenn Krisen absehbar sind, die Arbeit wird zunehmend verdichtet, auch durch Privatisierung und Outsourcing, Zugehörigkeiten (zum Betrieb, zu Kollegen) schwinden. Man vereinzelt, auch der Einfluss von Gewerkschaften geht verloren. Julia Friedrichs referiert wichtige Studien zur polit-ökonomischen Entwicklung, sie ist kritisch, bezichtigt sich der „chronischen Zuversicht“,
Der Blick geht zurück in die 1980er Jahre, fast nostalgisch, bis in die Corona-Zeiten. Julia Friedrichs erinnert sich an Familienserien von damals, als die Arbeiter nach Karstädter oder Siemensianer sein wollten, als man noch an eine bessere Zukunft für die Kinder glaubte, als man nach vorne schaute, ohne zu heulen. Die Pandemie hat die prekäre Lage nicht erschaffen, aber beschleunigt und verschlimmert. Und die Politik? Julia Friedrichs trifft Wolfgang Schmidt, 2021 noch Staatssekretär im Finanzministerium (ab Herbst 2021 Bundesminister für besondere Aufgaben/Chef des Bundeskanzleramtes, engster Vertrauter von Olaf Scholz). Sie erzählt ihm von Alexandra, Sait, Reza und den anderen aus der working class.
Julia Friedrichs „machte es schon damals kirre, weil er die ökonomische Unwucht zugunsten der Vermögen und zuungunsten der working class zuvor detailliert beschrieben hatte, aber bei der Frage nach den Gegenmaßnahmen das ganz kleine Karo wählte. Politik, sagte er schon da, hieße, Probleme Stück für Stück zu verbessern, Meter für Meter, meist Zentimeter für Zentimeter. Aber reicht das? Verlangt der Umbruch der letzten Jahrzehnte nicht entschiedeneres Dagegenhalten? Lässt sich die Kluft in den Vermögen, die Ungleichheit im Bildungssystem, die Unwucht zugunsten wohlhabender Älterer wirklich mit dem Verstellen von ein paar Schräubchen beseitigen? Deutschland ist in den vergangenen Jahren von seiner politischen Klasse gut und vernünftig verwaltet worden, besser als viele andere Länder.
Aber lässt sich eine Gesellschaft wirklich in eine bessere Zukunft steuern, wenn vor allem dafür gesorgt wird, dass die nächste Tagesetappe gut verläuft? Müsste man nicht viel mehr darüber reden, wo man am Ende hinwill?“
Das Buch kommt mir vor wie ein TV-Feature, bildhaft, lebensnah, kritische Fragen, mehr Zeit für die Menschen und den Leser zum Mitdenken und sich gedanklich einmischen.
Und wenn die Welt sich wieder dreht, hoffe ich, mit möglichst vielen von euch bei Reza Eskafi im »Zapfhahn« anstoßen zu können.
2021 – 315 Seiten
Thomas Hüetlin:
Berlin, 24. Juni 1922.
Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland

Am 24. Juni 1922 wurde in Berlin der Außenminister der Weimarer Republik ermordet. 100 Jahre ist das her und doch – wieder – aktuell, denn 2022 gibt es Mordpläne (‚Todeslisten‘) gegen Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens.
1922 operierten die Täter in „geheimen“ Gruppen wie der „Organisation Consul“, die sich aus ehemaligen Kriegskämpfern, Protofaschisten und weiteren Gesindel rekrutierte. Das Reichswehrministerium unter Gustav Noske (SPD!) alimentierte die „Freikorps“ in ihrem Hasskampf gegen die Demokratie.
2022 organisieren sich potenzielle Attentäter über verschwiegen-öffentliche Medien und breiten ihre Pläne in Hass-Postings aus. Die Lage der Demokratie wird kritischer, seit wutbesoffene Bürger sich ihre Frust-Rationen auf den Straßen von der Seele brüllen und Demokratie als totale Herrschaftsform verdammen. Es gab schon Tote, doch lässt sich der Aufruhr noch einhegen, zumindest wenn die Verwaltung auf der Hut ist.
1922 sahen die „Freikorps“ Gleichgesinnte in Politik und Justiz, die über- und verkommenen Reste von Adel und illiberalem Bürgertum betreiben das Geschäft der Restauration.
Thomas Hüetlin erzählt nicht nur die historischen Abläufe, er beschäftigt sich auch mit Struktur, Gedankengut und Aktionen der „Geheimbünde“.
Man musste glauben. Vor allem Kern. Er hatte das Charisma. Er hatte via Hoffmann, dem Stellvertreter Ehrhardts in der Organisation Consul, grünes Licht erhalten, Politiker wie Scheidemann und Rathenau zu ermorden, um einen Umsturz von links zu provozieren.
Was zählte, war nicht die Ratio, was zählte, war die Tat.
Das nackte knallharte Tun — das war es, was Kern glorifizierte. Die gewalttätige Tat, die ruhig auch böse sein durfte.
Denn diese Tat gehorchte gewissermaßen höheren Mächten. Diese Taten flossen aus den Attentätern heraus. Durch sie hindurch. Die Attentäter waren laut Kern nur die Vollstrecker eines höheren Gesetzes. Einer Art altgermanischer Sendung. Oder, wie von Salomon es ausdrückte, die Gewalt, die sie trieb, war »Ausfluß mythischer Mächte, die zu erkennen der reine Intellekt mit all seinen Methoden nicht ausreichen konnte«.
So gesehen war alles möglich — und auch alles erlaubt, wenn nur Kern es befahl.
Die Demokraten, das waren für Kern nichts als Leute, die mit »wirrem Gelärm«, wie er von Salomon in der Pension »Am Zirkus« erklärt hatte, Räume füllen. Irgendwelche unwichtigen Räume. Nicht die »Felder der Entscheidung«. Die lägen »hinter dem breiten Gürtel des Dickichts, durch das wir uns mit harten Schlägen hauen. Da werden wirdann stehen«. (…)
Es waren raunende Worte. Gewalt. Pathos.
Weshalb Rathenau? »Ich habe die Absicht, den Mann zu erschießen, der größer ist als alle, die um ihn stehen«, sagte Kern. »Das Blut dieses Mannes soll unversöhnlich trennen, was auf ewig getrennt werden muss.« Rathenau habe die bitterste Kritik der Menschen und der Mächte seiner Zeit geschrieben, meinte Kern. »Und doch ist er Mensch dieser Zeit und hingegeben diesen Mächten. Er ist ihre reifste, letzte Frucht, in sich vereinigend, was seine Zeit an Wert und an Gedanken, an Ethos und an Pathos, an Würde und an Glaube in sich barg.«
Es war das übliche schwülstige Wortgeschiebe, das Kern wie Weihrauch produzieren konnte. Dem Mordanschlag einen Heiligenschein verpassen. (…)
Rathenau verkörpere für viele Deutsche die Hoffnung auf Frieden, auf Kooperation mit den Siegermächten, auf den Wiederaufstieg des Reichs in einer marktwirtschaftlichen Ordnung. „Der linkskatholische Reichskanzler Joseph Wirth machte ihn 1921 zum Wiederaufbauminister und einige Monate später zum Außenminister. In dieser Funktion ist sein Name vor allem mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag von Rapallo verbunden. Wichtiger war für Rathenau selbst das Ziel, sich mit den westlichen Siegermächten zu verständigen und so gemeinsam das vom Weltkrieg gezeichnete Europa wiederaufzubauen.“
In Rathenau wirkte ein geradezu preußisches Pflichtgefühl samt einem stählernen Ehrgeiz. Im Krieg zuständig für die Rohstoffversorgung des Landes, hatte er aber nie einem Regierungskabinett angehört und das ersehnte Licht der allerersten Reihe im Staat genossen.
Rathenau verkörperte in Perfektion all das, was von Salomon und Kern ablehnten, hassten und bekämpften.
Ausgleich.
Frieden.
Demokratie.
Gekonnte Ökonomie.
Verbindliche Bindung an den Westen.Es war jedenfalls ganz und gar nichts Religiöses. Im Leben der Familie Rathenau spielte die prachtvolle 1866 fertiggestellte Synagoge in der Oranienburger Straße keine nennenswerte Rolle, weder für Erich noch für Walther wurde eine Bar-Mizwa gefeiert, Walthers Hebräisch war bestenfalls rudimentär und fehlerhaft.
Emil galt als »liberaler Jude«, und die Verfassung des Reichs von 1871 hatte die Juden formal gleichgestellt. Trotzdem konnte von Gleichstellung, wenn es um wichtige Ämter innerhalb des Staates ging, nicht die Rede sein. Eine Karriere als Offizier oder Reserveoffizier der Armee war einem Juden versperrt, ebenso eine Laufbahn im höheren Beamtentum. Verglichen mit Ländern wie Frankreich oder Russland, fühlten sich die meisten Juden in Deutschland jedoch trotzdem einigermaßen sicher und so gut aufgehoben, dass sie Vertrauen in ihre Zukunft und die ihrer Kinder hatten.
Trotz dieser formalen Gleichberechtigung war der Antisemitismus im Deutschen Reich nie weg — und das Tempo der zweiten industriellen Revolution ließ ihn sogar stärker werden. »Der jüdische Geist« wurde für viele Zumutungen der kapitalistischen Modernisierung und Ausbeutung verantwortlich gemacht, ein böses Phantom, das angeblich auch hinter den Gegenprogrammen zum Kapitalismus stand, hinter Sozialismus und Marxismus.
Eine Geschichte von unerwidertem Patriotismus und Sehnsucht nach Zugehörigkeit, von verstecktem Stolz und aristokratischer Eitelkeit, von der Überzeugung, dass die alten preußischen Eliten unfähig seien, die neuen Kader aus der Arbeiterbewegung überfordert.
Eine Geschichte, die auf ihn zulief, auf ihn, Rathenau.
Im Jüdischsein potenzierte sich Walthers Entfremdung. Eine Karriere, wie sie seine Klassenkameraden anstrebten, an die Schalthebel der politischen, exekutiven und militärischen Macht, blieb ihm als Juden verstellt, und diese Apartheid deutscher Prägung brannte sich dem begütert Heranwachsenden fest ein. Das Geld war sein Schicksal, es war Sicherheitsrelais und Garant einer gewissen bürgerlichen Freiheit. Aber als Jude stigmatisierte einen Geld auch. Er war gefangen in einem gut ausgestatteten Käfig.

Hüetlins Buch erzählt nichts Neues. Er erinnert zum 100. Jahrestag an eine Zeit, die geprägt war von den überkommenen deutschnationalen „Eliten“, die mit der Demokratie nichts anzufangen wusste, die, auch über nicht beigelegten transnationalen Konflikten, tief gespalten war und keine Strukturen und kein Wissen besaß, wie mit den Antagonismen umzugehen war. Die Rechten waren die irrational raunenden Generalverlierer, die Linken hatten zu wenig Basis und keine Verbündeten in Gesellschaft und Regierung. Rathenau sollte nach außen vermitteln, die Verluste des Krieges neu verhandeln, er war integer, aber kein Mann des Volkes, ein Jude, der deutsch-patriotisch dachte, der Juden verachtete, ein Politiker, der aus der Wirtschaft kam und für die Wirtschaft arbeitete. „Ein komplizierter Mann!“
Der Welthandel liege darnieder, so Rathenau, der Versailler Vertrag habe dessen Organismus zerschlagen. In Amerika wüte die Arbeitslosigkeit, Kohle, Baumwolle, Kupfer lagerten dort im Überfluss. In Russland herrschten Hunger und ein Verlangen nach Produkten, die andere nicht loswürden. Dabei seien die Völker voneinander abhängig, gefesselt durch eine »Kette materieller Verschuldung« und die allgemeine Entwertung des Geldes. Dieser Zustand, so Rathenau, müsse überwunden werden durch eine planmäßige Wiederherstellung des wirtschaftlichen Weltorganismus.
Hüetlin stellt Rathenaus Herkunft, sein Denken und seine politischen Ansichten anschaulich dar und mahnt auch die heutige Gesellschaft vor einem Neu-„Beginn des rechten Terrors“.
Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
Durs Grünbein:
Jenseits der Literatur
(Oxford Lectures)

„Jenseits der Literatur“ räumt ein, dass es hinter/zeitlich vor der Literatur Phänomene gibt, die sich nicht als Fiktion verstehen lassen, die eigene „Wahrheiten“ generieren, bei denen es aber helfen kann, sie mit Mitteln der Literatur zu betrachten, zu beschreiben. „Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt. (…) Fragt man mich heute nach einer Poetik, würde ich antworten: Wir bemühen uns um eine Photosynthese der Worte und der Bilder. Die Worte arbeiten an der Überlieferung, die Bilder erreichen uns immer aus einer kleinen Zukunft, die schnell Vergangenheit wird. Gemeint sind die Bilder aus allen Medien, die uns täglich als Schockerfahrung des Realen überrollen und bis in die Träume hinein wirken.“
Die renommierten Lord Weidenfeld Lectures sind seit fast 30 Jahren einer der Höhepunkte im akademischen Jahr der Universität Oxford. Dazu eingeladen werden bedeutende Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und Dichter. 2019 war Durs Grünbein an der Reihe. Er befasste sich in 4 Vorträgen mit dem Wechselspiel zwischen (deutscher) Geschichte und den Personen, die diese im Land erfahren, ob als Individuum oder im Plural: als „Volk“. Als Beispiele griff er griff er Inszenierungen des Völkischen heraus: „Die violette Briefmarke“ – das Wertzeichen zum Aufkleben auf Briefe mit dem Kopf des „Führers“. Die „Landschaft in Banden“ – Das Mega-Bauwerk der Autobahnen als Symbol der völkischen Fahigkeiten. „Im Luftkrieg der Bilder“ – das Betrachten der Todeserfahrung einer Nation, u.a. mit den augen von Hannah Arendt. Der 4. Teil stellt sich die Frage, ob die Geschichte mit Literatur erfasst werden kann, speziell in Zeiten umfassender Überwältigung: „Für die sterbenden Kälber“ (Karl Philipp Moritz). In allen Betrachtungen ist das Subjekt enthalten, der Literat, Durs Grünbein als aufgeschrecktes Kind und als spät geborenes „Kalb“, welches der Geschichte keine Ruhe lassen darf, damit sie nicht mit Vergessen erledigt wird. Durs Grünbein wendet sich „unverhohlen gegen die regressiven bis revanchistischen Tendenzen der deutschen Gegenwart“. (Kai Sina, FAZ)
An Flucht aus der Zeit ist nicht zu denken, auch nicht an eine Flucht nach innen, denn auch dort holt Geschichte noch jeden zuverlässig ein. Vielmehr, sie geht als Gewaltgeschichte durch ihn hindurch und prägt sich mit ihren Daten den Körpern ein. Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt, die Literatur als »Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem«.
Der totalitäre Staat ist total im Kleinen wie im Größten, total im Schaffen wie im Zerstören.
„Die violette Briefmarke, längst entrückt, plötzlich war sie wieder da, wurde größer und kleiner und oszillierte zwischen einer brutalen Nähe und einer schwindelerregenden Ferne. In dem Fetzen zähnchenumrandeten Papiers war sie greifbar geworden, die Formel vom Einzelnen und der Masse. Die violette Marke mit dem Profilbild des »Führers« war ein Abgrund, der jederzeit aufbrechen konnte. Hier der Einzelne als serielle, graphische Nummer, der Mann aus dem Wiener Männerheim, die inferiore Gestalt, ein Namenloser, einer unter acht Millionen, wie er sich selber in seinem Kampfbuch beschrieben hatte, und da ein Volk aus lauter Habenichtsen und Enttäuschten, die ihn, die gescheiterte Existenz, als einen aus ihrer Mitte an die Spitze gehoben hatten — eine Masse, die ihrerseits aus lauter Millionen Namenloser bestand. Die Briefmarke stand für den zufälligen Einen, den Einzelnen, der sich zum Medium der Vielen gemacht hatte, die ihn schließlich, auf dem Höhepunkt seines kometenhaften Aufstiegs, als Musterfall charismatischer Herrschaft.“
Tausende Kilometer baulich integrierter Natur, Einbeziehung der heimatlichen Landschaften von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt — ein raumumspannendes Werk, das für sich selber sprach. Selten ist die Saat nationalsozialistischer Propaganda so überwältigend aufgegangen wie beim Autobahnbau. Der neue Staat rief, und das arbeitsuchende Volk, das eben noch stempeln ging, war nun erfaßt in der »Deutschen Arbeitsfront«, strömte herbei zu den Baustellen des Landes von der Nordsee bis zu den Bayerischen Alpen. Die Autobahn war das Werk vieler Tausender williger Helfer, ein Traumprojekt totalitärer Planung. Was galt es schon, daß keiner der in den Wirbel Hineingerissenen sich jemals frei fühlen konnte, daß alles nur Aufschub war,Vorbereitung zum nächsten geplanten Revanchekrieg, für den es die Autobahnen brauchte als Mittelzur raschen Truppenverlegung. Wozu es dann aber doch nicht kam, weil die Deutsche Reichsbahn, anders als heute, diese Aufgabe viel reibungsloser erfüllte.“
„Auf ihrer Reise durch Süddeutschland sieht Hannah Arendt die zerstörten Städte, sammelt Impressionen und spricht mit den Leuten, wie eine gute Reporterin es tun würde. Sie trifft auf Karl Jaspers und Martin Heidegger, ihre Lehrer und Weggefährten, aber nicht davon handelt der Bericht. Sie konzentriert sich auf die Stimmung der Überlebenden, das verschüttete Innenleben der Ausgebombten, die durch die Trümmerlandschaft ameisengleich ihrer Wege gehen. Sie bemerkt den Schatten tiefer Niedergeschlagenheit, der über diesem Volk liegt, fragt nach den Auswirkungen des Krieges und versucht, den Alptraum, den ein physisch, moralisch und politisch ruiniertes Deutschland dem Rest der Welt hinterließ, zu deuten. Von heute aus scheint es, als habe es in diesen Tagen nur diese eine gegeben, die sich den Verstand einer modernen Pallas Athene bewahrt hatte. Da ist ein Ton, den man in solcher Klarheit bei keinem ihrer akademischen Kollegen seinerzeit findet, mit Ausnahme der Vertreter der Frankfurter Schule, die vieles davon vorausgedacht hatten.“
„Der Ton ist dabei über weite Strecken nüchtern und sachlich, zum Teil auch sehr persönlich und immer wieder thetisch zugespitzt, weshalb einige Aussagen unvermeidlich Rückfragen, möglicherweise auch Widerspruch provozieren werden – fair enough. Mit seinen im besten Sinne engagierten Lectures leistet Durs Grünbein seinen Teil gegen die fatale Sehnsucht nach der geschlossenen Gesellschaft.“ (Kai Sina)
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Michael Lüders:
Hybris am Hindukusch.
Wie der Westen in Afghanistan scheiterte
Michael Lüders blickt – wie gewohnt – detailliert, informiert und kritisch in die Welt. „Hybris am Hindukusch“ erschien 2022 und erlaubt deshalb das Resümee: „Wie der Westen in Afghanistan scheiterte. Er geht auf die sowjetische Invasion 1979 – 1989 (mit … Toten) ein, doch steht das „westliche Narrativ, im Mittelpunkt: „Die politisch-mediale Wahrnehmung des Krieges in Afghanistan kreiste um hehre Begriffe wie Demokratie, Frauenrechte, Mädchenschulen, eine bessere medizinische Versorgung, Brunnenbohren — rhetorische Bausteine der Selbstdarstellung.
Afghanistan hatte nie eine starke Zentralregierung mit Einfluss im gesamten Land. Die Familie, der Clan, das Dorf, der Stamm, die ethnische und sprachliche Zugehörigkeit sind für die Identität der meisten Afghanen prägend, nicht die Nation oder eine nationale Identität. Die Machtstrukturen im Land sind daher nicht auf Kabul, nicht auf ein Zentrum hin ausgerichtet. Wie konnten die westlichen Regisseure hinter der politischen Neuordnung ernsthaft annehmen, eine von ihnen eingesetzte Regierung aus Mafiosi, Gewalttätern und Bankrotteuren könne jemals Stabilität erlangen? Flankiert von einer ganzen Armada anHills- und Entwicklungsorganisationen? (…) Das neue, westlich installierte Regierungssystem, beseelt von neo-kolonialem Geist, wenngleich demokratisch gefiltert, war ein vom Dach her gebautes Haus, ohne tragfähiges Fundament. (…) Schon unter friedlichen Bedingungen haben top down-Modernisierungsansätze in Afghanistan nie funktioniert – auch dann nicht, wenn sie geboten erschienen, etwa um die Benachteiligung und Rechtlosigkeit von Mädchen wie Frauen zu überwinden.
In Wirklichkeit haben die USA vor allem zwei Ziele verfolgt. Zunächst einmal Rache zu üben und Terroristen zu jagen, ohne den Begriff je konkretisiert zu haben. Jenseits aller Schönrednerei haben die Amerikaner von Anfang an großflächig bombardiert, parallel jeden zum Abschuss freigegeben, der ihren Vorstellungen eines Terroristen entsprach.“
Der Terror, den namentlich die USA in Afghanistan verbreiteten, erzeugte im Gegenzug ebenjenen Terror, den zu bekämpfen der «Krieg gegen den Terror» vorgab. Eine Gewaltspirale, an der die Rüstungsindustrie glänzend verdiente. (…) So flutete die Regierung Obama Afghanistan mit Hilfsgeldern und Militärausgaben in kaum noch nachzuvollziehenden Größenordnungen, was die ohnehin schier grenzenlose Korruption noch einmal in ganz neue Dimensionen geführt hat. Laut «Afghanistan Papers» sind von den rund 2,2 Billionen US-Dollar, die der Krieg in Afghanistan allein die USA gekostet hat, etwa 800 Milliarden in dunklen Kanälen verschwunden – nicht zuletzt auf den Konten von Warlords, Politikern, Drogenbaronen in irgendwelchen Steueroasen. Ein erheblicher Teil dieser großzügigen Alimentierung entfällt auf die Regierungszeit Obamas. Zum Vergleich: Das Bruttosozialprodukt Afghanistans betrug 2020 knapp 20 Milliarden US-Dollar.
Beim Lesen denke ich immer wieder um vom Hindukusch an den momentanen Krieg in der Ukraine. Haben die Russen nichts aus dem Debakel der Sowjets in Afghanistan gelernt? Liegt es – nur – an der Borniertheit der Gewalttäter und ihrer Staatslenker? Entspringt die Ukraine-Ideologie der USA der gleichen Rüstungsindustrie, die auch in den Krieg am Hindukusch bannig viel Geld steckte, um noch mehr rauszuholen und die US-Oligarchen gegen Begehrlichkeiten fremdnationaler Interessen (?) abzusichern?
Schon der Eintritt der USA und ihrer NATO-Verbündeten war dem Gedanken der Rache für 9/11 geschuldet, Afghanistan war nicht das Heimatland der Terroristen, aber dort hatte Osama bin Laden Zuflucht gesucht. Eine andre als militärische Lösung wurde von Präsident Bush nie angestrebt. Aber „es hat, man kann es nicht deutlich genug hervorheben, nie ein grünes Licht der Vereinten Nationen für den Afghanistan-Krieg gegeben.“ Auch das Ende des Krieges war ein Desaster. Der überstürzte und unkordinierte Abzug hinterließ nicht nur weitere afghanische Opfer, sondern führte zur abermaligen Machtübernahme der bekämpften Taliban.
Im Januar 1998 gab der US-amerikanische strategische Vordenker Zbigniew Brzezinski der französischen Zeitschrift Le Nouve Observateur ein bemerkenswertes Interview, in dem er Klartext redete – jenseits der üblichen Formeln rund um «Demokratie» und «Werteorientierung», die gemeinhin zur Rechtfertigung westlicher Interventionspolitik herhalten müssen:
(…) Haben Sie selbst die Absicht verfolgt, dass die Sowjets einen Krieg beginnen, und nach Mitteln und Wegen gesucht, das zu provozieren?
Nicht ganz. Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben wissentlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es dazu kommen würde.
Als die Sowjets ihre Intervention mit der Absicht begründeten, dass sie das geheime Engagement der USA in Afghanistan bekämpfen wollten, hat ihnen niemand geglaubt. Dennoch war die Behauptung nicht ganz falsch. Bereuen Sie heute nichts?
Was denn bereuen? Die geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Das Ergebnis war, dass die Russen in die afghanische Falle gelaufen sind, und Sie verlangen von mir, dass ich das bereue? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten hatten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnam-Krieg zu verpassen. Und tatsächlich, fast zehn Jahre lang war Moskau gezwungen, einen Krieg zu führen, der die Möglichkeiten der Regierung bei Weitem überstieg. Das wiederum bewirkte eine allgemeine Demoralisierung und schließlich den Zusammenbruch des Sowjetreiches.
Uwe Wittstock: Februar 33.
Der Winter der Literatur

Erst sechzehn Jahre später, 1949, wird sie wieder in München auf der Bühne der Kammerspiele stehen.
Man kann sich freuen, dass einem eine Jahreszeit als Allegorie in einem Buchtitel begegnet, ja, sogar mit einem Bild von Schlittenfahrern. „Der Winter der Literatur“ ist aber keine Zeit der kleinen Freuden, sondern eine Zeit des Untergangs, eines übergangslosen Absterbens, ohne „Verfall“, so plötzlich erscheint der Tod, so unerwartet. Jede Kultur ist am Ende. Uwe Wittstock zeichnet es nach an der Literatur, der die Nazis in noch immer unvorstellbarer Kürze den Garaus machten.
In wenig mehr als einem Monat waren die deutschen Literaten aus Deutschland vertrieben, war die Literatur, die in der Weimarer Republik eine Blüte erlebte, speziell in Berlin, der Hauptstadt, ersetzt durch rabiate Ignoranz, durch archaisch raunende Mystik, waren die Bücher verbrannt.
Wittstock beleuchtet Tag für Tag, beginnend mit dem 28. Januar und bis zum 15. März, einem Mittwoch. Erstaunlich groß ist in Berlin die Zahl der Literaten, die sich kennen, sich besuchen, sich miteinander streiten und versuchen, Bündnisse einzugehen, etwa in der Preußischen Akademie der Künste – Abteilung für Dichtkunst. (wobei Solidarität für Dichter gar nicht so einfach ist.) Alle sind aufgescheucht im Umfeld der Wahlen zum Reichstag im März 1933. Manche reflektiert, manche kopflos, manche gelähmt, viele nach Gleichgesinnten und -bedrohten suchend, auch welche, die sich im Angebot des Völkischen wiederzuerkennen meinen. Benn etwa. Was „Der Winter der Literatur“ nicht ist: politische Analyse, Kausalitätsforschung.
Erschreckend ist auch heute noch, wie schnell alles ging. Wie umfassend die Nazis vorbereitet waren für die Ausrottung und Vertreibung der Schriftsteller, wie schnell die Kultur annulliert war, wie blauäugig die Kulturträger bis zuletzt dachten, hofften oder reagierten, wie naiv sie waren im Hinblick auf die erwartete Dauer des Faschismus. „Es gehe jetzt nur darum, die nächsten Wochen zu überleben.“ «Ich bleibe auf alle Fälle», sagt Gabriele Tergit. «Man muss doch der Historie zusehen.»
«Ich möchte das ja auch», meint Ossietzky und macht dazu ein Gesicht, in dem Zweifel zu lesen sind, ob man der Historie tatsächlich bei der Arbeit zuschauen kann.
Dann werden die Korrekturfahnen gebracht. Gabriele Tergit steht auf und verabschiedet sich: «Auf Wiedersehen.»
Aber sie wird Ossietzky niemals wiedersehen.
Man vergleicht auch immer wieder, ob die Neonazis heute ähnliches Potential aufgebaut haben, ob die Verharmlosung zu lang anhielt und anhält, ob aus der Geschichte wieder mal nichts gelernt wurde. Die Schriftsteller scheinen überwiegend unpolitischer geworden zu sein, sich in individualisierenden Identitätsscharmützeln zu verdrücken. Noch kann man Aufrufe unterschreiben, noch kann man zweifeln, ob Mordaufrufe von potentiellen Mördern stammen oder von Trollen. Gibt es jemanden, der die Jahreszeit der Gegenwartsliteratur aufzeichnet? Uwe Wittstock schließt an jede Episode einen Tagesbericht über die politischen Auseinandersetzungen an – und es liest sich schrecklich.
Die Grippe flaut ab. In Berlin werden nur noch 300 bis 400 Neuerkrankungen pro Tag gemeldet.
In Doberan bei Rostock greifen SA-Leute eine Veranstaltung des republiktreuen Reichsbanners an. Ein Angehöriger des Reichsbanners wird getötet, neun Männerdieses Verbandes und zwei Nationalsozialisten werden schwer verletzt.
In Duisburg-Hamborn werden Mitglieder derKPD in einem Bootshaus überfallen. Einer der Männer wird durch zwei Kopfschüsse und einen Schuss in die Brust getötet. Drei andere erleiden schwere Schussverletzungen.
Bei einer Schlägerei in Chemnitz-Erfenschlag zwischen Nationalsozialisten und Männern des Reichsbanners wird ein Mann durch einen Messerstich so schwer verletzt, dass er beim Transport ins Krankenhaus stirbt.
(Samstag, 18, Februar)
Wittstocks Panoptikum ist ohne Anspruch auf Vollständigkeit, zeigt aber Szenen aus dem Überleben von verstörten, getriebenen Menschen, die sich als Schreibende in die Öffentlichkeit gewagt haben und deshalb angreifbar geworden sind, drangsaliert von einer Bande akultureller Geiferer mit stupid-perfider Ideologie. Wittstock bedient sich der bewährten Methode des Arrangements von Simultaneitäten.“Hitler hält ab 20 Uhr im Sportpalast an der Potsdamer Straße vor rund 10000 Zuhörern seine erste große Rede im Wahlkampf. (…) Zur gleichen Zeit, ab 20 Uhr, hält Thomas Mann im Auditorium Maximum der Münchner Universität seine Rede über Richard Wagner.“ (Freitag, 10. Februar)
„Februar 33“ ist „von suggestiver Dichte und sprachlicher Überzeugungskraft. Wittstock hat seine einzelnen Szenen arrangiert wie ein Dokudrama: Schnitt, Gegenschnitt.“ (Christian Thomas, FR)
Nachdem sich Walter Mehring von Brecht im Krankenhaus verabschiedet hat, stapft er durch die zunehmende Kälte zu einem Café, in dem der SDS, der Schutzverband deutscher Schriftsteller, für den Nachmittag ein Treffen geplant hat. Mehring wird dort erwartet, er soll aus seinen Texten lesen, und natürlich will er von der Warnung berichten, die ihn über den Freund aus dem Außenministerium erreicht hat. Aber noch bevor er das Café betreten kann, kommt auf der Straße eine Schönheit mit dunklen, ungezähmten Locken auf ihn zu, Mascha Kaléko. Sie ist fünfundzwanzig, eine gewitzte, geistreiche Frau, die mit ihrer nüchtern-ironischen Lyrik schon jetzt als eine der wichtigen neuen Dichterinnen des Landes gilt. Viele Zeitungen drucken ihre Gedichte, und im Rowohlt Verlag ist vor einigen Wochen ihr erster kleiner Band erschienen mit dem schönen, neusachlichen Titel Das lyrische Stenogrammheft. Doch jetzt im Moment geht es Mascha Kaléko nicht um Literatur. «Mehring», zischt sie ihm zu, «Sie müssen sofort verschwinden! Da oben ist die Hakenkreuz-Hilfspolizei mit einem Haftbefehl für Sie!»
Mehring dreht auf der Stelle um. Er will nicht auffallen, also geht er langsam und ist froh um jeden Meter, den er sich von dem Café entfernt. Schritt um Schritt schleicht er sich in Sicherheit. Dann entschließt er sich, jetzt sofort den Rat umzusetzen, den ihm dieser Freund über seine Mutter zukommen ließ. Er geht zum Bahnhof und setzt sich in den nächsten Zug Richtung Grenze.(Montag, 27. Februar)
Leseprobe beim Verlag C.H.Beck
Georg Seeßlen
& Markus Metz:
Wir Kleinbürger 4.0 –
Die neue Koalition und ihre Gesellschaft

Aber natürlich verhält es sich auch genau andersherum.
72 Es ist die bizarre Botschaft der deutschen Familienserie, von den »Unverbesserlichen« über »Ein Herz und eine Seele« oder »Familie Heinz Becker« bis zur »Lindenstraße«, dass die im Kern unerträglichen Zustände so dargestellt werden, dass am Ende doch mehr Zusammenhalt bleibt als Auseinanderbrechen. Die »Lindenstraße« wurde zu einem Zeitpunkt eingestellt, als an ein Zusammenspiel der verschiedensten Impulse und Ideen im Kleinbürgertum rational und konfligierend nicht mehr zu denken war und nur noch die Flucht zum »Bergdoktor« oder aufs »Traumschiff« blieb.
Das ist die Fußnote 72 und sie zeigt Den Glanz und das Elend des Kleinbürgertums, zu dem sich auch die Autoren zählen. „Wir“ (!) Da wird das Ergebnis der Gedanken bis in den banalsten TV-Serie konkretisiert und zugleich sind die analysierenden Begriffe so schwammig, dass die Aussage zugleich präzise treffen und dabei die Zusammenhänge verschwimmen: Zusammenhalt, Auseinanderbrechen, Impulse und Ideen verschiedenster Art. Die Menschen werden zum Konglomerat, immer im Dazwischen, in Transformation, doch ohne voranzukommen.
Der linke Kleinbürger verleugnet immer abwechselnd sein Kleinbürger-Sein und sein Links-Sein. Und zugleich sehnt er sich so sehr nach Räumen und Sprachen der »Selbst-Verständlichkeit«, dass er aus diesem Widerspruch in einen Mythos flüchtet, den Sowohl-als-auch-Mythos. Nach Haltungen und Erzählungen, in denen man gleichzeitig kleinbürgerlich, links und liberal sein kann, ohne diese drei Parameter benennen und analysieren zu müssen, gestaltete sich das linke Projekt auf das simple Projekt: das Recht des Proletariats, zu Kleinbürgern zu werden. Genauer gesagt wurden das Proletariat und seine politische Repräsentanz »abgeschafft« zugunsten einer vorläufigen und besonders perfide konstruierten »unteren Mittelschicht.
Seeßlen und Metz systematisieren äußerst kleinschrittig. Sie sind bei ihrer Durchleuchtung des Kleinbürgerlichen inzwischen bei Version 4.5 angekommen, wobei im Kleinbürger stets die sozialpolitische, also ökonomische Basis steckt, welche den Kleinbürger für sein Leben und sein Weltbild passend verformt und passend macht. Das Phänomen Kleinbürger ist nicht neu, Seeßlen und Metz bezeichnen es als „Klasse, die nicht eine ist“ und verfolgen die Entwicklung und Ausformung durch die Zeiten: „Wir (!) Kleinbürger“ einst und jetzt, vom Feudalismus zum Neoliberalismus. Gegenwärtig, so der Titel, bilde der Kleinbürger 4.0 „die neue Koalition und ihre Gesellschaft“. Das Buch kam 2021 heraus und ersichtlich rechneten die Autoren mit einer schwarzgrünen Verbindung, doch macht der Partnerwechsel wenig Änderungen nötig.
„Nach unseren, zugegeben, ein wenig mäandernden Annäherungen“ an die Definition des Begriffs taucht diese in abgewandelter Form immer wieder auf. Sie lavieren durch der Kleinbürger „Freizeitvergnügen“, ihre „Traumwelten“ und ihre „sexuelle Ökonomie“, ihre bevorzugten Fernsehprogramme.
Auf der einen Seite gibt es also Prozesse der Auf- und Abwertung. Und zwar in den Bereichen Ökonomie, Politik und Kultur. Zum zweiten gibt es Prozesse der Verdichtung und Prozesse der Auflösung. Und zum dritten schließlich sind die Spannungen zwischen objektiver und subjektiver Klassensituation einzubeziehen, die sich beständig verändern. Beinahe könnten wir uns einbilden, mit diesem dreidimensionalen Modell des Kleinbürgertums die unberechenbare Klasse eben doch mehr oder weniger berechenbar zu machen.“
Ein Buch, das alles will und vieles fasst, doch bleibt mir nach dem Lesen wenig im Gedächtnis. Die Feststellungen mögen stimmen, ich kann ihnen weder zustimmen noch sie in Frage stellen, sie erschlagen mich. Der eloquente Text mäandriert durch die 280 Seiten, doch: Wofür mag das Buch nützlich sein?
Das Dürfen wird zum Synonym von Freiheit, und entsprechend hysterisch werden die späteren Ausfälle gegenüber dem, was man nicht dürfen soll, zum Beispiel in einer Pandemie. Die Kultur des Dürfens, die sich gegen das archaische Wollen und das feudale Müssen stellt, entspricht der kleinbürgerlichen Verschiebung von Diskurs zu Dispositiv. Der Raum des Dürfens lässt sich im Übrigen leichter kommerzialisieren als der Raum des Müssens und der Raum des Wollens.
Inhalt und Leseprobe bei der Edition Tiamat im Verlag Klaus Bittermann
Steffen Mau: Sortiermaschinen.
Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert
Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie. Soziologen schreiben gern über spezielle Themen, auch, um sich von anderen Soziologen abzugrenzen. Und Professoren arbeiten sehr systematisch. Steffen Mau berichtet über die „Neuerfindung der Grenzen im 21. Jahrhundert“. Dieses Thema und diesen Fortschritt habe ich bisher gar nicht bewusst wahrgenommen, aber es lohnt den Blick, Eigentlich sollte der Grenze zu Zeiten der Globalisierung weniger Bedeutung zukommen, doch der Mauerbau ist en vogue, nicht nur dank Trumps „Build! The! Wall!“, sondern auch um Israel herum und, oft in Form des „Schutzdrahtes“, quer durch Europas Länder und um den Kontinent herum.
Es gibt, so meine These, parallel zur entgrenzenden Globalisierung kaum übersehbare Trends der Schließung, der Grenzselektivität und der Kontrolle. Reduziert man Globalisierung nicht auf Grenzüberschreitung, sondern versteht sie allgemeiner, wie auch schon in Anthony Giddens‘ früher Begriffsbestimmung angelegt, als grenzüberschreitende Wechselseitigkeit, oder noch genauer als Prozess des In-Beziehung-Setzens, dann rückt auch das Bordering in den Fokus. Die Intensivierung der globalen Konnektivität kommt jedenfalls nicht nur als Schwächung der Grenzen daher, sondern auch als Veränderung ihrer Operationsweise. Schließlich sind Grenzen Schnittstellen, die Austausche regulieren, so dass es schon eine grobe Einschränkung wäre, nur den Rückbau und die Öffnung von Grenzen als Globalisierungsindiz zu sehen, nicht aber auch den komplexen Transformations- und Anpassungsprozess der Grenze selbst. Ich verstehe Globalisierung als inhärent doppelbödigen Prozess, bei dem Öffnung und Schließung zugleich auftreten, weil dadurch Adjustierungen der Außenverhältnisse vorgenommen werden. Entgrenzung und Begrenzung sind in diesem Verständnis mit der Globalisierung verknüpft und ko-konstitutiv. In einer dialektischen Zuspitzung lässt sich die These aufstellen, dass Grenzöffnung und Grenzschließung sogar ursächlich miteinander verbunden sind, es also einen kausalen Nexus zwischen beiden gibt.
Wo Grenzen im Binnenraum abgebaut werden – Schengen -, wird der Raum umso stärker gegen außen gepanzert. Die Beispiele aktualisieren sich laufend. Mau systematisiert diese „Fortifizierung“ ausführlich, auch mit wissenschaftlichen Schleifen. Die „Filtergrenzen“ betonen die Ungleichheit bei der grenzüberschreitenden Mobilität, „Während ein kleiner Kreis Privilegierter heute nahezu überallhin reisen darf, bleibt die große Mehrheit der Weltbevölkerung weiterhin systematisch außen vor.“ (Klappentext)
Aktuell wird’s bei den „Smart Borders“, die noch in der Probephase sind, aber zunehmend die materiellen Barrieren ersetzen. „Die Versuche Trumps, die Demokraten als Gefährder der nationalen Sicherheit dazustellen, denen der Schutz der eigenen Bevölkerung vor unkontrolliertem Zustrom von Migrantinnen und Migranten nicht am Herzen liege, wurden von diesen entsprechend gekontert: Mauern seien Bauwerke des Mittelalters, die zur Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts keinen Beitrag mehr leisten könnten. Stattdessen favorisierten sie «Smart Borders» — auf Deutsch «intelligente Grenzen» —, die eine effektive Herstellung von Sicherheit ermöglichen sollen.“
Dabei geht es um ein ganzes Arsenal von sich auffächernden technologischen Möglichkeiten, etwa um die Nutzung von Datenbanken, algorithmische Risikoanalysen, biometrische Identifikation, automatisierte Kontrolle, sensorische Erfassung, Tracking- und Tracingverfahren, Video- und Audioüberwachung, Wärmebilder etc. Smart Borders folgen der Logik nicht-physischer Grenzziehungen und setzen sowohl auf Überwachungspermanenz, indem die Geschehnisse an Grenzübergängen oder in Grenzzonen dauerhaft beobachtbar und von menschlichem Personaleinsatz unabhängig gemacht werden, als auch auf zielgenaue Identifikation und Adressierung von Personen, indem Körpermerkmale erfasst und auf digitale Informationspools bezogen werden, die dann bei der Grenzkontrolle wirksam werden. Ein wesentliches Ziel besteht darin, mobile Personen mittels neuer Technologien und Datenbanksysteme möglichst effizient zu identifizieren, sicherheitstechnisch zu überprüfen und zu filtern.
Diese Sortier-Funktion der Grenzen gab es schon immer, doch verändern sich die Mittel und Möglichkeiten der Kontrolle, bis hin zur Immaterialisierung der Tools, die für die Person, die die Grenze „überschreitet“, nicht mehr feststellbar ist. Das Buch analysiert scharf, leuchtet alle Aspekte aus, trotz fachspezifischer Terminologie liest man sich rasch ein. „Steffen Mau liest diese Prozesse als komplexes Ineinandergreifen von politischer Ausrichtung, an Grenzen manifestiere sich das Zusammenfallen von Territorialraum und Mitgliedsraum, das staatliche Monopol der Mobilitätskontrolle. Mehr noch, an der Grenze wird auch kognitiv die Trennlinie zwischen „eigen“ und einem vereinheitlichenden „fremd“ gezogen – der Streit um das Begriffspaar wird mit Blick auf kulturelle Zugehörigkeit auch überstaatlicher Gebilde wie der EU ausgefochten, soll den Zugang steuern.“ (Lennart Laberenz, taz)
Videos zu „Sortiermaschinen“ – youtube-Übersicht
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Jan Feddersen,
Philipp Gessler:
Kampf der Identitäten.
Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale

30 Seiten Glossar – alle Begriffe zur Identitätspolitik. Diese 175 Erklärungen braucht man schon, will man sich in den „Abgründen“ und „Sackgassen“ des sich aufstauenden Diskurses nicht verlieren.
Bevor die beiden Autoren ihren Trip durch Orte der Identitätspolitik starten, stellen sie sich in „Selbstpositionierungen“ vor. Das soll auf ihre Sichtweisen einstimmen, diese aber auch absichern, denn die Propagandisten der Identität folgen oft einem „Reinheitswahn“ und sind ohne Humor. Vergeschlechtlichen ist Standard, LGTTQIAAP* als „Abkürzungskombination für viele Minderheiten“ ist Forderung an alle „woken“ Geister. („Nach aktueller Lage der Dinge sind inzwischen 76 sexuelle Identitätsformen bekannt.“)
Die Autoren stehen einer rigorosen Identitätspolitik skeptisch gegenüber. Das künden sie bereits im Untertitel an: „Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale“. Für das Buch haben sie mit „Expert*innen“ gesprochen, die ein linkes oder liberales Spektrum repräsentieren. Als solche gelten u.a. Daniel Kehlmann, Harald Welzer, Ijoma Mangold, Paula-Irene Villa Braslavsky, Ronya Othmann. „Dass etliche Kolleg*innen der taz zu Wort kommen, liegt nicht nur an unserer Nähe zu dieser Zeitung selbst, dies gewiss auch, sondern vor allem nehmen wir die taz ernst als seismographisch zuverlässigstes Medium für die Debatten in der kulturell nach wie vor tonangebenden Linken. Last but not least konnten wir auch der Geschlechterforscherin und »Polittunte« Patsy l’Amour laLove und der Feministin Alice Schwarzer unsere Fragen zum Thema stellen.“
Die USA gelten als Ausgangspunkt der identitätspolitischen Strömungen und dort vor allem die Hochschulen. (s.a. Caroline Fourest: Generation beleidigt) Auf fast 20 Seiten bringen Feddersen und Gessler Beispiele für Entwicklungen, die bis hin zu Sprech- und Lehrverboten für Dozent*innen führen. („In einem Kurs über Shakespeares )Richard III.< stand eine Studentin auf und sagte, sie fühle sich wegen der Brutalität des Königs in diesem Kurs nicht mehr sicher.“) Die Studenten leiten ihre Diskurshoheit auch daraus ab, dass sie mit ihren hohen Studiengebühren die Unis (mit)finanzieren. Aber auch in Deutschland nehmen die Dispute in der Kulturszene und in den Medien zu. (s.a. Mithu Sanyal: Identitti)
Feddersen und Gessler arbeiten sich durch zentrale Themen der Suche nach „Identität“ und deren Behauptung im gesellschaftlichen Leben. Kulturelle Aneignung, cancel culture, Intersektionalität. vieles ist für Interessierte wohl bekannt, Die Autoren gehen die Realität der sich immer stärker differenzierenden Gruppen mit der nötigen Skepsis an, versichern sich ihrer Gegen-Meinung und betrachten auch „Blinde Flecken“: Antisemitismus, die „Klassenfrage“ und „Heimat als Albtraum“.
Nachhilfe bekamen sie vor einigen Jahren von aktuellen Stars des intersektionalen Aufbruchs erteilt. In dem Buch Eure Heimat ist unser Albtraum zeichneten sie ein Panorama Deutschlands, das nicht einmal im Hinblick auf in der Tat zu verhandelnde Klassenfragen stimmig war: ein Fegefeuer, das keine Erlösung verspricht. Die Autor*innen, unter anderem Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa und Margarete Stokowski, zählen längst zur Elite dieser Gesellschaft, zu den Stichwortgeber*innen der Zeit. Ihre Texte genießen den Ruf von Dringlichkeit und Relevanz. Aber warum ein Land, das ihnen den Aufstieg auf mediale Gipfel doch durch Bildungschancen und Diversitätstoleranzen ermöglicht hat, keine Heimat, vielmehr für sie ein Albtraum sein soll – das wurde leider außerhalb ihrer Bubble nie zur Klarheit gebracht.
Wir hoffen auch, nachgewiesen zu haben, dass es der Identitätspolitik an sogenannter Ambiguitätstoleranz und an Humor fehlt, es ihr an der Fähigkeit mangelt, Zwiespältiges auch einfach mal auszuhalten und sowieso an beherzter Zuversicht. Den »antimuslimischen Rassismus« halten wir für eine schiefe Konstruktion, eine falsche Wortkonstruktion, die identitätspolitisch motivierte postkoloniale Relativierung des Holocaust für gefährlich und die öffentliche lancierte Diskussion überTrans*menschen für völlig aus dem Ruder gelaufen. Wir glauben, dass die Identitätspolitik die Klassenfrage sträflich vernachlässigt, ja, absichtsvoll übersieht, dass sie zum großen Teil einem Religionsersatz gleicht und dass sie die Chancen eines schwarz-rot-goldenen Verfassungspatriotismus unterschätzt.
Ihrer Bilanz fügen Feddersen und Gessler 18 Thesen an, in denen sie erklären, „was wir selbst wollen, wofür wir stehen“.
1. Wir sind gegen Stammesdenken – und für Universalismus Wir glauben, dass die Identitätspolitik am Ende einer Tribalisierung oder einem Stammesdenken Vorschub leistet, ungewollt vielleicht, aber fast unentrinnbar, lässt man sich auf ihre Maximen ein. Ein Mensch ist ein multipel-identitäres Wesen – nie nur eines mit einer Staatsangehörigkeit, einer Hautfarbe, einer religiösen Weltanschauung, einer sexuellen Identität oder einer Klassenprägung.
3. Die Linke sollte sich nicht neoliberal spalten lassen Die Identitätspolitik ist groß geworden in der Ära des neoliberalen Kapitalismus, in dem Universalismus vor allem als Universalismus der globalen Geldströme verstanden wurde und gesellschaftliche Probleme, in welchem Land auch immer, dieser Ideologie zufolge zuerst durch eine Veränderung des*der Einzelnen angegangen werden sollten. Auf diese Logik aber sollten wir uns nicht einlassen. (…) Die Linke darf sich nicht durch dieses Konstrukt neoliberal spalten lassen.
Ein guter Überblick, engagiert, aber nicht einseitig, in der Kritik differenziert und nicht plump wie Nuhr, Flaßpöhler & Co.
Jan Feddersen & Philipp Gessler: Kampf der Identitäten – taz Talk meets Buchmesse Frankfurt (Oktober 2021 – 1:10)
Bernd Greiner:
Made in Washington
Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben

Man liest viel von den unzivilen Russen oder den autoritären Chinesen am Ende des Jahres 2021. Unsere neue Regierung will sich stärker dagegen stemmen und kündigt eine Außenpolitik nicht orientiert an (wirtschaftlichen) Interessen, sondern „wertebasiert“ an: „Werte sollen eine größere Rolle spielen.“
Im Klappentext zu Bernd Greiners Buch „Made in Washington“ heißt es kurz und deutlich:
„Wer Menschenrechte, Freiheit und Demokratie auf Washingtons Art verteidigt, beschädigt diese Werte im Kern.“ Stimmt die politische Geographie nicht (mehr)? Hat man West und Ost verwechselt, ist der „Westen“, sind die USA nicht der Hort und die Schutzmacht der freiheitlichen Wertegemeinschaft? Ist die „Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika“ nicht nur Grundsatz der „Friede Springer Stiftung“, sondern auch der deutschen Außenpolitik?
Bernd Greiner beschreibt und belegt ausführlich, „Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben“. 1945 die Atombomben auf Japan, völkerrechtswidrige Angriffe auf Jugoslawien, Krieg gegen den Irak mit billig vorgeschobenen Gründen, Beteiligung an Putschen in Lateinamerika. Abu Ghraib: Nackte Männer, übereinander gestapelt vor grinsenden Wärtern, ein Gefangener, Kapuze über dem Kopf und in einen schwarzen Umhang gehüllt, der mit ausgebreiteten Armen und an Händen und Füßen verdrahtet auf einem Schemel steht — jede Bewegung könnte Stromschläge auslösen, hatte man ihm gesagt. „Ob mit der Folter Informationen gewonnen wurden oder nicht, spielte letzten Endes keine Rolle. In den Worten des Journalisten William Pfaff: «Die Administration Bush foltert Gefangene nicht, weil es einen Nutzen hätte, sondern wegen der Symbolkraft.»“
Vietnam, Laos. „Das kleine «Land der Millionen Elefanten» war bitterarm, in den Weltwirtschaftsstatistiken der 1950er und 1960er Jahre landete es weit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Seine Bewohner, verteilt auf eine Vielzahl von Stämmen und ethnischen Gruppen, lebten von der Hand in den Mund und oft an der Grenze zur nächsten Hungersnot. (…) Von Mai 1964 bis April 1973 warfen amerikanische Flieger ungefähr 2,1 Millionen Tonnen Bomben über Laos ab, dieselbe Menge, die man während des Zweiten Weltkrieges gegen sämtliche Zielgebiete in Europa und Asien eingesetzt hatte. (…) Das Gebiet wurde systematisch umgepflügt, Dorf für Dorf, Haus für Haus, so lange, bis buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen stand und das soziale Leben vollständig zum Erliegen gekommen war. Die Menschen zogen sich in die Wälder zurück, sie gruben Höhlen in Berge und Erdlöcher in das flache Land, wo sie oft monatelang hausten, tagein, tagaus geplagt von Ratten und allem erdenklichen Ungeziefer und hüfthoch verschlammt nach Regengüssen. Es war kein Vergleich zu all dem, was sie außerhalb ihrer notdürftigen Verstecke erwartete — Streu- und Splitterbomben, die nach der Explosion wie aus einer Schrotflinte hunderte Geschosse abfeuerten, deren Widerhaken sich tief in Muskeln und Gewebe bohrten, die riesige Wunden rissen und oft nicht mehr zu entfernen waren.“ Afghanistan. „Wie so oft, war nur eines von Belang: die «show of force», eine Demonstration politischen Willens und militärischer Schlagkraft, alles um des kurzfristigen Vorteils Willen und ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen.“
Keine andere Nation ist seit 1945 derart rabiat aufgetreten. Die Vereinigten Staaten haben mit Abstand die meisten Kriege geführt, wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füßen getreten, sie geben heute noch das meiste Geld für Rüstung aus und unterhalten weltweit mehr Militärstützpunkte als alle anderen Staaten zusammen, sie sind einsamer Spitzenreiter beim Sturz missliebiger, auch demokratisch gewählter Regierungen.
«Us against them», entweder Ihr seid für uns oder gegen uns — ein Satz von George W. Bush, der allen Kapiteln amerikanischer Ordnungspolitik gut zu Gesicht steht.‘ Denn tatsächlich agiert Washington, als bräuchten die Vereinigten Staaten ständig irgendwelche Feinde und als wüssten sie ohne Feindstellung nicht, wer sie sind und wo ihr Platz in der Welt ist. Die Dramatisierung von Gefahren und das Herbeireden von Ausnahmezuständen gehört zu den Bindemitteln dieser Art Außenpolitik.
Stichwort NATO: So hält man Bündnisse auch über die Zeit ihres Verfallsdatums zusammen, so lässt sich militärische Vormacht nutzen, um politische Gefolgschaft, wenn nicht Vormundschaft einzuklagen. Insofern lag es nahe, den ewigen Feindverdacht über das Ende des Kalten Krieges hinaus zu konservieren. Wenn aber Feinde immerzu zur Stiftung von Identität benötigt werden, bleibt der bekannte Kreislauf sich selbst erfüllender Prophezeiungen auch künftig in Schwung.
Aktuell: Der Konflikt mit Russland bezüglich der Ukraine ist so virulent wie das Ringen mit China um die globale Vorherrschaft. Guantanamo ist immer noch nicht geschlossen. Barack Obamas Drohnenkrieg im Nahen Osten „hat viel mehr zivile Opfer gefordert als bisher bekannt“ (FAZ, 21.12.21).
Greiner bewertet die US-Weltpolitik als „engstirnige(n) Nationalismus, eine ins Metaphysische aufgeblähte Vorstellung vom eigenen Auserwähltsein. Diplomaten sprechen von einer «Politik der freien Hand». Gemeint ist eine Vergötzung des Eigeninteresses und der damit verknüpften Anspruchshaltung: Die USA dürfen sich bei der Durchsetzung ihrer Interessen alle Freiheiten nehmen und sind frei von der Verantwortung für die Folgen ihres Handelns. In diesem Sinne kann man Rücksichtslosigkeit oder die Gewinnmaximierung auf Kosten Dritter als Signatur amerikanischer Weltpolitik bezeichnen.“
Damit das Bild nicht so niederschmetternd wirkt, fügt Greiner in einem Nachwort „Gedanken zu einer Unabhängigkeitserklärung“ an. Er geht zurück auf Willy Brandts Begriff der „Gemeinsamen Sicherheit“. „Ihr Ziel: Eine Politik, die im Frieden fortwährend Krieg spielt, zu ersetzen durch einen Prozess, an dessen Ende die Kriegsgefahr so weit wie möglich eingedämmt ist. «Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio», wie es Willy Brandt bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises im Dezember 1971 formulierte» Ein Satz, der die Lebenslüge einer Generation von Sicherheitsideologen zum Einsturz brachte — die Überzeugung, dass Massenvernichtungswaffen irgendeinen anderen Zweck erfüllen könnten, als massenhaft zu vernichten.“
Der frühere US-Präsident Jimmy Carter im Frühjahr 2019 vor der Baptistengemeinde seiner Heimatstadt Plains in Georgia: «Die USA sind die kriegerischste Nation in der Geschichte der Welt, [weil wir andere Länder dazu zwingen wollen], unsere amerikanischen Prinzipien zu übernehmen.» Seit 250 Jahren gibt es buchstäblich kein Jahrzehnt, in dem die USA nicht Krieg geführt, Truppen in fremde Länder entsandt oder ihnen missliebige Regierungen gestürzt hätten. Warum? Weil Solidarität, verstanden als Teilen von Macht und Reichtum, einem in Washington geheiligten Verständnis von Freiheit zuwiderläuft.
Ängste, Empfindungen, Passionen können Antriebskräfte sein oder diese verstärken. Was Greiner andeutet, aber nicht in den Mittelpunkt seiner Darstellung setzt: Die wirtschaftlichen Interessen, z.B. des sog. militärisch-industriellen Komplexes oder, allgemeiner gesagt, das Primat des Marktes.
Der frühere US-Präsident Nixon zum Krieg in Vietnam: «Wir werden Nordvietnam die Seele aus dem Leib bomben. […] Ist mir scheißegal. […] Einmal wenigstens werden wir die maximale Kraft dieses Landes einsetzen müssen […] gegen dieses verschissene kleine Land. […] Wir werden nicht mit einem Wimmern da rausgehen. Wir werden ihnen verdammt noch mal alles um die Ohren hauen. […] Lasst dieses Land in Flammen aufgehen. […] Einfach die verdammte Scheiße aus dem Land rausbomben. Man muss diese Bastarde einfach — einfach pulverisieren.»
Leseprobe beim C.H. Beck Verlag
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Caroline Fourest: Generation beleidigt.
Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei

Die »Beleidigten« der identitären Linken haben die Gewalt des Kampfes gegen die Rassentrennung, die Apartheid oder den Nazismus nie kennengelernt. Sie haben sich weder für das Recht auf Abtreibung geschlagen noch für das Recht zu lieben, ohne verhaftet zu werden, wie bei den Stonewall-Unruhen in New York 1969. Sie proben den Aufstand gegen asiatisches Essen in der Kantine und gegen Yoga. Ihre zimperliche Haut reagiert allergisch auf den geringsten Verdruss. Eine zur Verletzlichkeit gesteigerte Empfindsamkeit gibt den Antirassismus der Lächerlichkeit preis.
Caroline Fourest stellt mit kaum gebremstem Entsetzen und Zorn Bespiele für die Absurditäten sogenennten „identitären“ Denkens vor. Es geht um Vorwürfe kultureller „Aneignung“, um „Zensur antirassistischer Werke“ (Kapitel), um einen „Wettbewerb der Opfer“ bis zur „Hexenjagd“.
Da fühlen sich Leute provoziert, wenn weiße Frauen sich die Haare kräuseln lassen oder weil Sängerinnen mit blonden Zöpfen auftreten, die angeblich afrikanischen Ursprungs seien, in Kanada mobilisierte die Jugend (?) gegen einen Yoga-Kurs, weil manche meinten, damit würde man sich „indische Kultur“ aneignen. Anstoß genommen wurde auch an Jamie Olivers „Jerk-Reis“.
Unter den Tausenden von ihm interpretierten Rezepten befand sich auch ein später vermarktetes Reisgericht, dem man vorwarf, es sei nicht rezeptgetreu. Die Bezeichnung »Jerk-Reis« bezieht sich auf eine von afrikanischen Sklaven im 17. Jahrhundert erfundene Gewürzmischung. In Jamaika, wo sie äußerst beliebt ist, wird sie bei der Zubereitung von Hühnchen verwendet, jedoch nicht für Reis. Das reichte aus, um einen Skandal loszutreten. Internetaktivisten beklagten, das Rezept enthalte nicht alle nötigen Gewürze.“
Die Inquisitoren der kulturellen Aneignung gehen wie Fundamentalisten vor. Ihr Ziel ist es, ein Monopol über die Darstellung des eigenen Glaubens zu wahren, indem sie anderen verbieten, ihre Religion zu malen oder zu zeichnen. Dadurch zeichnen sie selbst sich maßgeblich aus. Im Falle der kulturellen Aneignung treiben Schriftsteller, manchmal auch Künstler oder Aktivisten ihr Spiel mit ihrem Minderheitenstatus, um ihre Vorstellungen und ihre Deutungshoheit umso besser durchsetzen zu können.
Fourests Beispiele sind nicht alle ganz neu, sie wirken auch manchmal überzeichnet, man hat aber den Eindruck, dass sich die Intensität „identitärer“ Vorwürfe seither erweitert und radikalisiert hat. Fourest sieht die „Inquisitoren“ vor allem an amerikanischen Universitäten, wo – afroamerikanische – Studenten auf das Recht auf Respektierung ihrer kulturellen, farbigen oder auch ihrer Gender-Identität(en) einklagen, teils auch mit rabiaten Methoden. Sie hat – nicht unberechtigte – Angst, dass sich der Gesinnungsterror auch in Europa verbreiten könnte. Noch gebe es aber Widerstände und argumentative Debatten.
Die Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder Homophobie ist weder zweitrangig noch ein bloß »bürgerliches« Gefecht. Diskriminierung tötet, vernichtet und entwürdigt. Derart giftige Vorurteile muss man weiterhin angreifen, doch auf intelligente Art, mit dem wirklichen Ziel, zu überzeugen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, Stereotypen abzubauen,die Ketten der ethnischen Zugehörigkeiten zu sprengen und die Aufteilung der Rollen und Geschlechter zu überprüfen. Der Traum fluider Identitäten, freier Sexualitäten, des Transkulturalismus und einer gemischten Gesellschaft bezeichnet das genaue Gegenteil der Welt der identitären Linken, die sich von Konflikten, die die Menschen in ihre jeweilige Schubladestecken, von Opferkonkurrenz und von endlosen Antagonismen nährt. Diese Tyrannei der Beleidigung erstickt uns. Es ist Zeit, Luft zu holen und wieder zu lernen, die Gleichheit zu verteidigen, ohne der Freiheit zu schaden.
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Fabian Scheidler:
Der Stoff aus dem wir sind

Nein. Die Welt ist nicht mechanistisch. Weder die Physik noch die Biochemie, weder das All noch die kleinste Innenwelt, also sollte es auch die Gesellschaft nicht sein. Es gibt nicht die Teilchen, nicht die gigantischen noch die winzigsten, die einander anstoßen und so zu Reaktionen und Kausalitäten führen, die das Universum erklären oder zu evidenten Prognosen leiten könnten. In der Physik sind es die Quantenverschränkungen, „energetische Beziehungen“. In der Sprache der Quantenphysik bestehen wir und unsere Welt nicht aus Materie, nicht aus Dingen, sondern aus »Anregungen von Energiefeldern«.
Was in der modernen Atomphysik als Kern allen Stoffes bleibt, sind also im Wesentlichen strukturierte Wechselwirkungen von Energiefeldern, die man eher als Vorgang denn als Ding verstehen sollte. Hans-Peter Dürr formulierte dies so: »Auf der Quantenebene gibt es eigentlich nur das, was man Wechselwirkung nennt. Eine Wechselwirkung ohne Dinge, die miteinander wechselwirken. Und das, was wir dann Materie und Substanz nennen, das sind Verklumpungen dieser Wechselwirkungen. «
„Dieses Buch ist ein großer Wurf.“ (Ernst Ulrich von Weizsäcker) Es gibt aber auch kritischere Stimmen: „Recht hat Scheidler nur insofern, als manche Deutungen der modernen Physik das atomistische Teilchenkonzept relativieren und dafür einem so genannten Strukturenrealismus den Vorzug geben; demzufolge übernehmen quantisierte Felder die fundamentale Rolle, die im klassischen Weltbild Partikel spielen. Mit der Förderung ökologischer Verantwortung, auf die Scheidler ja eigentlich hinauswill, haben solche naturphilosophischen Nuancen freilich nur sehr entfernt etwas zu schaffen.“ (Michael Springer, SPEKTRUM) Mir fehlen im naturwissenschaftlichen Bereich die Kompetenzen zur Beurteilung. Trotzdem oder gerade deswegen finde ich vor allem diese Teile interessant.
»Das Leben hat die Erde nicht durch Kampf erobert, sondern durch Vernetzung« – also durch Kooperation» Lynn (Margulis) Die Endosymbiose ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Evolution oft durch Fulgurationssprünge voranschreitet und nicht allein durch gleichmäßig auftretende zufällige Mutationen und deren Selektion.
In der Biochemie ist die Selbstorganisation der Zellen die Basis des Lebens. „Was wir hier vor Augen haben, funktioniert tatsächlich »ohne Chef«; selbst die DNA ist, wie wir später noch sehen werden, keineswegs eine Kommandozentrale der Zelle, sondern Teil dieses selbstregulierenden Prozesses.Dass zehn Billionen Einheiten ohne einen dirigierenden Mastermind alle »wissen, was zu tun ist«, und auf sinnvolle Weise miteinander interagieren, ist ein schwindelerregender Grad von Selbstorganisation.
Die Komplexität einer Zelle sprengt nicht nur unsere Vorstellungskraft, sondern auch alle denkbaren maschinellen Rechenleistungen um viele Größenordnungen. (…) Diese Komplexität steigert sich nochmals um viele Größenordnungen, wenn wir von der Ebene der Moleküle und Atome auf die Quantenebene wechseln, wo sich die scheinbar festen »Bausteine des Lebens« als ein pulsierendes Netzwerk von Energiefeldern zeigen, in denen alles im Universum im Prinzip miteinander verbunden ist. (…) Und je weiter die Forschung die kleinsten Strukturen, sowohl der Zellen als auch der Atome, erkundet, desto weniger scheint diese Welt tot, sondern immer lebendiger.
Scheidler überträgt diese Beziehungsweisen von unbelebter und belebter Natur auf Gesellschaft und auch Wirtschaft. Auch hier sieht er die „Trennungen“, die alles auf Atomisierung und Profitabilität einschrumpfen, alles als technisierbares Objekt betrachten, ob in Wissenschaft oder Gestaltung.
Die Zerstörung gewachsener Sinngefüge durch die Expansion der modernen Megamaschine hat in vielen Teilen der Erde ein kosmologisches Vakuum hinterlassen, das mit verschiedenen Namen bedacht wurde. Max Weber sprach von der »Entzauberung der Welt«, Georg Lukaćs von »transzendentaler Obdachlosigkeit« und Albert Camus von der »Absurdität« der menschlichen Existenz. Es ist wichtig, sich hier noch einmal darüber klar zu werden, dass diese »Entzauberung« nicht, wie Monod glaubte, von der Wissenschaft selbst ausging. Die emotional-geistige Entleerung der Welt ist nicht die Folge der wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern das Ergebnis eines gewaltsamen traumatischen Prozesses.
Die grundlegendste dieser Trennungen ist die Abspaltung der Natur, die als tote Verfügungsmasse für das Räderwerk der endlosen Geldvermehrung dient. Diese Entbettung aus der Biosphäre macht die moderne Ökonomie so gefährlich: Sie verhält sich auf der Erde wie eine Armee außerirdischer Kolonisatoren, die alles mitnehmen, was sie kriegen können.“
Dieses Prinzip verdeutlicht er u.a. an der Landwirtschaft (Massentierhaltung), der Ernährung, der Zerstörung der Biosphäre, am Bankensystem, an Bildung und Gesundheit, an Katastrophen und Pandemien. Das ist nicht neu, doch in der Zusammensicht der Systeme, einer „Kosmologie“ als drängend dargestellt.
Die von den technologisch denkenden Ingenieuren angebotenen Lösung wie „Geo-Engineering und die Flucht in den Weltraum“ sieht Scheidler als Wahnbilder und tödliche Illusionen des Homo technocraticus.
Wie sollen Menschen, wenn sie die Symptome der gegenwärtigen Krisen beständig in sich unterdrücken, in die Lage geraten, die dahinterliegenden Ursachen zu erkennen, aus ihrer Isolation herauszukommen und gemeinsam handlungsfähig zu werden? Schon aus diesem Grund ist die Sphäre der Innenwelten nicht von den großen Menschheitsfragen zu trennen. Die Leiden an der Entfremdung ernst zu nehmen und den verdrängten Innenwelten eine Stimme zu geben, ist eine eminent politische Handlung, ohne die ein Tiefenumbau der Gesellschaft nicht gelingen kann.
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Robert Misik:
Die falschen Freunde der einfachen Leute

Robert Misik ist der wahre Freund, der die einfachen Leute versteht, der sie gegen „Lifestyle-Linke“ in Schutz nimmt, ohne dabei in pseudorechtes Geraune abzugleiten. Die „einfachen Leute“, das sind die Versprengsel der arbeitenden Klasse, sie haben „das Gefühl, jederzeit ersetzbar zu sein“ (Kapitel) „Es ist die ökonomische Realität und die ganz handfeste Erfahrung, nicht der Überbau von Zeitgeisttheoremen, welche die Menschen zu dem resignierten Schluss gelangen lässt: »Ich kümmere mich nur mehr um mich selbst.« Eine solche Lage begünstigt freilich nicht so sehr Protest als vielmehr frustrierten Rückzug.“
Die empfundene Ohnmacht hat zur Folge, dass die Schuld bei »denen« gesucht wird, was auch nicht immer falsch ist: bei den Eliten, die das nicht interessiert, bei den Stadtpolitikern, die sich nicht kümmern, bei den arbeitslosen Jugendlichen verschiedenster Ethnien, die dem Stadtbild eine bedrohliche Atmosphäre verleihen, sich gelegentlich auch danebenbenehmen. Oder vielleicht auch bei den modernistischen Mittelschichten, die dauernd vom »Wandel« sprechen, von dem diejenigen, die sich an den Rand gedrängt sehen, aber selten etwas haben. Je verletzlicher die Position, umso weniger will man von Wandel hören. Der Verwundbare schätzt nicht den Wandel, sondern Stabilität und Gemeinschaft. Für die oberen Schichten bedeutet Wandel, dass du dich weiterentwickelst oder ein Start-up gründest. Für die Arbeiterklasse heißt Wandel meist, dass du gefeuert wirst.
Misik diskutiert, ob es die „arbeitenden Klassen“ heute noch gibt und wie sich in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage entwickelt haben und von den Armen zum „Volk“ wurden. Und er erklärt differenziert, wie sich daraus ihre Weltanschauung geformt hat. Die ehemalige „rebellische Kultur“ sei latent weiter spürbar, aber sie habe ihre Zielrichtung geändert durch das „Gefühl, an den Rand gedrängt worden zu sein“, sie suche sich neue Adressaten der angereicherten Wut. Misik verklärt die Wut gegen die als „abgehoben“ verstandene Mittelschicht und ihre Schuldzuschreibung an Migranten, die als zu Unrecht geförderte Konkurrenz betrachtet wird, nicht, aber er hat Verständnis dafür. Das Buch stammt von 2019, also noch vor dem weiter verschärften Rechtsruck von beträchtlichen Teilen der Bevölkerung, wie er sich angesichts der Corona-Pandemie gezeigt hat. Was bei Misik zu kurz kommt, ist nicht die Entlastung rechten oder rassistischen Denkens, aber die Forderung an das „Prekariat“, eigene Denkanstrengungen zur Analyse der Zustände zu unternehmen.
In einem Kapitel widmet sich Misik auch einer „Rhetorik, die spaltet“, den „Ambivalenzen der Identitätspolitik“.
Die Identitätspolitik ist nicht dafür verantwortlich, dass viele Menschen, die sich als »einfache Leute« verstehen, das Gefühl haben, von den Parteien der hergebrachten Linken hingehängt worden zu sein. Aber die Identitätspolitik kann dazu beitragen, diese schon vorhandenen und begründeten Entfremdungen zu verstärken. Indem sie den Populisten und Extremisten die Möglichkeit gibt, die Linken als abgehobene Spinner hinzustellen, die irgendwelche unbedeutenden Sprachoperationen betreiben, sich wie abgehobene Hohepriester aufführen und die zwar keine Ideen haben, wie man die Verhältnisse für die einfachen Leute verbessern könnte, dafür aber umso mehr Ideen zur Verbesserung der einfachen Leute. Und sich selbst können diese rechten Extremisten dann umso leichter als Vertreter der »normalen Leute« präsentieren. Wo linke Identitätspolitik den »einfachen Leuten« sagt, »Ihr müsst euch ändern«, signalisieren rechte Populisten ihnen: »Ihr seid okay, so wie ihr seid.« Das ist letztendlich das Fundament ihres Erfolges.
Misiks Plus ist, dass er die angeschnittenen Probleme in klarer Sprache kenntlich macht. Er stützt sich dabei auf Untersuchungen und fügt die Ergebnisse in die ausführliche eigene Analyse ein. Die Erscheinungen haben kaum auf Misiks Befunde reagiert, sondern haben sich mit dem ausufernden – und ablenkenden – Identitätsdiskurs oder der AfD/FPÖ oder den sich selbst als „Querdenker“ bezeichnenden abgehängten Mitläufern, die Bedeutsamkeit auf verqueren Wegen – auch sich selbst – vortäuschen wollen, seit 2019 weiter verschärft. Man sollte Misiks Ansagen als Anregung in die eigenen Gedanken mit einbeziehen.
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Rezension von Frauke Hamann in den „Frankfurter Heften“ für „Neue Gesellschaft“
Corona, Krise, Crash? Robert Misik im Gespräch mit Ulrike Herrmann am 30. April 2020 (1 Stunde)
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Wolfram Eilenberger:
Feuer der Freiheit.
Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten – 1933 – 1943

FREIHEIT ist ein dermaßen verwaschener Begriff, dass ihn alle im Munde führen und auf ihre Fahnen pinseln, dass man allen, die „Freiheit“ – angeblich oder real – verweigern, mit Verachtung oder Sanktionen begegnen kann und sollte. Was man selbst als FREIHEIT versteht, muss man nicht mehr erklären oder begründen. Für Freiheitsberaubung braucht man keine Gefängnisse, es genügt Nahrung, Wohnung, Bildung, soziale Teilhabe vorzuenthalten. Freiheit steht immer im Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft.
Wolfram Eilenberger zeigt diesen Kampf um persönliche Freiheit als Voraussetzung oder Ergebnis sozialer und politischer Freiheit anhand des – philosophischen – Denkens von vier Frauen, die sich in exemplarischer Form mit dem Thema auseinandersetzen. Jede von ihnen getrieben vom „Feuer“ persönlicher und geschichtlicher Nöte, jede mit furiosem Eifer und unerbittlicher (Selbst)Disziplin, jede am „äußersten Rand“ der Selbstvernichtung.
Wolfram Eilenberger zeigt diesen Kampf um persönliche Freiheit als Voraussetzung oder Ergebnis sozialer und politischer Freiheit anhand des – philosophischen – Denkens von vier Frauen, die sich in exemplarischer Form mit dem Thema auseinandersetzen. Jede von ihnen getrieben vom „Feuer“ persönlicher und geschichtlicher Nöte, jede mit furiosem Eifer und unerbittlicher (Selbst)Disziplin, jede am „äußersten Rand“ der Selbstvernichtung.
Was Arendt — ebenso wie Beauvoir, Weil und Rand — damals als Philosophierende in realpolitischer Mission anstrebte, es wäre zu jeder Zeit schwer zu erreichen gewesen: politische Wirksamkeit bei gleichzeitiger Prinzipientreue, philosophische Tiefenschärfe und konkrete Umsetzung. Um das Jahr 1941/1942. herum war es indes ein ganz und gar aussichtsloses Unterfangen. Sei es in Paris oder in New York. Sei es im Namen des wahren Sozialismus, des Christentums, Zionismus oder Amerikas; sei es im Namen existentialistischer Solidarität, des Herrn Jesu, eines kantischen Weltbürgertums oder aber eines radikalen Libertarismus. Gerade weil sie Politik in erster Linie denken wollten, waren sie politisch an den Rand gedrängt. Für Philosophierende ist das, blickt man in die Geschichte der Zunft zurück, keine wirklich neue Erfahrung. Und nicht einmal eine des notwendigen Freiheitsverlusts. Von wo aus schließlich sah man klarer auf das Geschehen: wirklich aus dessen Zentrum heraus oder nicht vielmehr aus der Distanz, von seinen äußersten Rändern und Abgründen her?
Simone de Beauvoir (Wer war Simone de Beauvoir? | Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Kate Kirkpatrick | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur (youtube – 0:55) wurde katholisch erzogen, Hannah Arendt (Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus („Zur Person“, 1964 – 1:15) , Ayn Rand (geboren in St. Petersburg als Alissa Rosenbaum) und Simone Weil (Eine Denkerin der radikalen Hoffnung: Martina Bengert und Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Simone Miller) hatten einen jüdischen Hintergrund. Die vier Frauen wurden zwischen 1905 und 1909 geboren, waren also im Untersuchungszeitraum von Eilenberger um die 30 Jahre alt, persönlich und beruflich noch auf der Suche, tastend, reflektierend, aber jede in unterschiedliche Richtung. Rand spürte nach der sozial unbeschränkten Selbstverwirklichung und meinte ihn im Programm des „radikalen Libertarismus zu finden, einem Konzept, das gerade in den letzten Jahren in den USA wieder hervorgezogen wurde, um einen fürsorgenden Staat brutal abzulehnen. Hannah Arendt sah sich als Philosophin mit der Nazi-Diktatur und der französischen Kollaboration konfrontiert und versuchte ihrer antitotalitären Weltbürgerhoffnung auch gegen einschüchternden Zionismus zu verteidigen. Simone de Beauvoir entwickelte ihr Leben entlang der selbstgestellten Forderung nach unbedingter – existenzieller – Selbstverwirklichung. Dabei reflektierte sie immer stärker die Rolle der Frau als soziales Konstrukt. Simone Weil suchte die Freiheit in tätiger Solidarität und erfuhr sie letztlich in einer Christus-Erscheinung.


Wolfram Eilenberger beleuchtet die Such-Prozesse in kontrastiver Gegenüberstellung der Entwürfe „in finsteren Zeiten 1933 – 1943“. Durch die Stückelung der Zeiträume lässt sich die Gedankenarbeit gut als Reaktion auf die historischen Vorgaben formulieren, jede der vier Frauen will aber auch öffentlich werden und die Gesellschaft beeinflussen. Man wartet immer schon, wie die Philosophinnen die Herausforderungen annehmen, Eilenberger kündigt das pointiert auf den Kapitelvorsätzen an. Er ist Kenner der Philosophien, äußert sich auch im Fernsehen, seine Darstellung ist gut verständlich, auch weil sie die Schicksale des Lebens mit deren gedanklicher Bewältigung mixt. Er verarbeitet Biografien und zitiert aus den Werken. Natürlich lässt sich Wissenschaft nicht immer in einfacher Sprache ausdrücken.
Auf die Frage nach der weltverbürgenden und damit unbedingt zu wahrenden »Relevanz des Anderen« als diesem einen und einzigen Menschen wird es auch im Rahmen dieses Denkgestells keine plausible Antwort mehr geben. Extremer noch: Sie ist als Frage nicht einmal verständlich zu machen. Plausibilität gewann sie allenfalls noch im Rahmen von sogenannt rein zwischenmenschlichen Beziehungen des privaten Bereichs und damit Beziehungen, die nach dem Ideal eines total gewordenen Staates gerade nicht mehr existieren sollten. Die private Zweisamkeit der Liebenden als letztes und erstes Widerstandsnest gegen eine von der totalen öffentlichen Gleichstellung bedrohten Gesellschaft … wie hatte Arendt ihrem Heinrich so schön von Genf aus geschrieben: »Wir wollen es versuchen — um unserer Liebe willen.« Um keiner anderen Liebe willen. Auch nicht der eines Gottes. Oder mit anderen Worten: Rein um unser selbst willen, unseres jeweiligen Glücks und Stands in dieser Welt, und vor allem auch um der liebestypischen Angstfreiheit vor der eigenen Endlichkeit willen.
Eilenberger referiert, er diskutiert nicht den Begriff der Freiheit als solcher, er ist Philosoph, nicht Politiker oder Historiker. Er denkt sich in die Frauen hinein und macht dabei durchaus Gebrauch von literarischer Freiheit des Einfühlens.
Der Untertitel ist natürlich ein Schmarrn. Nicht um die Rettung „der Philosophie“ geht es, sondern um die Hoffnung der vier Frauen durch „Philosophieren“ ihr Leben zu konsolidieren.
Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta
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Harald Haarmann:
Die seltsamsten Sprachen der Welt.
Von Klicklauten und hundert Arten, ich zu sagen

Harald Haarmann hast viel veröffentlicht: zu Zivilisationen und Kulturen, Sprachen in Europa und der Welt, zu Schriften, lexikalisch und historisch, Einzel- und Zusammenschauen, erst 2017 erschien ein „Kleines Lexikon der Sprachen“. Jetzt, 2021, „Die seltsamsten Sprachen der Welt“, ein Titel, der auch Leser einsammelt, die weniger an dröger Wissenschaft denn an Absurditäten interessiert sind. Also auch mich. Es geht um „eigenartige Lautsysteme“, „Seltsamkeiten“ der Grammatik und der Arten zu zählen, um „Ritual- und Tabusprachen“, „merkwürdige Schriften“ und – ein Blick in die Zukunft – um „geplante Sprachen“.
Vieles davon verspricht interessant zu sein, aber, wie auch sonst, von vielem hat man auch schon gelesen. Ich reise zu den Basken, den Finnen, den Ungarn und Vietnamesen, aber auch zu fast oder ganz ausgestorbenen Kulturen: den „Parallelwelten der Katu“, den Kommunikationsregeln der Dyirbal, den „Bongorongo-Tafeln auf der Osterinsel. Haarmann kennt sich überall aus, für das einzelne Thema bleiben wenige Seiten. Oft sind die Notizen zur Sprache (oder Schrift) an Erläuterungen zu Kultur oder Mythologie angelehnt, die Sprach- und Schriftbeispiele zählen häufig bloß auf, ein Uneingeweihter wird daraus wenig Gewinn ziehen. (Mitsprechen wird man die Aufzählungen nicht, weil es a) zu viele sind und man b) ja nicht weiß, wie man sie aussprechen soll.)
Das beginnt schon bei den im Titel genannten „Klicklauten“, die man ja hören müsste und über die man im Buch nur lesen kann. (Klangbeispiele hier) Was mich stärker interessiert hätte, sind die räumlich naheliegenden Seltsamkeiten: das kleine Kapitel über „Kanakendeutsch“ oder „Höflichkeitscodes im Englischen“. Letztendlich wird aus den vielen gesammelten Fundstücken ein Sammelsurium. Antworten auf Fragen wie: „Wie schreit der Hahn in den Sprachen der Welt?“ schaut man sich hübscher präsentiert in den Büchern des „Katapult“-Verlags an.
Gedanken, die man sich angesichts der Information machen kann und sollte: Die Sprache ist nichts Unveränderliches, sie entwickelt sich in den Zeiten des Gebrauchs, sie passt sich an Veränderung von Kultur- und Denkweisen an, sie modifiziert sich sozial oder auch politisch, sie verjüngt oder verjugendlicht sich, sie „gendert“. (Über die Gender-Modifikationen von unterschiedlichen Sprachen könnte Haarmann seine nächste Publikation planen.)
Die Vielzahl sprachlicher Sonderformen ist als Reichtum zu begreifen und als Einladung, die Welt mit anderen Augen — oder besser: mit anderen Sprachen — zu sehen. Das Seltsame in seinem Eigenwert und als Bereicherung zu verstehen, dazu will dieses Buchs anregen. Wer das scheinbar Seltsame so versteht, der blickt zugleich in einen Spiegel, in dem er sich selbst und seine eigene Sprache neu wahrnehmen und verstehen kann.
Das ist gut gemeint, aber diesen Anspruch erfüllt das Buch – für mich – nicht. Man könnte sich von der erweckten Neugier motivieren lassen und selbst vertiefen, was man wissen will. Vielleicht ist das Thema auch besser für eine multimediale Aufbereitung geeignet, wobei man den Clickbaits stracks folgen könnte.
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Mai Thi Nguyen-Kim:
Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit
Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft

Mai Thi Nguyen-Kim kommt aus dem Fernsehen und aus dem MaiLab so herzlich direkt heraus, dass man sich schon deshalb auf die wissenschaftlichen Themen einlässt. Jetzt bieten die visuellen Medien natürlich viele Möglichkeiten der (optischen) Aufbereitung, welche die Vermittlung des Wissens anschaulich und lebendig präsentieren. Das Buch hat es da schwerer, ein Schaubild ist ein Schaubild, man muss in es hineinschauen, es bewegt (sich) nicht, eine Abbildung bildet ab, sie motiviert nicht.
Mai Thi Nguyen-Kim versucht einige der Möglichkeiten der Visualisierung ins Buch zu retten: „Boxen“ zur Zusammenfassung, Illustrationen, rote Schrift zur augenfälligen Hervorhebung. Auch die Sprache orientiert sich an der gesprochenen (jugendlichen) Vitalität: Ich werde geduzt, Mai schreibt das Buch für mich. „Stell dir vor, du nimmst an einer wissenschaftlichen Studie teil. … Joa, wahrscheinlich runzelt ihr schon die Stirn. Hui, was ist da los? … Pfft.“ Gedruckt ist das gesprochene Wort. Sogar die wissenschaftlichen Begriffe sind knackig: Noise Blast, Cherrypicking, Unkrautargument, So-lala-Daten, Teufligkeit, Riesenarsch.
Ich darf mich nicht täuschen lassen. Es geht um DIE LEGALISIERUNG VON DROGEN, VIDEOSPIELE UND GEWALT, um den GENDER PAY GAP, um die SICHERHEIT VON IMPFUNGEN, um TIERVERSUCHE oder um die ERBLICHKEIT VON INTELLIGENZ. Aber es geht nicht um die Ergebnisse, sondern darum, wie man zu Ergebnissen kommt – oder auch nicht. Es geht um die WISSENSCHAFT. Es geht um METHODEN METHODEN METHODEN. Wahr, falsch, plausibel?, heißt es im Untertitel. „Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft.“
Wissenschaftliche Qualität zeigt sich nicht nur im Sammeln von Daten, sondern ganz besonders in deren Auswertung — dies werden wir im Laufe dieses Buches noch oft sehen. Zahlen sagen meist wenig aus, wenn man nicht weiß, auf welche Weise sie ermittelt wurden. Kneifen wir also kritisch die Augen zusammen und schauen, wie die Zahlen des Drogenrankings zustande kamen. Nachdem Nuns erstes Ranking von 2007 wie gesagt mit recht groben Methoden erstellt wurde, erfolgte die neue Bewertung nach dem MCDA-Prinzip: Multicriteria Decision Analysis. (…) Als Chemikerin finde ich psychologische Methoden ziemlich unbefriedigend. Während man Moleküle in eine Art MRT-Röhre schieben kann und die Schwingungen ihrer Atomkerne die chemische Struktur preisgeben, müssen Forschende in der Psychologie auf Methoden wie Befragungen zurückgreifen. Natürlich folgen wissenschaftliche Befragungen auch einer wissenschaftlichen Methodik und sind nicht dasselbe wie eine Twitter-Umfrage. Dennoch können allerhand Verzerrungen entstehen, zum Beispiel weil Menschen sich falsch einschätzen oder nicht ganz ehrlich sind.

Die Auszeichnung „SPIEGEL Bestseller“ beruht wohl nicht auf der ausführlich analysierten und diskutierten wissenschaftlichen Methodik, sondern auf den thematisierten Problemen und – nicht zu vergessen – der Popularität der Autorin. „Heute ist sie der Shooting Star im deutschen Wissenschaftsjournalismus.“ Durchgehend seriös. „Ihre Themen sind so vielfältig wie die Chemie, mit der man, wie sie sagt, fast alles erklären könne, seien es die Folgen von Alkoholgenuss oder die Ausbreitung des Coronavirus. Sachlichkeit ist ihr dabei oberste Pflicht. Bei Mai Thi Nguyen-Kim lernen schon die Jüngsten: Wissenschaft kann begeistern – und gemeinsam vernünftig zu handeln, bringt eine Gesellschaft voran.“ (Bundespräsident Steinmeier) „Aber ja, puh.“
MaiLab – youtube-Kanal von Mai Thi Nguyen-Kim
Filed under: - Sachbuch
Bini Adamczak:
Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende

Dass es 1917 eine Revolution gab, davon habe ich gelesen und gesehen, die von 1968 ist, irgendwie, an mir vorbeigegangen, kommende, irgendwann?, klingt nach mehreren, als wäre auch die nächste keine endgültige. Bini Adamczak schaut sich zunächst den Verlauf und die Mängel der russischen Revolution genauer an und erkundet bevorzugt die Inklusion der Frauen. Das größte Defizit der 1917er Revolution ist natürlich, dass sie von Stalin und seinen Männern vorzeitig abgewürgt wurde, doch stellt Bini Adamczik auch eine „universelle Maskulinisierung“ fest.
Soziale Ungerechtigkeit, in diesem Fall die geschlechtliche, wird im traditionellen sozialistischen Koordinatensystem nicht im Modus der Anerkennung von Differenz, auf der Ebene der Norm also, bekämpft, sondern durch die materielle Angleichung der Lebensverhältnisse. Die Norm, welche die Richtung dieser Angleichung (hier: Vermännlichung) vorgibt, wird dabei nicht in Frage gestellt. Die Dominanz sogenannter Männer ist somit, wenn auch kein kontingenter, so doch ein temporär konzipierter Effekt der »bolschewistischen Revolution«, während die Dominanz von Männlichkeit eins ihrer implizit wie explizit bestätigten Ziele ist.
Für die Bolschewiki konnten alle Menschen vollwertige Menschen, also Männer werden, eben auch Frauen — während eine konservative Politikkonzeption, die die subjektivierende Zweiteilung der Welt affirmiert, eine Überschreitung der Grenzen erschwert. Daraus folgt der paradoxe Effekt: Keine Politik war frauenfördernder als die bolschwistische des universellen Androzentrismus.
Für die russische Revolution führt Bini Adamczak eine interessante Diagnose an: die „postrevolutionäre Depression“, welche die befällt, die nach getaner Umwälzung in das Loch des nunmehr Tatenlosen fallen, und die, die für die Revolution zu spät geboren waren.
Für 1968 registriert Bini Adamczik eine „differentielle Feminisierung“.
An die Stelle der revolutionären Konstruktion universeller Maskulinisierung der Revolutionswelle von 1917 trat mit der Revolutionswelle von 1968 so keine Konstruktion universeller Feminisierung, sondern eine Bewegung differentieller Feminisierung. Wo 1917 versucht hatte, das Private abzuschaffen, Reproduktion zu maskulinisieren, Emotionalität zu rationalisieren, das Sexuelle zu zivilisieren und menschliche Beziehungen zu ökonomisieren, versuchte 1968 das Private zu politisieren, Produktion zu feminisieren, Rationalität zu kritisieren, Kultur zu sexualisieren und die Ökonomie zu vermenschlichen. Der berühmte Slogan der zweiten Frauenbewegung »Das Private ist politisch« hatte nicht so sehr den Effekt, dass in Küche, Wohnzimmer und Bett nun politische Diskussionen nach dem Vorbild öffentlicher Debatten geführt wurden, sondern mehr, dass die Erfahrungen der Küchen, Wohnzimmer und Betten in den Debatten der Öffentlichkeit Einzug hielten. Über das, was in den berüchtigten eigenen vier Wänden vor sich ging, wurde nicht länger geschwiegen.
Bini Adamczak sieht die Revolution nicht primär als politischen Wandel/Umbruch, sondern als eine veränderte Weise, wie Menschen ihre Beziehungen gestalten. Sie denkt sich das Bild von Synapsen, eines sich ständig neu bildenden Systems von Denk- und Verhaltensweisen. In diesem Netzwerk sind Männer wie Frauen eingeschlossen und alle, die dazwischen liegen oder darüber hinausgehende Geschlechter. Sie steht damit auf der Höhe der Naturwisswenschaften, die auch die Gesellschaftskonstruktionen beschreibt:
„Was in der modernen Atomphysik als Kern allen Stoffes bleibt, sind also im Wesentlichen strukturierte Wechselwirkungen von Energiefeldern, die man eher als Vorgang denn als Ding verstehen sollte. Hans-Peter Dürr formulierte dies so: »Auf der Quantenebene gibt es eigentlich nur das, was man Wechselwirkung nennt. Eine Wechselwirkung ohne Dinge, die miteinander wechselwirken. Und das, was wir dann Materie und Substanz nennen, das sind Verklumpungen dieser Wechselwirkungen. «“ (Fabian Scheidler: Der Stoff aus dem wir sind)
Nicht ganz leicht zu lesen, weil man sich in die – queerfeministische – Terminologie einarbeiten muss. Bini Adamczik hat viel Vorarbeit geleistet und umfangreich recherchiert. Ob alles plausibel, korrekt und relevant ist, vermag ich nicht zu entscheiden.
Das »Herz« der Revolution ist groß. Was sich jedoch aus queerkonununistischer Perspektive erkennen lässt, ist, wie sich die gesamte Fragestellung sozialer Transformation verschiebt, wenn die Existenz von Männern und Frauen nicht mehr vorausgesetzt wird, wenn Differenzen nicht übergangen, aber ihr vorsozialer Status bestritten wird. Die Fragen, die gegen den falschen Universalismus des Bürgertums oder auch des sozialistischen Staatsproletariats in die Welt gezwungen wurden, die Fragen der Frauen, der Jüdinnen, der Kolonisierten, der Migrierten, der Homosexuellen, der Behinderten, der Transgeschlechtlichen, der Intergeschlechtlichen also, sind dann nicht mehr die Fragen der Frauen, der Jüdinnen, der Kolonisierten, der Migrierten, der Homosexuellen, der Behinderten, der Transgeschlechtlichen, der Intergeschlechtlichen, sondern die mittelbar universellen Fragen mindestens der Menschheit selbst. Dies sind nicht die Fragen der Partizipation oder Anerkennung, schon gar nicht der Akzeptanz und Toleranz. Aus der Konstellation von 1917 und 19 68 ergibt sich eine Perspektive, welche über die identitäts- und subjektzentrierten Fragestellungen hinausweist. Aus dieser revolutionären Perspektive, die aus den vorgefundenen Möglichkeiten eine Welt zu erschaffen hat, erscheinen alle Identitäten, die die Geschichte der Herrschaft den jeweils Lebenden vor die Füße geschleudert hat, als Reichtum potenzieller Existenzweisen, den diese sich aneignen können, um die Fragen zu beantworten: Wie wollen wir leben, wer wollen wir werden, durch welche Beziehungen wollen wir existieren?
Leseprobe und Links beim Suhrkamp-Verlag
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Ralf Höller: Das Wintermärchen.
Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/1919

Ralf Höller ist Historiker, Journalist und Buchautor, so stellt ihn der Verlag vor und so steht das auch bei wikipedia. „Bereits 1999“ hat er „ein Standardwerk über die münchner Räterepublik 1918/19“ geschrieben. Viel mehr ist über ihn nicht zu erfahren, auch auf seiner Homepage enden die Einträge 2017. Er hat sich aber viel Mühe gegeben, die Erzählungen von Schriftstellern über die „bayerische Revolution“ zu sichten und in den Verlauf der Geschichte einzuordnen. Im „Vorspann“ listet er die Akteure der „tragenden Rollen“ auf, „in der Reihenfolge ihres Auftretens“ von Kurt Eisner bis zu Ernst Niekisch.175 Tage hat sie gedauert, die Revolution und die Räterepublik. Über das politische Geschehen findet man nichts wesentlich Neues – wenn man sich für Geschichte interessiert.
Höller erzählt akribisch, was die Schriftsteller in diesen 175 Tagen gemacht, gedacht, geschrieben, wen sie getroffen haben, in welchen Straßen und Räumen Münchens sie sich aufgehalten haben. Höller hat gute Arbeit geleistet, das Ergebnis liest sich stellenweise wie eine Sportreportage.
Den Anbruch der neuen Zeit erlebt Gustav Landauer auf dem Krankenlager. Seit Beginn des Monats grassiert in ganz Deutschland die Spanische Grippe. Die Epidemie hat den Patienten übermannt, nicht aber seinen Willen. Landauer will endlich halbwegs über den schmerzlichen Tod von Hedwig Lachmann hinwegkommen, die ihm auch Gefährtin im Geiste war. Die Auszeit ist ihm willkommen, um Kräfte zu sammeln und für einen Ruf aus München gerüstet zu sein. … Krank im Bett erlebt auch Ernst Toller den Machtwechsel in München und zwei Tage darauf in Berlin. Aus der Hauptstadt, wo er sich zuletzt aufgehalten hat, ist Toller mit der Eisenbahn an die deutsche Ostgrenze gefahren, nach Landsberg an der Warthe. Im Haus seiner Mutter will er die Spanische Grippe auskurieren. Die Nachricht vom Ende des Kaiserreichs und vom schnöden Abgang des Monarchen lässt Toller die Seuche vergessen und umgehend Richtung Schlesischer Bahnhof aufbrechen. … Nicht jeder in Bayerns Hauptstadt und im Land interessiert sich für Politik. Oskar Maria Graf bekommt dies noch in der Revolutionsnacht zu spüren. Nachdem Eisner und seine Mannschaft sämtliche Schlüsselpositionen in München besetzt haben und Graf klar ist, dass der Aufstand erfolgreich verlaufen ist, gönnt er sich ein verspätetes Abendessen. In der Innenstadt findet er ein offenes Lokal. »Da saßen breit und uninteressiert Gäste mit echt Münchnerischen Gesichtern. Hierher war nichts gedrungen. »Wally, an Schweinshaxn!«, rief ein beleibter, rundgesichtiger Mann der Kellnerin zu.« Graf horcht in die Runde. Nein, von einer Revolution scheint niemand gehört zu haben.
Wo bleibt Rilke?
Rainer Maria Rilke erfährt von der Revolution aus der Zeitung. Als er die Morgenausgabe der Münchner Neueste Nachrichten in die Hand nimmt, stutzt er ungläubig. Eine solche Titelseite hat er noch nie gesehen. Sie besteht einzig und allein aus einer Proklamation der neuen bayerischen Regierung. Ihr entnimmt Rilke die Information, dass Bayern fortan ein Freistaat ist. … Thomas Mann dagegen schnauft erstmal durch.
Man erkennt nicht unmittelbar, ob Höller das Genre ironisch persifliert oder ob er sich halt umfassend informiert hat und darüber Bericht erstatten will. Das Buch ist auf jeden Fall sehr informativ.
Auch 2017 hat Volker Weidermann ein Buch mit dem selben Thema und ähnlichem Inhalt veröffentlicht: „Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen“. Schon der Titel lässt auf wertende Distanz und wohlwollende Ironie schließen. Weidermann arbeitet beim SPIEGEL und ist – auch deshalb – bekannter als Höller. „Träumer“ ist auch besser und konzentrierter geschrieben und hat sich durchgesetzt. Höllers Buch sei „stilistisch gewöhnungsbedürftig“, findet Andreas Plattthaus (FAZ).
Eisner und Mühsam bleiben sich in herzlicher Abneigung zugetan. … Ein Problem hat bald auch Oskar Maria Graf. … Dabei steht Thomas Mann in einem ganz anderen politischen Lager. … Einmal in Rage, holt Mann zum Rundumschlag aus: »Das ist die Revolution! Es handelt sich so gut wie ausschließlich um Juden.« Schon bald beruhigt sich Mann. … Rainer Maria Rilke hat sich in seinem bisherigen Leben der arbeitenden Klasse wenig verbunden gefühlt. … Gustav Landauer erholt sich nur langsam von gesundheitlichen und persönlichen Rückschlägen. … Nicht nur Eisner freut sich über die prompte Reaktion. Gleich nach Landauers Ankunft nimmt ihn Erich Mühsam unter seine Fittiche. Seit einem Vierteljahrhundert sind die beiden befreundet. Ob aus Eifersucht oder politischem Kalkül: Mühsam will unbedingt verhindern, dass sich Eisner und Landauer weiter annähern. … Rilke verlässt das Nationaltheater einigermaßen ergriffen.
Photobericht Hoffmann der Bayerischen Staatsbibliothek
Münchner Räterepublik – wikipedia mit links
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Mely Kiyak: Frausein

Frau sein heißt, Frau geworden zu sein. Der Weg zur Frau wird durch die Reise zwischen den Kulturen umgelenkt, gebremst oder durch Anziehungen beschleunigt. Das Ankommen ist immer ein Moment in der Gegenwart, erst, wenn man sich annimmt, gibt’s ein Innehalten. Als Frau. Als Mensch. Mely Kiyak wurde 1976 in Niedersachsen geboren, seit 1998 ist sie Deutsche, ihr Vater kam als kurdischer Alevite nach Deutschland, um zu arbeiten. All das macht den Lebensweg windungsreicher. Frausein ist in jeder Kultur, jeder Generation, in jeder sozialen Gruppen-Norm anders. Man muss ihr Frau-Sein finden. Ihr ICH.
Mely Kiyak muss zunächst von der anatolischen in die deutsche Frauen-Rolle finden. Dabei hat sie es einerseits leichter als andere Gastarbeiterkinder, denn der Vater ist Kurde, Alevit, verständnisvoll.
Die Eltern unterstützten uns, so gut sie konnten. Vor allem der Vater. Jedem von uns Kindern sagte er: Du kannst werden, was du willst. (…) Es sagt sich leicht, dass man seine Träume leben soll. Abstrakt träumt es sich aber schlecht. Das »Traut euch« des Vaters sollte eine Ermutigung sein, klang aber bedrohlich. Nach großer Anstrengung. Du kannst die Welt verändern – der Vater redete selten, das hier aber war sein absolutes Lieblingsthema. Ich werde dir nicht im Weg stehen. (…) Der Vater ist lieb und rührend, sein ständiges »Du musst die Welt verändern« aber nervte.
Das „Was du willst“ schafft aber auch Probleme, denn „deutsch“ werden, heißt: Individuum werden, auch als Frau sich selbstständig machen, den „Anschluss finden an die Moderne“. Dafür sucht man Vorbilder, Regeln, die das Alte mit dem Neuen vermitteln. „Jede Regel hat Dutzende Einschränkungen und Sondervereinbarungen. Das macht es schwierig, die kulturellen Codes auf Begriffe wie »restriktiv« oder »modern« zu beschränken, wie es von Außenstehenden gerne getan wird. Genau genommen sind die Regeln gar keine Regeln. Sie sind Versuche, unbeschadet vom Makel der niedrigen sozialen Herkunftsklasse bei allem mitzuhalten.“
Ich wurde für ein Leben im Kollektiv erzogen. Für ein Leben mit familiären Beziehungen, wo man sich für den Fortbestand der Beziehungen wie in einem Tauschgeschäft auf ein Mindestmaß an Bedürfnissen reduzieren muss.
Ich löste mich. Von Bekanntschaften, von vermeintlichen Freundschaften (ich übte für die große, die bevorstehende Trennung). Je freier ich mich von den meisten sozialen Beziehungen machte, desto besser konnte ich sehen, was mir wirklich etwas bedeutete. Fast nichts. Erstaunlich wenig.
Die nächste Hürde ist genau so hoch: “Die Ablösung von der Kultur, der Tradition. Mein Eintritt in die Universität bedeutet Bewunderung, Ansehen, Stolz und Ausgrenzung. Eine sehr entfernte Verwandte verkündet: Du bist keine mehr von uns. Sie meint das als Kompliment. Natürlich bin ich eine von euch, versuche ich mich entsetzt in den Familienschoß zurück zu verhandeln. Sei doch froh, sagte sie, du bist jetzt etwas besseres, ich wäre gerne an deiner Stelle.”
Ausnahmslos alle in Deutschland aufgewachsenen Mädchen meiner Familie erreichten akademische Abschlüsse und arbeiteten danach. Jede von ihnen ist heute verheiratet, geschieden oder neu liiert. Um die Herkunftsländer unserer dazugekommenen Familienmitglieder aufzuzeigen, benötigen wir den ganzen Globus. Lauter neue Sayn Wittgensteins. Spülbecken und Pril sind übersprungen, es brummen die Geschirrspülautomaten. Das Haar wird mit Naturkosmetik aus der Apotheke behandelt. Man ist gesundheitsbewusst. Nein, mehr als das. Man weiß jetzt plötzlich wirklich jeden Scheiß. Dieser Sprung ist und bleibt ein Mysterium. Vor allem, und das stellte sich erst spät heraus, ging jede ihren Weg allein. Es gab keinen Schulterschluss, keine Bürgerbewegung, keine öffentliche Solidarität, keine Protestmärsche, keine Projektförderungen, keine Anschubfinanzierungen. Wir fädelten uns geräuschlos in den Kreisverkehr ein und bogen in die richtige Richtung ab. Es war eine stille Revolution. Nicht einmal die Revolutionärinnen selbst merkten, was sie vollbracht hatten.
Dazu die sozialpsychologische Deutung des Aufbruchs, die Bedeutung für die Elterngeneration:
Auf einmal ergaben sämtliche Mühen der Gastarbeitergeneration Sinn. Alle Schmerzen und Demütigungen waren auf einen Schlag abgegolten, weil wir, die Töchter, die Strapazen unserer Vorfahren in Gold verwandelten. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die erste Generation der Gastarbeiter nie aufbegehrte. Sich politisch nie bemerkbar machte, niemals Ansprüche stellte. Der Aufstieg ihrer Töchter entschädigte sie für alles. Bald schon fühlten sie sich quitt.
Was konnte dieses Leben meinen Eltern noch geben, nachdem sie das große Ziel ihrer Auswanderung erreicht hatten? Sie hatten ein schwaches, ständig die Unterernährung knapp überlebendes Mädchen zu einer heranwachsenden Frau erzogen, die (wie gesagt, es war nur Schein) leichten Herzens ging und eine Welt hinter sich ließ, die für die Eltern in Anbetracht des Abschieds innerhalb einer Sekunde an Wert verlor.
Der Traum bestand darin, die Armut zu verlassen, aber es war der Traum der Eltern. Nicht der eigene. Und wenn man sich schon auf den Weg macht, es ihnen zu erfüllen, dann will man nicht noch ihre Weinerlichkeit aufgebürdet bekommen.
Der Titel “Frausein” ist etwas unspezifisch. Es geht Mely Kiyak auch um die Identität als Frau, aber sie sieht die Frau als Mensch. Der Weg zu sich selbst scheint aber für die Töchter, die Mädchen schwieriger zu sein. Die Frau aus der Türkei sollte „hier nicht bleiben und eine sagenhafte, eine stolze, eine erfolgreiche Frau sein. (…) Man ist eine verzichtbare Frau.“
Mely Kiyak schreibt keinen Roman. Für den Leser macht es eigentlich wenig Unterschied, ob die Geschehnisse und Gedanken fiktiv oder auto-biografisch sind, beides kann Authentizität und Glaubwürdigkeit vermitteln. Allerdings kann sie mit der gewählten Form selbst-analytischer umgehen. Sie führt nicht vor, sondern blickt in sich hinein, findet die Worte. Das Schreiben, welches das “genaue Hinschauen” voraussetzt, wird ihr Leben. Ihr Resümee: “Trotzdem, es ist alles selbst gewählt. Ich kann nur so.“ „Auf die ehrlich an mich selbst gestellte Frage, womit ich am zufriedensten und ruhigsten war, lautet die Antwort: Mit mir. Einfach nur mit mir.“
„Jeder Satz ist gesetzt.“ – Diskussion im Literaturclub des SRF
Mely Kiyaks Kolumne „Deutschstunde“ auf ZEIT-online
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Veronika Kracher: Incels.
Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults

Die erste Frage, die mir in Interviews gestellt wird, lautet in der Regel: »Was sind Incels eigentlich?« Incels, antworte ich dann, ist die Kurzform für »Involuntary Celibate«, also: unfreiwillig im Zölibat Lebende. Es handelt sich um junge Männer, die der sogenannten Blackpill-Ideologie anhängen, das nihilistischere Derivat der verschwörungstheoretischen und antifeministischen Redpill-Ideologie.
Die Redpill-Ideologie ist, kurz skizziert, eine maskulinistische Verschwörungsideologie, die besagt, dass der weiße, heterosexuelle und eisgeschlechtliche Mann inzwischen der große Verlierer unserer Zeit ist, in der die Welt vom Feminismus beherrscht wird, der wiederum eine jüdische Erfindung sei. Deswegen müsse sich der Mann auf ursprünglich männliche Werte zurückbesinnen und, da Männlichkeit sich für diese Redpiller über die Abwertung von Weiblichkeit konstituiert, Frauen zeigen, wo sie hingehören: in die Küche und ins Ehebett. Die Redpill-Ideologie ist die Ideologie narzisstisch gekränkter Männer, die panische Angst vor dem Verlust ihrer Hegemonie haben, die nun einmal auf der Unterdrückung und Ausbeutung anderer basiert. Wenn People of Colour, Frauen und queere Menschen sich emanzipieren, wird die Aufwertung der eigenen Person über die Abwertung Marginalisierter um einiges erschwert, weshalb jegliche Emanzipationsbestrebungen bis aufs Blut bekämpft werden. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass Männerrechtsaktivismus die Einstiegsdroge in rechtsradikales Denken ist.
Veronika Krachers Recherchen und Analysen des Online-Kultes der Incels versammelt ein differenziertes Bild einer aktuell zirkulierenden Verschwörungsblase, die sich in diversen Internet-Foren aufgetan hat. Den Aufbau ihres Buches und wesentliche Erkenntnisse stellt sie selbst im einleitenden Kapitel vor. Das Level pendelt zwischen wissenschaftlicher Terminologie und den esoterischen Codes der Blasen-Foren. Im wechselseitigen Bezug der Betrachtungen ergeben sich manche Überlappungen, so dass das Buch 260 Seiten füllt. Mir hätten zur Einstiegs-Information auch weniger gereicht. Dennoch ist faszinierend zu sehen, welche Blüten die Blase treibt, welche Codes und Memes generiert werden, wobei die Arkan-Sprache schon weitgehend die Gemeinschaft konstituiert, der sich Incels anvertrauen.Die Incel-Wörter werden in einem Glossar im Anhang nochmals erklärt.
Die Welt sei vor der Geißel des Feminismus nach dem Prinzip des »Looksmatching« gestaltet gewesen, was bedeutet: Incels sortieren Menschen, ähnlich wie Pick-up-Artists, in »Attraktivitätslevel« von eins bis zehn ein. Früher sei einem Mann des Attraktivitätslevels »vier« eine Frau des gleichen Attraktivitätslevels garantiert gewesen, heute seien Frauen jedoch dem Anspruchsdenken verfallen, nur noch »Chads« könnten ihnen genügen. Deswegen bleibe keine Frau mehr für den armen, einsamen und jungfräulichen Incel übrig (dessen Idealfrau übrigens minderjährig, jungfräulich, unterwürfig und einem grenzwertigen Anime entsprungen sein muss), ja eigentlich ist schon jeder Mann unter dem Level »acht« in den weiblichen Augen eine unerträgliche ästhetische Zumutung. Dieser vernichtenden Kränkung der »Sexlosigkeit« kann für Incels nur mit einem Mittel begegnet werden: dem Krieg gegen Frauen, der bis zum Femizid reicht.
Zunächst befasst sich Veronika Kracher mit der Entstehungsgeschichte der Incels „von einer Selbsthilfegruppe hin zu einem toxischen Kult“ und berichtet über die Anzahl der Mitglieder der Szene, über ihre Herkunft, ihr Alter und ihre Organisation auf unterschiedlichen Foren.
Die User dieser Foren sind mitnichten alle potentielle Terroristen, das möchte ich noch einmal betonen. Aber es wird ein Umfeld geschaffen, in dem man sich selbst, schwankend zwischen Selbstinfantilisierung (»diese miesen Feminist*innen ruinieren mir das Leben, ich bin ein armes Opfer!«), Dehumanisierung derjenigen, von denen die vermeintliche Bedrohung ausgeht (»Guck dir mal dieses Opfer an, lol«) und Legitimation der Gewalt (»Die hat es nicht anders verdient, als dass wir sie doxxen«), zunehmend unempfänglich macht, andere Menschen empathisch als Subjekte zu begreifen. Dies steht auch einer Ich-Entwicklung diametral entgegen.
Im darauffolgenden Kapitel werde ich eine tiefenhermeneutische Analyse der Incel-Ideologie anhand Elliot Rodgers Manifest My Twisted World leisten, das innerhalb der Incel-Community inzwischen Kultstatus erlangt hat. Anschließend wende ich die Textanalyse auf Incel-Foren an und analysiere dort exemplarisch an der verwendeten Sprache die dahintersteckende Ideologie.
Die Ideologie ist stark vom neoliberalen Diktat der Selbstoptimierung und der propagierten Vereinzelung geprägt. Erzeugt wird eine Ängstlichkeit, der der isolierte Mann nichts entgegenzusetzen hat als selbstmitleidige Jämmerlichkeit und wütend herausgebrüllte Schuldprojektion.
Diesen Tätertypus werde ich im letzten Teil des Werkes vor allem anhand der Theorien von Raewyn Connell, Rolf Pohl, Klaus Theweleit, Theodor W. Adorno und Kate Manne beschreiben und eine sozialpsychologische Analyse von Incels durchführen. Da ich einen materialistisch-feministischen Anspruch an meine Arbeit habe, wird diese Analyse vor einer Kritik am patriarchal strukturierten Kapitalismus erfolgen. Trotz der Begrifflichkeit, die in persönlichem Ansatz und engagierter Wertung aufgehoben ist, sehr lesenswert. Die Zahl der zerstörerischen Frauenhasser wird immer größer und die “Manosphere” radikalisiert sich.
„Girls, I will destroy you!“ – Frauenhass im Internet – Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung (30 Minuten)
Hinweise auf die Gefährlichkeit von Incels in „Watson“:
Auch der rechtsextreme Attentäter von Halle hatte seine Tat mit Hass auf Feminismus begründet. Und nutzte dabei die Begriffe «Chad» und «Stacy», die in der Incel-Bewegung stellvertretend für die Gruppe von Menschen stehen, die sie für ihre Situation verantwortlich machen. Wie Recherchen des ARD-Magazins Panorama ergaben, war das Lied, das der Attentäter in seinem Auto spielen liess, ebenfalls eine Hommage an den Attentäter von Toronto.
„Unfreiwillig Jungfrau“ – Artikel in „Spektrum“
Videos zu Incels – Google-Liste
Videos mit Veronika Kracher – Google-Liste
Vorträge von Rolf Pohl zum Thema Misogynie
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Erik Schilling: Authentizität.
Karriere einer Sehnsucht

„Können Affen Selfies machen?“ – „Na klar!„, antwortet Erik Schilling scheinbar spontan. Doch sein Urteil ist wohlbegründet. „Das Selfie ist die Kulmination zugeschriebener Authentizität im Bereich der sozialen Medien. Erstens prädestiniert die erforderliche Technik, die Handy-Kamera eigenhändig für ein Foto zu verwenden und trotzdem selbst auf dem Foto zu erscheinen, das Selfie für fotografische Authentizitätseffekte. (…) Künftig könnte also ein Gesetz den Affen ihre authentische Selbstbetrachtung auch urheberrechtlich ermöglichen, wie es Peta im Anschluss an das Urteil forderte: «Naruto das Recht zu verweigern, Urheberrechte in Anspruch zu nehmen, bestätigt Petas Einschätzung, dass der Affe diskriminiert wird, nur weil er ein Tier ist.» Nicht nur ein Affe hat sich in diesem Prozess authentisch zum Affen gemacht.” (Naruto ist “ein sympathischer Schopfmakake“.)
Erik Schilling hat für viele Fragen prägnante Antworten – und fundierte Argumente, die sich auf breit und tief differenzierte Vorüberlegungen stützen. “Ist Donald Trump real? Yes, he is.” – “Wie werde ich schwul? Gar nicht. Ich bin es –oder ich bin es nicht.” – “Warum schauen Intellektuelle nicht RTL Il (oder doch)? Weil sie Gossip in Form vonAutobiographien oder Tagebüchern konsumieren.“ – “Wann ist ein Mann ein Mann? Wenn er der gesellschaftlichen Norm für «männlich» entspricht.” – “What is the Question of Nigga Authenticity? Neben der Zuteilung zu spezifischen Persönlichkeitskategorien auf der Basis von angeblichen Wesensmerkmalen ist für das Streben nach Authentizität im Verhalten des Individuums häufig die Zuordnung zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe entscheidend.” – “Bin ich Teil meiner Generation? Nicht nur ein Teil – ich bin meine Generation.“
Bevor Erik Schilling Authentizität “in Literatur und Kultur” bzw. anhand “echter Politiker?” in der Gesellschaft untersucht, widmet er sich sehr intensiv “Begrifflichem” zur Authentizität. Da werden Authentizitätsindikatoren von Authentizitätskonventionen unterschieden, da geht es um subjektive und intersubjektive Authentizität, um Authentizität als Sehnsucht nach Wahrheit, Übersichtlichkeit, nach Kontrolle.
<Authentisch> nennt ein Beobachter die Übereinstimmung einer Beobachtung (z. B. einer Eigenschaft, Aussage oder Handlung) mit seiner Erwartung (bezüglich einer Person oder eines Objekts).
Fazit: Wann immer ein Individuum oder eine Gruppe zu wissen glaubt, auf welche Eigenschaft eine bestimmte Beobachtung <authentisch> verweise, worum es sich bei einer bestimmten Sache handle oder woran die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie festzumachen sei, ist Vorsicht geboten. Die Definition von Authentizität als Übereinstimmung der Beobachtung eines Beobachters mit seiner Erwartung vermeidet dies.
Gegen das Authentizitätsparadigma setzt Schilling auf die Lust an Freiheit, Pluraltät und Toleranz. Es
stellt sich die Frage, ob wir nicht viel euphorischer in der Affirmation von Ambiguität leben sollten. Wo die Suche nach <Identität> großgeschrieben wird, sei sie national, politisch oder sexuell gedacht, wo <Authentizität> bezogen auf Politiker, Restaurants oder Erlebnisse das Mantra der Stunde ist – da erlaube ich mir die Frage, ob die damit jeweils verbundene Vereindeutigung nicht unterkomplex ist. Ich wage die These, dass die Wahrnehmung von und der kompetente Umgang mit Ambivalenz ehrlicher und sinnvoller sind als deren Reduktion. Ich behaupte, dass die damit verbundene Ambiguitätstoleranz das Leben spannender macht.
„Was wir also brauchen, ist mehr Toleranz für Widersprüche, mehr Bereitschaft zum Kompromiss, mehr Lust auf Veränderung – verbunden mit der Fokussierung auf die Rolle statt auf das Wesen, auf Performanz statt auf Identität, auf Ambiguität statt auf Authentizität.“ Erik Schilling ist Literaturwissenschaftler. Er versucht seine differenzierte Begriffsbestimmung einzuordnen in gesellschaftliche Kulturen und Kulte und mittels der präzisen Definition Alltagsfragen zu beantworten: “Was ist der nackte Wahnsinn?”
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Manfred Lütz: Neue Irre!
Wir behandeln die Falschen. Eine heitere Seelenkunde

Ich weiß nicht mehr, was mich auf dieses Buch gebracht hat. Vielleicht das „neue“, das mich den Inhalt für aktuell und politisch halten ließ. Ich kannte die „alten“ Irren von 2009 nicht und konnte somit auch den Autor Lütz nicht einordnen. Dabei ist nichts gegen Lütz’ Grundthese einzuwenden.
Wahnsinn finden Psychiater bei bestimmten Krankheiten. Die Öffentlichkeit spricht aber viel häufiger vom »ganz normalen Wahnsinn« und meint damit keine Krankheiten, sondern die flächendeckenden Merkwürdigkeiten, von denen die Massenmedien landauf, landab berichten. Die Folgen dieses ganz normalen Wahnsinns sind erheblich desaströser als die harmlosen Spinnereien eines Schizophrenen aus dem Nachbarhaus. Dieser offen zutage liegende ganz normale Wahnsinn beweist mit letzter Evidenz die beunruhigende These dieses Buches: Unser Problem sind die Normalen!
Stutzig werden sollte man angesichts der Vorbemerkung: “In diesem Buch ist aus rein pragmatischen Gründen der Lesbarkeit stets die männliche Sprachform gewählt worden, wofür ich Leserinnen um Verständnis bitte. Der Paartherapeut Jürg Willi konstruierte den Satz: »Wenn man/frau mit seiner/ihrer Partner/in zusammenleben will, so wird er/sie zu ihr/ihm in ihre/seine oder sie/er in seine/ihre Wohnung ziehen«, um deutlich zu machen, dass eine befriedigende Lösung des Sprachproblems nicht möglich ist. »Ich ziehe die einfache Sprache der zwar korrekten, aber unübersichtlicheren vor.« Diese Auffassung teile ich. Manfred Lütz” – Der Satz ist so konstruiert, so jenseits der Realität, nur um damit eine vorgefertigte bornierte Meinung zu blegen. Für Lütz’ Verständnis sollte man keines haben.
Stutzig werden sollte man angesichts von Lütz’ vorausgeschickter Warnung: “Aus haftungsrechtlichen Gründen muss ich noch eine Warnung vorausschicken. Ich habe mich, wie üblich, dem Thema humorvoll genähert. Das ist nicht jedermanns Sache. Da der Verlag sich weigerte, Scherze gesondert zu kennzeichnen, sind möglicherweise Menschen aus Ostwestfalen zum Verständnis des Buches auf Hinweise ihrer rheinischen Verwandtschaft angewiesen. Überhaupt OstWest-Falen. Ostfalen ist ja noch in Ordnung, Westfalen ist für uns Rheinländer schon ein Problem, aber Ost-West-Falen – da weiß man ja überhaupt nicht, wo man hinfahren soll.” Tätä!
Die ‘Einführung’ beginnt mit Eckart von Hirschhausens Leber-Bonmot und weiteren Zitaten von Kaberettisten. Hier sollte man innehalten. Manfred Lütz ist rheinisch-katholischer Theologe. Es wird heiter. “Eine heitere Seelenkunde” steht auf dem Cover und über dem Hauptkapitel. Lütz erzählt von Demenz, Sucht, Schizophrenie, Depression und weiteren “menschlichen Variationen”. Immer fragt er, weshalb die Erkrankten als “Irre” klassifiziert werden, wie eine Therapie aussehen könnte, welche die Betroffenen weniger leiden lässt und ob Behandlungen überhaupt nötig sind.
Kein Mensch ist einfach nur normal. Wenn »normal« schon nichts für die Ewigkeit ist, dann sind »normal« nur vorübergehende Verhaltensweisen, die jedem von uns unterlaufen können, auch ihnen und mir. Auf die Gefahren dieser »Normalität« wollte das Buch hinweisen, ohne freilich ihre Segnungen zu verschweigen. Denn in diesem Leben sind wir darauf angewiesen, dass das meiste »normal« abläuft. Erst dann können wir die Kraft und die Muße finden, das Außerordentliche zu schätzen – und es davor bewahren, selber »normal« zu werden.
Ein Buch für Leser, die so viel Heiterkeit nicht irre werden lässt. Der Laie erhält einen verständlichen und mit vielen Berichten aus der Praxis aufgelockerten Bericht über Psychiatrie und Psychologie, er sollte aer doch besser ein profunderes Werk lesen. Auf Lütz’ Geplauder kann man verzichten.
P.S. Ein Nachtrag zur Behandlung von Wahnvorstellungen, welche ja derzeit wahnsinnig zunehmen.
Genau das zeichnet den Wahn ja aus, dass man ihn nicht mit Argumenten beseitigen kann. Sollte das dennoch gelingen, hätte man damit nicht die gesamte Psychiatrie widerlegt. Denn dann war es kein Wahn, sondern allenfalls eine fixe Idee nach dem bekannten Motto: »Bumerang ist, wo wenn man wegwirft und kommt nicht wieder, ist keiner gewesen.« Dem Patienten nun wurden sogenannte Neuroleptika verabreicht, zunächst zur Wirkungsbeschleunigung als Spritze, dann als Tropfen, später als Tabletten. Und siehe da, nach etwa vier Wochen hatte der Patient sich von seinem Wahn komplett distanziert und fragte mich ratlos: »Sagen Sie, Herr Doktor, wie konnte ich eigentlich auf so einen Unsinn kommen?«
Schickt Lütz zu den Verschwörungsirren, zu den Realitätsverblendeten, zu den wahnhaft „Normalen“.
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Richard David Precht:
Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens

Die Menschheit gleicht einem Verrückten, der weiß, dass sein Keller brennt und dass die Flammen sich immer schneller nach oben ausbreiten. Umso fiebriger baut er seinen Dachstuhl aus, um dem Himmel näher zu kommen. Warum hält er nicht inne, um zu löschen?
Den Ausbau des Dachstuhls soll die KI bewerkstelligen. Precht legt vehement Widerspruch ein. Die Propagandisten der KI (Bostrom, Hawking, Gates, Musk und Russell. …) setzten auf die technische Lösung und deren Machbarkeit. KI solle und könne den Menschen optimieren, perfektionieren, ihn übertreffen. Precht nennt diese Perspektiven “befremdlich”.
Der Mensch, wie wir ihn heute kennen, ist kein Problem, das auf eine Lösung wartet; auch nicht auf eine Erlösung. Würde man Menschen dramatisch verändern, so hätten sie wahrscheinlich weit mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Denn jede trans- oder posthumanistische Revolution verringert offensichtlich genau das, was den Menschen ausmacht: seine Humanität. Perfektion, unbestechliche Rationalität und rasante Verarbeitung ungeheurer Datenmengen mögen beeindruckende Dinge sein, dass sie Menschen grundsätzlich glücklich machen und ihrem Leben Sinn verleihen, ist, vorsichtig gesagt, äußerst unwahrscheinlich. Und dass es das Ziel sein soll, selbst mehr und mehr zu einer Maschine zu werden, ist nur befremdlichen Menschen eingängig.
Der Mensch sei nicht reduzierbar auf Systeme oder Rationalität, Geschwindigkeit oder Logik. Innovation dürfe nicht mit Fortschritt gleichgesetzt werden, es dürfe keinen “Imperativ zur Vernutzung von allem und jedem” geben.”Alles zu dürfen und zu sollen, was man kann, ist für sie selbstverständlich.”
Immer präzisere Mustererkennung und immer leistungsfähigere Statistiksysteme schaffen noch lange keine echte Intelligenz. … Die menschliche Intelligenz ist durchzogen von Emotionalität und Intuition, Spontanität und Assoziation. Der »gesunde Menschenverstand« (common Sense) ist kein Synonym für Rationalität, sondern im gleichen Maße Einfühlung in die Situation unter dem Einfluss von Werten. Menschen denken viel seltener und viel weniger logisch als von KI-Forschern angenommen, und nicht das logische Denken macht die Menschlichkeit aus. … KI hat einiges mit Intelligenz zu tun, aber kaum etwas mit Verstand und nicht entfernt mit Vernunft.
Precht bezieht seine Kritik auf Befunde der Philosophie. Es geht ihm nicht um Technik, sondern um den Menschen.Gleichwohl ist er kein Maschinenstürmer, er wehrt sich gegen die Vereinnahmung von Fortschritt durch Apologeten der vermeintlichen Nützlichkeit und setzt dagegen den “Sinn des Lebens”. “Künstliche Intelligenz ist weder Erlösungsweg noch Teufelswerk.”Die Kapitel heißen “Von Menschen und Übermenschen”, “Der falsch vermessene Mensch”, “Maschinen und moral”, “Der Algorithmus de Todes” oder “Das kalte Herz”. Das Spektrum ist breit: von autonomem Fahren über Klima und Arbeit bis Überwachung.Ob alles begründet ist oder ob Urteile in die salopp geschriebenen Essays einfließen, kann ich kaum bewerten, mir erscheint das meiste plausibel. Prechts Bilanz der Reflexionen:
Tatsächlich geht es einzig um einen ökonomischen Nutzen, um Umsatz und Gewinne. Menschen kennen dagegen, anders als viele Firmen, auch andere Formen des Nutzens. Zum Beispiel einen moralischen oder politischen Mehrwert oder einen sozialen und ästhetischen Gewinn; Erträge, die in der kapitalistischen Ökonomie dem ökonomischen Nutzen sämtlich untergeordnet sind. Wie diese Hierarchie aufgebaut ist, hat Karl Marx in einer Fußnote des Kapital treffend beschrieben: »Kapital … flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur.“ Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere.”
Richard David Precht ist einer, der den Kapitalismus verbessern will, ihn humaner machen, die Fixierung auf Effizienz zurückdrehen. Er begründet seine Zuversicht mit Erfolgen bei der Bekämpfung des Manchester-Kapitalismus bis hin zu den Fortschritten einer sozialen Marktwirtschaft. Solcher Idealismus ist löblich und stiftet Hoffnung, man wird sehen, ob der Precht oder der Profit sich durchsetzt.
Rezension von Thorsten Paprotny auf lieraturkritik.de
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Rob Wallace: Was COVID-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat
Als Evolutionsbiologe und Phylogeograph für das öffentliche Gesundheitswesen habe ich fünfundzwanzig Jahre lang, den größten Teil meines Erwachsenenlebens, verschiedene Aspekte der neuen Pandemien erforscht. Ich habe versucht, diese Krankheitserreger wissenschaftlich zu beleuchten, anfangs mit genetischen Sequenzierungen, dann mit wirtschaftsgeographischen Untersuchungen der Landnutzung, mit politischer Ökonomie der globalen Landwirtschaft und schließlich mit Wissenschaftstheorie.
Wallaces Schwerpunkte waren die Entstehung (und Ausbreitung) der Vogelgrippe oder von Ebola. Ddie Auskünfte zu C COVID-19 sind randständig, da die letzten Nachträge vom Januar 2020 stammen und im Wesentlichen die Ergebnisse bisheriger Viren-Epidemien auf das “neuartige” Virus übertragen. Deshalb verspricht einerseits der Titel zu viel, andererseits sind Wallaces Erkundungen so grundlegend, weil sie eben mehr und anderes sind, als Virologie. Er betrachtet die Umstände genau, unter denen Viren von Tieren auf Menschen auf Menschen überspringen (Zoonose) und richtet dabei seinen Blick auf das System, das Agrobusiness.
Lebendmärkte (wet markets) und exotische Nahrungsmittel gehören in China zum Alltag, ebenso wie die industrielle Lebensmittelproduktion. Seit der wirtschaftlichen Liberalisierung nach Mao existieren beide Ernährungsarten nebeneinander. Tatsächlich hängen sie vermittels der Landnutzung miteinander zusammen. Die Ausweitung der industriellen Produktion drängt freilebende Tiere, die zunehmend vermarktet werden, in die letzten unberührten Naturräume zurück. Über die Jagd verbreitet sich dann eine größere Bandbreite potenziell pandemischer Krankheitserreger. Periurbane Siedlungen mit zunehmendem Umfang und steigender Bevölkerungsdichte vergrößern die Kontaktfläche zwischen den wilden Tierpopulationen und den gerade urbanisierten Gebieten (und damit den Übergang von Krankheitserregern zwischen den Gattungen).
“Rob Wallace begreift sich immer stärker als »phylogeographischer Gesundheitswissenschaftler«. Er will die sozialen und ökonomischen Triebkräfte in die Epidemiologie integrieren. Seine politischen Kommentare werden schärfer: Die pharmazeutische Industrie wirkt auf ihn dysfunktional, denn Infektionskrankheiten sind ihr der Mühe nicht wert (sprich: Investitionen in die Forschung zu unsicher). Die WHO erscheint ihm als diplomatische Bühne, auf der die Weltmächte ihre Querelen austragen, statt wirksame Maßnahmen zu ergreifen.” (Matthias Martin Becker im Vorwort)
Der heimliche Nervenkitzel (und das Entsetzen), den Epidemiologen bei einem Ausbruch empfinden, ist nichts anderes als eine Niederlage, die sich als Heldentum tarnt. Der Berufsstand kreist gegenwärtig fast nur um Aufgaben, die danach anfallen, so wie im Zirkus der Stalljunge mit der Schaufel dem Elefanten folgt. Unter neoliberalen Verhältnissen werden Epidemiologen und Gesundheitswissenschaftler dafür bezahlt, den Dreck wegzuräumen, den das System gemacht hat, und noch die schlimmsten Fehlentwicklungen zu rechtfertigen, mögen sie auch zu tödlichen Pandemien führen.
Die Bilanz: Pandemien lassen sich nicht durch Blick auf die Symptome einhegen, man muss die Ursachen angehen: die weitgehend unregulierte Lebensmittelindustrie mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf „Periurbanisierung“, Wachstum, Globalisierung, Landgrabbing, Massenproduktion, Extraktivismus, meint: unkontrollierten Profit. Also ein Problem der Politik.
Transnationale Agrarunternehmen werden und bleiben so groß, wie sie sind, weil sie Kapitalakkumulation in politische Macht umsetzen. Diese Macht wiederum garantiert jene Laissez-Faire-Wirtschaftspolitik, die es ihnen erlaubt, die Umwelt weiter ungestraft zurechtzustutzen. Tatsächlich gäbe es ohne politische Macht unterm Strich keine Gewinne für das Agrobusiness. Nur sie macht es möglich, die Kosten zu externalisieren, die letztlich indigene Völker, Steuerzahler, Verbraucher, Nutz- und Wildtiere tragen.` Was immer auch schief geht, ob eine Ölpest oder ein Seuchenausbruch, Arbeitslosigkeit oder Preisschwankungen, jemand anders übernimmt die Rechnung. So entstehen Fehlanreize von geradezu apokalyptischen Ausmaßen.
Buch der Woche von der Freitag mit ordentlich Materialien
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Joseph Stiglitz:
Die Schatten der Globalisierung (Globalization and its Discontents)
Beide Titel sind ungenau. Es geht nicht nur um Schatten oder Missbehagen. Im Zentrum der Untersuchung des „Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften“ (2001) Joseph Stiglitz steht die Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF) in den Jahren bis 2001.
Grundsätzlich sieht Stiglitz die Marktwirtschaft positiv. Die Hauptaufgabe des IWF ist die Vergabe von Krediten an Länder, die in Zahlungsbilanzschwierigkeiten geraten sind, weil sie keine Währungsreserven haben. Stiglitz wirft dem IWF bei der Realisierung dieser Projekte im Rahmen des „Washington Consensus“ Mängel, Fehler, Einseitigkeit vor. Und zwar heftig und durchgehend.
Wenn man einem Papagei den Spruch »fiskalische Austerität, Privatisierung und Marktöffnung« beigebracht hätte, dann hätte man in den achtziger und neunziger Jahren auf den Rat des IWF verzichten können. Denn dies waren seine drei Säulen der Empfehlungen nach dem »Washington Consensus«. Bei der »Bewertung« der Erfolgsbilanz des IWF sollten wir uns klar machen, dass diese Empfehlungen, sofern sie sachgerecht umgesetzt werden, sehr nützlich sind. Die Geschichte zeigt, dass Länder nicht dauerhaft über ihre Verhältnisse leben können; nachhaltiges Wachstum ist bei Hyperinflation nicht möglich, so dass eine gewisse fiskalische Disziplin unerlässlich ist. Die meisten Länder würden besser dastehen, wenn ihre Staatsverwaltungen sich auf grundlegende öffentliche Dienstleistungen konzentrieren würden, statt Unternehmen zu leiten, die vermutlich im privaten Sektor erfolgreicher arbeiten würden; daher ist Privatisierung oftmals eine sinnvolle Strategie. (…) Leider sind IWF und Weltbank mit einer verengten ideologischen Perspektive an diese Fragen herangegangen – die Privatisierung sollte schnell, um jeden Preis und unter allen Umständen durchgeführt werden. Die Probleme, die diese gescheiterten Privatisierungen aufwarfen, haben das Konzept der Privatisierung selbst in Misskredit gebracht.
An vielen Beispielen von Äthiopien bis zur Ostasienkrise (1997-98), Eingriffen in Lateinamerika und Äthiopien bis zur Frage “Wer hat Russland zugrunde gerichtet?” zeigt Stiglitz die negativen Folgen der verengten, einseitig auf Marktliberalismus, Geldwertstabilität und Privatisierungen ausgerichteten Maßnahmen des IWF auf. In keinem Fall wurden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt oder die Umwelt verücksichtigt.
Wenn es den IWF-Strategien lediglich nicht gelungen wäre, das Entwicklungspotenzial voll auszuschöpfen, wäre dies schon schlimm genug gewesen. Doch die Fehlschläge in vielen Orten warfen die Entwicklungsagenda zurück, indem sie unnötigerweise die Gesellschaftsstruktur zerstörten. Der Prozess der Entwicklung und des raschen Wandels setzt die Gesellschaft einer regelrechten Zerreißprobe aus. Traditionelle Autoritäten werden in Frage gestellt, traditionelle Beziehungen neu bewertet. Aus diesem Grund schenkt eine erfolgreiche Entwicklung der sozialen Stabilität große Beachtung – eine wichtige Lehre nicht nur aus Ostasien, sondern auch aus der Geschichte Botsuanas und aus Indonesien, wo der IWF auf der Abschaffung der Subventionen für Nahrungsmittel und Kerosin (der Brennstoff, den die Armen zum Kochen verwenden) bestand, während schon die Auflagenpolitik des IWF das Land noch tiefer in die Rezession getrieben hatte.
Die durch sinkende Einkommen und Löhne und rasch ansteigende Arbeitslosigkeit ausgelösten Ausschreitungen zerstörten das soziale Gefüge des Landes, was die anhaltende Depression noch verschlimmerte. Die Abschaffung der Subventionen war nicht nur schlechte Sozial-, sondern auch schlechte Wirtschaftspolitik. (…)Die übermäßig strengen »Anpassungspolitiken«, die einem Land nach dem anderen auferlegt wurden, erzwangen Abstriche im Bildungs- und Gesundheitswesen: In Thailand nahm infolgedessen nicht nur die weibliche Prostitution zu, sondern auch die Ausgaben für die AIDS-Bekämpfung wurden deutlich zusammengestrichen, so dass eines der weltweit erfolgreichsten Programme zur AIDS-Bekämpfung einen herben Rückschlag erlitt.
Natürlich hat nicht nur der IWF auf Liberalisierungen gedrängt. Das US-Finanzministerium, das als Repräsentant des größten Anteilseigners des IWF und des einzigen Mitgliedslandes mit Vetorecht einen starken Einfluss auf die Programme des IWF ausübt, drängte ebenfalls auf Liberalisierung. (…) Es gibt viele Menschen in Russland (und in anderen Ländern), die der Meinung sind, die Politik sei nicht aus bloßem Zufall gescheitert, vielmehr seien die Misserfolge bewusst herbeigeführt worden, um Russland zu schwächen und auf unbestimmte Zeit als Bedrohung auszuschalten. Diese konspirative Auffassung schreibt sowohl dem IWF als auch dem US-Finanzministerium mehr Böswilligkeit und mehr Raffinesse zu, als sie meines Erachtens besitzen. Ich glaube, dass sie vom Erfolg der von ihnen befürworteten Politik überzeugt waren. Sie glaubten, eine starke russische Volkswirtschaft und eine stabile reformorientierte Regierung seien im Interesse sowohl der Vereinigten Staaten als auch des globalen Friedens.
Aber diese politischen Empfehlungen waren nicht völlig altruistisch, sondern geprägt von US-Wirtschaftsinteressen – oder, um genauer zu sein, US-Finanz- und Handelsinteressen. (…) Es gibt viele Menschen in Russland (und in anderen Ländern), die der Meinung sind, die Politik sei nicht aus bloßem Zufall gescheitert, vielmehr seien die Misserfolge bewusst herbeigeführt worden, um Russland zu schwächen und auf unbestimmte Zeit als Bedrohung auszuschalten. Diese konspirative Auffassung schreibt sowohl dem IWF als auch dem US-Finanzministerium mehr Böswilligkeit und mehr Raffinesse zu, als sie meines Erachtens besitzen. Ich glaube, dass sie vom Erfolg der von ihnen befürworteten Politik überzeugt waren. Sie glaubten, eine starke russische Volkswirtschaft und eine stabile reformorientierte Regierung seien im Interesse sowohl der Vereinigten Staaten als auch des globalen Friedens.
Joseph Stiglitz war von 1997 bis 2000 Chefökonom der Weltbank und von 2011 bis 2014 Präsident der International Economic Association. Stiglitz ist ein Vertreter des Neukeynesianismus und erhielt 2001 für seine Arbeiten über das Verhältnis von Information und Märkten den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften.
Was auffällt, ist, dass er trotz grundlegender und massiver Kritik an der Politik des IWF immer wieder von Fehlern spricht, von Versäumnissen, von fehlender “kohärenter Analyse”. Weshalb diese Beherrschtheit, diese Zurückhaltung, wenn die klare Aussage doch im Text enthalten ist? Das Buch erschien 2002, am Vorgehen des IWF hat sich trotz Stiglitz’ Klage und Anklage seither wenig geändert. Bei der Kujonierung Griechenlands anlässlich der “Staatsschuldenkrise” 2009ff war der IWF Teil der sog. Troika.
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Rainer Mausfeld:
Warum schweigen die Lämmer ?
Im Untertitel die Ankündigung: „Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören“. In Frage steht nicht, ob sie das tun, sondern „wie“. Die Begriffe sind nicht allzu präzise. Was ist „Eliten“-Demokratie, was an Gesellschaft und Lebensgrundlagen sind „unser“? Gehören „wir“ zur Demokratie? All das wird im Buch geklärt werden, hofft man, aber es werden eher Thesen wiederholt als Besispiele konkretisiert . Der Leser ist ja eines der „Lämmer“, das als „Agnus Dei“ von Francisco Zubarán auf dem Titel liegt, mit gebundenen Beinen, bereit zum Schlachten.
Wird es einen ungebundenen, nicht manipilierten, der eigenständigen Erkenntnis Mächtigen geben, der mir Lamm die Zusammenhänge erklärt und die Denkverknotungen auflöst? Ja. Rainer Mausfeld! Er ist all den Manipulationsinstrumenten, den „Indoktrinationssystemen“, auch dem „Indoktrinationscharakter der Medien” auf die Schliche gekommen, er hat ver- und widerstanden.
In Demokratien wäre der Neoliberalismus politisch nicht überlebensfähig, wenn es ihm nicht gelänge, die Köpfe zu erobern und die öffentliche Meinung in seinem Sinne zu formen und zu kontrollieren. Dies kann nur auf der Basis von Indoktrinationssystemen geschehen, die psychologisch äußerst ausgefeilt sind und alle Bereiche unseres Lebens durchziehen.
Die Grundlagen für solche Indoktrinationssysteme werden seit je durch bereitwillige Intellektuelle bereitgestellt, die eher den Interessen der Mächtigen verpflichtet sind als der Wahrheit und die dafür in geeigneter Weise gefördert und belohnt werden. Stiftungen, »Denkfabriken« oder »Think-Tanks« und NGOs kommt dabei eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Stiftungen und durch sie geförderte NGOs haben im Neoliberalismus eine ganz zentrale Bedeutung, weil wirtschaftliche Eliten steuerbegünstigt privaten Reichtum in politische Macht umwandeln können, die sie dann mit dem Anstrich der Gemeinnützigkeit und Philanthropie veredeln.
Symptom dieser psychologisch ausgefeilten Meinungsgestaltung und –kontrolle ist die „repräsentative Demokratie als Mittel der Demokratievermeidung“. „Diese Form einer repräsentativen Demokratie hat gegenüber offen autoritären Herrschaftsformen, wie etwa dem Feudalismus, den Vorteil, dass sich ein Veränderungswille der Bevölkerung nicht gegen die eigentlichen Zentren der Macht richten kann, sondern nur gegen ihre vordergründigen Erscheinungsformen in Form parlamentarischer Repräsentanten und Regierungen. Hier ist bereits im Kern ein Auseinanderfallen der vorgeblichen und der eigentlichen Zentren der Macht angelegt: die öffentlich sichtbaren demokratisch legitimierten staatlichen Apparate einerseits und die alle grundlegenden Entscheidungen bestimmenden praktisch nicht abwählbaren Elitengruppierungen andererseits.”
Gegen diese Verschwörung der Herrschenden gegen das Volk setzt Mausfeld das Demokratie-Ideal der Aufklärung.
Demokratie im Sinne der Aufklärung bedeutet, auf der Basis der »Anerkennung aller als Freier und Gleicher, ungeachtet ihrer faktischen Differenzen«, die Vergesellschaftung von Herrschaft durch eine ungeteilte Souveränität der Selbstgesetzgebung des Volkes bei strikter vertikaler Gewaltenteilung. In der Demokratiekonzeption der Aufklärung wird das Volk weder ethnisch noch kulturell oder soziologisch bestimmt, sondern rein verfassungsrechtlich. Es konstituiert sich erst durch eine Entscheidung zwischen Freien und Gleichen als Produkt des Gesellschaftsvertrags: Es ist eine Rechtsgemeinschaft und keine Volksgemeinschaft.
Die Argumentation, derer sich Mausfeld bedient, ist in sich schlüssig und sie sichert sich gegen Kritik explizit ab. Aber das Lamm beißt sich in den Schwanz: Welche Chance der Selbstlegitimierung und des Vorgehens gegen die Indoktrinationsinstanzen der Elitendemokratie sollte es geben, wenn diese Instanzen alle Macht einschließlich der Organe und nicht zuletzt das Geld besitzen und kontrollieren. Mausfeld setzt dagegen: „Der Verweis auf das Recht des Stärkeren erspart alle Mühen einer Argumentation.” Mausfelds Handlungsperspektiven sind dementsprechend vage. Jens Wernicke fragt im Gespräch immer wieder nach: „Was meinen Sie genau?“ „Welche konkreten Mechanismen gibt es da?“ „Können Sie vielleicht ein konkretes Beispiel skizzieren?“ Mausfeld täuscht argumentative Tiefe an, er ist nicht vorm Schwurbeln gefeit.
Die Entscheidung, am emanzipatorischen Projekt der Aufklärung, und damit an dem Ziel einer Schaffung einer menschenwürdigen Gesellschaft, festzuhalten, führt auf einen gesellschaftlichen Weg, den zu beschreiten affektive und intellektuelle Mühen bereitet. Ein solcher Weg kann nur gemeinschaftlich und solidarisch beschritten werden. Auch der unermessliche Schatz an Erfahrungen und Einsichten, die in der langen Tradition emanzipatorischer Bewegungen gewonnen wurden und deren Bücher eine alexandrinische Bibliothek füllen würden, kann nur in gemeinsamen Anstrengungen ausgewertet und für unser Handeln fruchtbar gemacht werden. Die großen emanzipatorischen Fortschritte, die trotz vielfacher Rückschläge in langen und mühevollen sozialen Kämpfen errungen wurden und tagtäglich in aller Welt errungen werden, sollten uns diese Anstrengungen als lohnend erscheinen lassen. Dies allein bietet Grund genug, Hoffnung zu haben, dass sich auch weiteres erreichen lässt, sofern sich diese Hoffnung mit einem klaren und entschlossenen Veränderungswillen verbindet.
Das klingt wie raunende Selbstbeschwörung. Der Weg. Die Mühen. Die Hoffnung.
Wäre ich ohne Aufklärer wie Mausfeld der Zerstörung erlegen? Muss ich gar selbst zum Mausfeld werden? Viele hängen an seinen Lippen, hören sich seine Vorträge an (die immerhin nicht so trocken sind wie die „Studienausgabe“). Radikalkritik ist unverzichtbar, tendiert aber auch zur Betörung. Und von da ist es nicht immer weit zur „Verschwörung“.
P.S. Mausfeld publiziert auch gern auf dem grenzwertigen online-Magazin „Rubikon“. Gerade die Diskussion um „Corona“ hat in einschlägigen Kreisen viel Kopflosigkeit offenbart.
Psychologe Rainer Mausfeld hinterfragt radikal den Zustand der Demokratie –
Interview in der Rhein-Neckar-Zeitung (Februar 2019)
Wikipedia-Artikel zu Rainer Mausfeld
Rubikon-Seite von Rainer Mausfeld
Kate Evans: Rosa
Ken Krimstein:
Die drei Leben der Hannah Arendt
Kate Evans ist (in Kanada geboren und) in England aufgewachsen. Ken Krimstein ist ein amerikanischer Autor „jüdischer Herkunft“. Beide Biographien wurden übersetzt. Weshalb gibt es zu den beiden Frauen keinen deutschen Bilderroman? Ist das Genre hier nicht heimisch genug, noch nicht in der deutschen Leitkultur angekommen? Sind die Biografierten in Deutschland nicht mehr aktuell oder ist man ihrer – auch biografisch – schon überdrüssig geworden?
Bin vielleicht ich zu alt für Comics? Für seriöse Comics? Ist es sinnvoll/erweiternd, sich Personen via Comics zu nähern? Was ist der Mehr- (oder Minder-)Wert gegenüber bloß beschriebenem Leben? Werden andere Leser*innen angesprochen, neue erschlossen? Auch: Sind politisch-weltanschaulich engagierte Personen wie Rosa Luxemburg und Hannah Arendt geeignete Sujets für ein Medium, das auf das Bild setzt, die Figuren als Held*innen in den Mittelunkt stellt, wie alle populären Medien stark personalisiert? Werden so Argumente nicht hintangestellt? Skepsis, auch angesichts der altbekannten Rechtfertigung, man müsse die Leser, also potenziell Interessierte, „abholen“.
Beide Bild-Biographien zeichnen nicht nur das Leben detailliert und differenziert nach, beide erfassen auch viel von den Gedanken und politisch-philosophischen Entwürfen. Kate Evans hat es dabei mit ihrer „Rosa“ etwas leichter, da Rosa Luxemburg ihre Kämpfe in der Öffentlichkeit austrug, auf direkte Wirkung abzielte. Hannah Arendt ist stärker die Beobachterin, ihre Auseinandersetzungen finden mit ähblich Gesinnten statt, auch sind ihre Formulierungen weniger plakativ als die der Politikerin Rosa Luxemburg.
Beide Biographien sind genrebedingt dialogisch-monologisch angelegt. Es braucht oft den persönlichen Disput oder das Soliloquium. Durch die Darstellung wird jede Äußerung herausgehoben, verschwindet nicht im Fließtext. Kate Evans trennt ihre Texte typographisch: wörtliche Reden oder Zitate erscheinen in „Handschrift“ und setzen sich so von den Printlettern ab, Krimstein wählt durchgehend bis hin zu Anmerkungen, Quellen- und Personenverzeichnis und Klappentext personalisierte Typographen, was – zumindest mich – beim Lesen bremst. Vielleicht ist das aber auch gut so.
Es passt aber auch zum Zeichenstil. Ken Krimstein kritzelt, deutet an lässt Zugänge offen. „Großstädtisch ist dieses Zeichnen, man kann es sich auf Papiertischtüchern von Bistros vorstellen oder am Rand von Speisekarten“, findet Gustav Seibt(SZ) Das stört – mich anfangs – etwas, reduziert aber auch die Vormacht der Bilder. Die Hauptperson Hannah ist immer durch einen Klecks in Grün markiert. Kate Evans zeichnet exakter, ist auch abwechslungsreicher in ihren Tableaus. Sie fügt auch über 40 Seiten Anmerkungen an – ein größerer Ernst als bei Krimstein.
Bei beiden Büchern habe ich den Eindruck, eine Menge Wichtiges über die vorgestellten Personen, ihre Lebenswege, ihre Kämpfe, ihre Ansichten und Wirkungen erfahren zu haben. „Zeichnerin Kate Evans, selbst Aktivistin, schafft es, unsere Gegenwart mit der Vergangenheit einer übergroßen historischen Person zu verbinden, auch wenn das Belehrende in einigen Panels überhandnimmt.“ (Pascal Löffler, literaturkritik.de) Gustav Seibt findet Gefallen, kritisiert aber, dass gegen Krimsteins „Biografismus“ Hannah Arendts Totalitarismus-Buch, ihre Anthropologie der „Vita activa“ und die Eichmann-Reportage zu nebensächlich behandelt werden. „Erstaunlich bleibt, dass der zugänglichste, auch illustrativ nächstliegende Teil ihres Denkens, nämlich die politische Philosophie der Freiheit, die dem Schauplatz Amerika so viel verdankt, kaum zur Anschauung kommt.“ Man darf nicht zu viel erwarten, man soll sich anregen lassen, sich weiter und genauer mit den beiden Aktiv-Frauen zu befassen.
„Leben und Denken sind ein und dasselbe.“ – „Was ist der Sinn des Lebens?“, wird Arendt in einer Episode von einer berühmten, sehr berühmten Person in der Graphic Novel gefragt. Krimstein lässt die Philosophin, die keine sein wollte, schlicht und präzise antworten: „Der Apfelstrudel im Romanischen.“ (Andreas Fanizadeh, taz) Nur den Ruf der Blaumeise wollte Rosa Luxemburg auf ihrem Grabstein haben: »Zwi – Zwi«.
Kate Evans: Rosa 2015 230 Seiten
Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt 2018 240 Seiten
der Freitag: Buch der Woche (mit vielen Materialien)
Hannah Arendt im Gespräch „Zur Person“ mit Günter Gaus (1964) – 1:12
Ken Krimstein zeichnet „Die drei Leben der Hannah Arendt“ – Live Draw – 0:30
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Hans Magnus Enzensberger:
Schreckens Männer.
Versuch über den radikalen Verlierer
Hans Magnus Enzensberger (HME) beobachtet und beschreibt und ist unerwartet fest in seinen Urteilen.Was auch hier nicht geklärt wird: Weshalb wird der eine ein Schreckens Mann, der andere aber nicht. Es gibt wohl familiäre und soziale Bedingungen, aber keinen Automatismus, der einen Mann zum „radikalen Verlierer“ macht? Und weshalb trifft es nicht gleichermaßen die Frauen, obwohl sie qua Geschlecht die Unterdrückten schlechthin sind?
Die Kennzeichen der Schreckens Männer nach HME:
Alle Charakteristika, die aus anderen Zusammenhängen hinreichend bekannt sind, kehren hier wieder: die gleiche Verzweiflung über das eigene Versagen, die gleiche Suche nach Sündenböcken, der gleiche Realitätsverlust, das gleiche Rachebedürfnis, der gleiche Männlichkeitswahn, das gleiche kompensatorische Überlegenheitsgefühl, die Fusion von Zerstörung und Selbstzerstörung und der zwanghafte Wunsch, durch die Eskalation des Schreckens Herr über das Leben der anderen und über den eigenen Tod zu werden.
HMEs These: Es sid die „radikalen Verlierer“, die sich radikalisieren.
Dem, der sich eine Überlegenheit zuschreibt, die in der Vergangenheit als selbstverständlich galt, und der sich nicht damit abgefunden hat, daß die Tage dieses Primats abgelaufen sind, wird es unendlich schwerfallen, mit seinem Machtverlust fertigzuwerden. (Es ist noch nicht lange her, daß es in deutschen Familien einen »Haushaltungsvorstand« gab.) Ein Mann, der sich als radikaler Verlierer fühlt, hat es aus all diesen Gründen mit einer imaginären Fallhöhe zu tun, die einer Frau eher fremd ist.
Allerdings genügt das, was die anderen von ihm halten, seien sie Konkurrenten oder Stammesbrüder, Experten oder Nachbarn, Mitschüler, Chefs, Feinde oder Freunde, vor allem aber seine Frau, dem Verlierer nicht, um ihn zu radikalisieren. Er selbst muß sein Teil dazu beitragen; er muß sich sagen: Ich bin ein Verlierer und sonst nichts. Solange er davon nicht überzeugt ist, mag es ihm schlechtgehen; er mag arm sein, machtlos; er mag die Misere und die Niederlage kennen; zum radikalen Verlierer aber hat er es erst gebracht, wenn er sich das Votum der anderen, die er für Gewinner hält, zu eigen gemacht hat. Erst dann »rastet er aus«.
Leider immer noch aktuell, weil immer noch nicht verstanden, weil immer noch propagiert vom Kollektiv der Verlierer: “Man kommt zur Überzeugung, dass es sich um einen Einzelfall handelt. (…) Das ist richtig; denn es handelt sich bei all diesen Tätern um isolierte Personen, die keinen Zugang zu einem Kollektiv gefunden haben. Es ist falsch; denn offenbar gibt es immer mehr solcher Einzelfälle. Daß sie sich häufen, läßt den Schluß zu, daß es immer mehr radikale Verlierer gibt. Das liegt an den sogenannten Verhältnissen. Damit kann der Weltmarkt ebenso gemeint sein wie eine Prüfungsordnung oder eine Versicherung, die nicht zahlen will.“
Im zweiten Teil seines “Versuchs” weitet HME seine Betrachtung über gewaltbereite Täter auf eine ganze Bewegung aus: den Islam. Das ist natürlich problematisch, weil es den Islam nicht gibt. HME legt sich Geschichtsbeobachtungen zurecht. Die “Ideologie des Islamismus” stellt “insofern ein ideales Mittel zur Mobilisierung radikaler Verlierer das, als es ihr gelingt, religiöse, politische und soziale Beweggründe zu amalgamieren.” HME zitiert Dan Diner (Versiegelte Zeit. Über den Stillstand des islamischen Welt): Islamische Rechtsgelehrte haben die Einführung der Druckerpresse sabotiert, technologisch haben die arabischen Länder jeden Anschluss an Europa verloren.§ Ja, der “Vorsprung” des Westens ist erkennbar, aber doch auch nur relativ. „Der technologische Rückstand stellt für “jeden Araber, der einen Gedanken fassen kann, eine Demütigung dar”. Das konfligiere aber mit dem Selbstbild: “Ihr seid die beste Gemeinde, die je unter Menschen entstanden ist. “ (Koran 3,111) Die besten Voraussetzungen, die Männer zu “radikalen Verlieren” und sie so anfällig für Gewalt macht. Auch gegen sich selbst.
“Noch tiefer in der arabischen Geschichte verwurzelt sind die Probleme, die mit der Stellung der Frauen zusammenhängen. Welche Auswirkungen es für die Entwicklung einer Gesellschaft hat, wenn die Hälfte der Bevölkerung massiven Beschränkungen nicht nur in der Ausbildung und im Berufsleben unterliegt, läßt sich nur schwer ermessen. Der Koran ist in dieser Beziehung eindeutig.“ (…)Auf die Dauer fällt es schwer, sich einer feindseligen Welt gegenüber zu behaupten, und nie läßt sich der Verdacht ganz und gar ausräumen, daß es eine einfachere Erklärung geben könnte; nämlich die, daß es an ihm liegt, daß der Gedemütigte selber schuld ist an seiner Demütigung, daß er den Respekt, den er einfordert, gar nicht verdient und daß sein eigenes Leben nichts wert ist. Psychologen nennen diese Heimsuchung die Identifikation mit dem Aggressor.”
Enzensbergers “Versuch” gibt viele interessante Denkansätze. Es fällt kaum auf, dass die Gedanken von 2006 stammen, wo im wesentlichender Angriff auf das WTC bekannt war. Die Komplexe der arabischen Welt, die im Weiteren zu einer Vielzahl von Attacken im und auf den Westen führten, bestätigen Enzensbergers Einsichten ebenso wie seine Notate zur Misogynie und zu “Einzeltätern”. Das Büchlein ist keine ausgearbeitete Pscho- oder Sozialanlayse, Pauschalisierungen und Auslassungen ist man von Enzensberger gewohnt, er will ja provokativ sein. Rudolf Maresch zeiht ihn des Ressentiments und nennt ihn “genialen Vereinfacher”.
Eine kürzere erste Fassung des Essays unter dem Titel “Der radikale Verlierer” ist im November 2005 im SPIEGEL erschienen.
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César Rendueles:
Kanaillen-Kapitalismus.
Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Entschieden verurteilt César Rendueles den Kapitalismus als „Kanaille“ . Kanaille ist die „Hundemeute“ und so raubtierhaft verhält sich auch der Kapitalismus denen gegenüber, die abhängig von ihm sind, die abhängig gemacht wurden, die für ihn und … arbeiten. Das beginnt mit Sklaverei und Kolonialismus du hört mit Konsumismus und Neoliberalismus nicht auf. Schon immer ging es um Ausbeutung, um Unterdrückung, um Entmenschlichung.
Die Unterwerfung aller sozialen Institutionen durch den Markt machte eine umfangreiche und hochkomplexe Sozialarchitektur notwendig, die über einen sehr langen Zeitraum perfektioniert werden musste. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum den Ökonomen der sportlich-militärische Wortschatz so gut gefällt und warum sie unablässig von Härten und Disziplin sprechen. Wir haben drei oder vier Jahrhunderte Training gebraucht, bis wir Arbeit, Boden, Grundnahrungsmittel und sogar das Wasser als Waren akzeptierten, die man kaufen und verkaufen kann, während wir gleichzeitig die Daumen drücken, dass die störungsfreien Märkte den erhofften Gleichgewichtszustand herstellen.
Rendueles will das nicht beweisen, die Diagnose steht ja fest. Er will seine Thesen mit literarischen Texten belegen, wobei die Text eben nicht Quelle, sondern literarische Bezugsstücke sind.
Mein Anliegen war nicht, systematisch und mit rigorosen literaturwissenschaftlichen Instrumenten zu analysieren, wie sich die Geschichte der Literatur mit der Evolution der kapitalistischen Gesellschaft verknüpft hat. Ich benütze die literarischen Texte auch nicht als Informationsquelle, um komplexe historische Phänomene zu untersuchen. Vielmehr habe ich mich bemüht, anhand von Romanen, Lyrik und Theaterstücken eine fiktive Chronik der politischen Dilemmata unserer Zeit zu verfassen. (…) Ihre Interpretation ist rein subjektiv (und bisweilen auch nichts anderes). Die in diesem Buch versammelten autobiografischen Fakten ihrerseits spiegeln getreu, aber ausschließlich das wider, was sich in meinem Kopf (und oft nur dort) zugetragen hat.
Überall auf der Welt setzte sich bei den Menschen die intuitive Überzeugung durch, dass die grauenhaften Konflikte ihren Ursprung in der Macht hatten, welche die Marktkonkurrenz über ihr Leben erlangt hatte; in der Tatsache, dass das vorausgegangene Jahrhundert der Wirtschaft die Macht verliehen hatte zu entscheiden, was möglich, unmöglich, wünschenswert oder wertvoll war.
Lange Zeit hatten die ökonomischen und politischen Eliten vehement behauptet, die Expansion des Handels gewährleiste das Wohlergehen und die Eintracht zwischen den sich als zivilisiert betrachtenden Ländern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte der Markt sein verborgenes Gesicht: ein Abgrund an Irrationalität, die alles vergiftete – von den internationalen Beziehungen bis zum eigenen Privatleben.
Die Textauswahl ist vielfältig, vieles ist allgemein bekannt. Man stößt auf Daniel Defoe (Robinson Crusoe: Domestizierung der Gesellschaft durch den Markt), E.T.A. Hoffmann (Serapions-Brüder: Ökonomisierung der Gesellschaft), Alexander von Humboldt (Kolonialisierung), Charles Dickens (Oliver Twist: Lohnarbeit), Heinrich von Kleist (Michael Kohlhaas: Machtwillkür), Fjodor Dostojewski (Die Dämonen: Demokratisierung als Zerstörung sozialer Beziehungen, die zum Terror führt). Und viele mehr, auch neuere Autoren, auch aus dem spanischen Sprachkreis – Rendueles ist Soziologe in Madrid. Nciht alle Texte sind gleich erhellend. Leider sind die Zitate sehr klein gedruckt. Wollte ihnen der Verlag nicht vertrauen? Man liest gern darüber hinweg.
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Volker Weiß: Die autoritäre Revolte
Volker Weiß’Thema sind nicht die spektakelnden Knallknöpfe des politischen Betriebs, nicht die desorientierten Mitläufer, sondern die, die für die autoritätsaffine Rechte einen vergangenheitsaffinen Grundstock an Gedanken liefern: die „Metapolitik“. (Mir widerstrebt es, bei Alt- und Neurechten von Gedanken zu sprechen, es ist eher ein mythologisierendes Raunen, ein Schnittmuster für Denkschwache.*)
Ein Beispiel, wie ein “klassischer Mythos durch den Fleischwolf gedreht” wird: “In 300 hält eine kleine Schar soldatischer Übermenschen unter Spartas König Leonidas am Thermopylen-Pass 48o v. Chr. der Invasion einer haushoch überlegenen Multikulti-Streitmacht des Perserkönigs Xerxes stand, um Zeit für weitere Verteidigungsmaßnahmen im Hinterland zu gewinnen. Folgt man den Narrativen des Historismus, so ermöglichte dieses Selbstopfer die Geburt der abendländischen Kultur.” So weit – so hergeholt – so Hirnintrusiv.
Die aktuell sich selbst ansagenden Wiedergänger: Götz Kubitschek und seine Ellen Kositza, Karlheinz Weißmann, Alexander Dugin etwa oder der irr vorlaufende Thilo Sarrazin oder der Hintergrund-Krakeler* Björn Höcke u. dgl. mehr. Die immer wieder aufgerufenen Vor-„Denker“ Oswald Spengler, Carl Schmitt, Arthur Moeller van den Bruck, Julius Evola, Alain de Benoist, Armin Mohler („Die konservative Revolution in Deutschland“, dessen Titel sogar der CSU-Flachdenker* Alexander Dobrindt im Munde führt.) Weiß nennt auch die zughörigen „Theorie“-Organe, er wird sie haben lesen müssen. Der rechte Zirkel kreist in sich.
Es sind immer wieder die gleichen Feindbilder, welche die autoritäre Rechte bemüht und die sie sich zurechtbiegt: Universalismus, Demokratie, Liberalismus, Gleichheits-Ideologie, Aufklärung, Moderne – oder konkret: Homosexuelle, Dekadente, Frauen!
„Die größte Bedrohung unserer Identität ist keine andere Identität, sondern der politische Universalismus in allen seinen Formen, der die Volkskulturen und unterschiedlichen Lebensstile bedroht, und der sich anschickt, die Erde in einen homogenen Raum zu verwandeln.” (Alain de Benoist) “Präziser lässt sich das Verhältnis von fremder Gegen-Identität und universalistischer Nicht-Identität kaum fassen.”
Volker Weiß hat den Überblick, er zieht Linien, erschließt Verwandtschaften. Er vermeidet psychologische Erklärungen. Längere Abschnitte oder Kapitel widmen sich dem “Reichsmythos”, der “Schicksalsgemeinschaft der Nation”, der “Identitären Bewegung”, dem “Ethnopluralismus”.
»Unser Volk hat von anderen Völkern viel gelernt und anderen Völker viel beigebracht, sein Erfindergeist, sein Organisationstalent, sein Fleiß sind sprichwörtlich, seine Musik und seine Philosophie sind einzigartig. Unser Volk hat sich in der schwierigen Mitte Europas behauptet, es hat Kriege geführt und wurde mit Krieg überzogen. Warum zähle ich das auf? Ich zähle es auf, weil wir alle hier diejenigen sind, die diese deutsche Geschichte weitertragen müssen und weitertragen dürfen.« (Götz Kubits
Die traditionellen Lehren von der weißen Überlegenheit, die den europäischen Rassismus geprägt hatten, wurden durch das neue Konzept des »Ethnopluralismus« ersetzt, der eine Gleichwertigkeit homogener Völker in ihren angestammten Lebensräumen propagiert. Das klang zunächst wesentlich menschenfreundlicher als die üblichen Ungleichheitslehren, barg aber im Glauben an ethnische Homogenität und der Verbindung von Volk und Raum dieselben Ausschlussmechanismen, nur in modernisiertem Gewand.
Ein eigenes Kapitel klärt auf über “»Abendland« – Kurze Geschichte eines Mythos”.
Wieweit das Wirken der “Metapolitik” erfolgreich ist, lässt Weiß offen. Wenn man liest, was etwa die Mitläufer der Pegida bewegt, möchte man fast erleichtert hoffen. “Eine Überraschung vor allem hinsichtlich des Selbstverständnisses von Pegida bot allerdings die Antwort auf die Frage nach der Motivation zum Besuch der »Abendspaziergänge«: »Nur 24,2 Prozent aller befragten Personen geben dabei mögliche Bedrohungen und Ängste durch den Islam, den Islamismus oder die Islamisierung als Begründung für ihre Teilnahme an Dresdner Pegida-Veranstaltungen an. Der Bezug auf ein zentrales Mobilisierungsmotiv von Pegida konnte damit bei einer großen Mehrheit der befragten Pegida-Teilnehmer in Dresden nicht nachgewiesen werden.« Mindestens ebenso wie die Sorge um das christliche Abendland trieben die Teilnehmer vielmehr Ängste vor sozialem Abstieg, Kriminalität, »Überfremdung« und »Identitätsverlust« auf die Straße. Auch eine allgemeine Unzufriedenheit mit »den Medien« und »der Politik« wurde häufig genannt.“
Andererseits: Weiß’ Buch stammt von 2017. Von einem Einhegen oder gar Zurückdrängen der “autoritären Revolte” ist auch Anfang 2020 wenig zu spüren. Die rechte Masse reagiert folgsam auf die Stichworte.
»Endlich eine Darstellung der deutschen Rechten, die sich nicht in billiger Polemik erschöpft, sondern gründlich, gerecht und darum vernichtend ist.« (Gustav Seibt) Vernichtend ist sehr hoch gegriffen, wer liest denn Seibt, wer von den Krakeelern liest überhaupt? Sehr informativ.
(* Wertung von mir, WS)
Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta
Volker Weiß – Die autoritäre Revolte [3sat Kulturzeit] – 7 Minuten
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Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister
Zuweilen gewinnt man den Eindruck, Hölderlin drücke sich so kompliziert aus, um die Schlichtheit seiner Gedanken zu verbergen. Schließlich geht es immer nur um die Einheit von göttlicher Sphäre und menschlicher, ums All-Eine und Vereinigung.
Der eine Vorzug von Karl-Heinz Otts Geister-Emanationen ist ihre Darbietung als lesegerechte Häppchen. „Kleine Miszellen und Episteln“, nennt das Helmut Böttiger (SZ), der mehr Wörter kennt als ich. Nach wenigen Seiten jeweils wird ein Esprit-Stückchen vom nächsten abgelöst, ergänzt, mit anderen in Beziehung gesetzt. Ott überzieht seinen Hölderlin mit einem Geflecht von Wissen und Anspielungen. „Frühe Auseinanderdrift – Was bleibet aber, stiften die Dichter – O meine Lust / Pindarisieren – Forgotten Songs and Unsung Heroes – Wo bleibt Odysseus?“ heißen Vorsätze, die im Kapitel „Tübinger Visionen“ zusammengefasst sind. Hier stellt Ott Grundlegendes zum ideal(ist)ischen „Systemprogramm“ der Tübinger Stiftsschüler vor: Schelling, Hegel, Hölderlin. Auch Hölderlin, der erfolglose, Außenseiter in seinem Leben, ein ewiger Träumer, Dichter, dem die Moderne keine Heimat bieten konnte.
Zum Beispiel Dionysos:
Hölderlin sieht nur Schönes am Werk, wo Dionysos im Spiel ist. Redet Kleist von Wollust, handelt es sich um eine besessene, nicht geistige. Bei Kleist blicken wir in ein dionysisches Pandämonium, Hölderlin macht aus Jesus in »Brod und Wein« einen Gesinnungsgenossen von Dionysos, die beiden feiern friedlich das Abendmahl. Hölderlin verniedlicht Dionysos zu einem lieben Apoll.
Bezeichnenderweise redet Hölderlin so gut wie nie von Dionysos, er redet vom »Gemeingeist Bacchus« und vom Weingott. Das lässt an klirrende Gläser denken und an Mozarts »Entführung«, wo der besoffene Osmin singt: »Vivat Bacchus!, Bacchus lebe, Bacchus war ein braver Mann.« Solche Assoziationen liegen Hölderlin fern, obwohl auch bei ihm gern von Gesang die Rede ist. Exzesse kann man sich jedoch schwer vorstellen in seinem vereinigungsseligen Kosmos. Zwar beflügelt sein Weingott die Geister, doch stets mit heiligem Ernst. Von Delirien keine Spur, von Barbarei schon zweimal nicht.
Die Rezeption Hölderlins oszilliert, wohl weil sich für rechts wie links Andockstellen finden. „Der bräunliche Hölderlin“ (Kapitel) ist der Hölderlin Heideggers, Jüngers, der französischen Philosophen, etwa Derrida.
Erde, Heimat, Seyn. Keinen anderen Begriffen begegnet man in Heideggers Hölderlin-Deutungen häufiger als Erde und Heimat. Auch von Zugehörigkeit ist viel die Rede und vom Heimischen und Heimischwerden, vom Wohnen des Menschen, vom Bleiben, Stiften und Gründen, vom Eigenen, Eigentum und Eigensten, von Ankunft und Ankommen, vom Aufenthalt und von Heimkunft, vom Schicksal, von der Schickung und vom Schicklichen. Immer wieder taucht bei Heidegger die Wendung vom Eigensten der Heimat auf und von ihrem Einladenden, Aufgeräumten und Eingeräumten, von der unversehrten Erde, dem sachten Bann der allbekannten Dinge, vom Hellen, Heilen und Heiligen, vom Leuchtenden und Lichtenden, von Klarheit und Gesang. Mit Berufung auf Hölderlin weist Heidegger in eine Zukunft, die Abschied nimmt von einem humanistischen Denken, das mit Platon einsetzt, von dort aufs Christentum übergeht und schließlich in die Aufklärung mündet.
Dieses Denken führt in die Seinsvergessenheit. (…)Wenn Heidegger mit Hölderlin die Rückkehr zum Seinsdenken anmahnt, glaubt er, diese Rückkehr könne nur von den Deutschen geleistet werden. Wer meint, philosophische Prinzipien und Postulate zielten auf universale Geltung, wird von Heidegger eines anderen belehrt. Für ihn feiert das Seinsdenken seine Rückkehr im Schwäbischen, vor allem dank Hölderlin und ihm. (…)Jünger ist wie Heidegger überzeugt, wir leben in götterferner Zeit. (…)Jünger geht davon aus, dass sich die gegenwärtige Sinnleere so sehr verschlimmert, dass es eines Tages zum großen Knall kommt. In seiner 1959 erschienenen Schrift »An der Zeitmauer« erklärt er mit Blick auf Hölderlin: »Die mythische Welt ist gegenwärtig, und daher führen ihre Nichtachtung, ihre Verbannung zu wachsender Anstauung und endlich zu Dammbrüchen.« Die Frage nach dem Mythischen und nach Entmythisierung bildet das Hauptthema seiner Tagebücher und seiner Reiseschriften. Am 24. November 1982 notiert er: »Mit dem Rückzug der Götter und der Heraufkunft der Titanen haben mein Bruder Friedrich Georg und ich uns schon früh beschäftigt, sowohl als Leidende wie als Beobachter.«
Während des Zweiten Weltkriegs werden diverse HölderlinFeldauswahlheftchen in großer Auflage an die Wehrmachtssoldaten verteilt, als geistige Nahrung im Tornister. Auch Friedrich Beißner, der Herausgeber der seit r943 erscheinenden Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, stellt ein Büchlein zusammen. »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« – solche Verse dienen seelischer Stärkung, nebst allerlei »vaterländischen Gesängen«. Nicht jeder Soldat erinnert sich dieser Lektüre gern. Günter Eich schreibt nach dem Krieg ein Gedicht mit dem Titel »Latrine«, in dem es heißt: »Über stinkendem Graben / Papier voll Blut und Urin, / umschwirrt von funkelnden Fliegen, / hocke ich in den Knien, // den Blick auf bewaldete Ufer, / Gärten, gestrandetes Boot. / In den Schlamm der Verwesung / klatscht der versteinte Kot // Irr mir im Ohre schallen / Verse von Hölderlin. / In schneeiger Reinheit spiegeln / Wolken sich im Urin. // >Geh aber nun und grüße / die schöne Garonne -< / Unter den schwankenden Füßen / schwimmen die Wolken davon.«
In den 1960er-Jahren beanspruchen die Linken Hölderlin für ihre Ideologie. Heiner Müler, Peter Weiss, Georg Lukács berufen sich auf ihn, 1975 erscheint der erste Band einer Hölderlin-Ausgabe beim Verlag Roter Stern. “Hölderlins Wahnsinn war für Michel Foucault eine angemessene Antwort auf die Vernunftmaschinen der kapitalistischen Zivilisation, und Philippe Lacoue-Labarthe meinte, dass Hölderlin in seiner Zerrissenheit und seinen ästhetischen Bruchstücken moderner als die Moderne war und die Avantgarde geradezu erfunden hatte.“ (Helmut Böttiger)
Karl-Heinz Ott holt Hölderlin vom linken wie vom rechten Sockel. Er liest ihn genau, dekonstruiert ihn, reduziert ihn auf seine Gedankenwelt,. Die Darstellung ist eher assoziativ als systematisch, die Biografie folgt nicht der Zeit, sie bleibt im Hintergrund, verliert aber dort nicht ihre Wirkung. Oft ist es scheinbar Banales, etwa Hölderlins Geldnot, immer wieder beschworen in den Briefen an seine Mutter. Die Mutter bleibt unnachgiebig, besucht ihren Fritz nicht einmal in seinem Turm in Tübingen. Ott zitiert ausgiebig, stellt Hölderlins “Wohin denn ich?” daneben.
“Hälfte des Lebens – Briefe an die Mutter – Orientalischdionysischer Spinozismus – Foucaults Orient – Wir wunderbar Wahnsinnigen – World-Making – Anything goes – Promille – Mythologischer Liberalismus – Multikulti-Mythologie -Jesus, der Griechenjüngling – Schönheit, Freiheit, Kunst und Staat – Herrschaftsfreier Gesang” lauten Zwischentitel. Man sieht hier Otts Methode des Zusammendenkens und seine „äußerst luzide Bricolage-Technik“ (Helmut Böttiger). „Ein glänzend lesbarer Rundgang durch Hölderlins gedankliches Universum, durch Antike, Mythologie, Pantheismus und Griechenlandverehrung.“ (Aus der Begründung für die Aufnahme in die SWR-Bestenliste)
Die große Vereinigung alles Getrennten. Auf nichts anderes läuft Hölderlins Ostinato hinaus, vor allem in seinen philosophisch angehauchten, meist fragmentarisch gebliebenen Abhandlungen. Hölderlin setzt auf ein mythisch getränktes Weltbild, das die Wunden der Moderne heilen soll.
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Ulrike Herrmann:
Deutschland. Ein Wirtschaftsmärchen – Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind
Die Wirtschaft, das ist die Geschichte Deutschlands von 1945 bis heute, wobei Ulrike Herrmann vorzüglich die Wirtschaftspolitik beleuchtet. Beginnen kann diese Geschichte nicht bei einer „Stunde Null“, denn der Krieg hat mit seinen Nazi-Mächtigen und seinen mächtigen Schäden auch weit in die Besatzungszonen und die Anfangszeiten von BRD und DDR hineingewirkt. Ulrike Herrmann verkündet nicht unbedingt Neues, sie deutet aber manches neu aus.
Was Ulrike Herrmann antreibt, ist die Entlarvung der Narrative, die sich als „Mythen“ in das Geschichtsdenken der Deutschen eingegraben haben. Die „Märchen“, welche die Mächtigen über die iegenen Meriten erzählt und welche die Deutschen oft und gerne und bis heute geglaubt haben. Besonders dann, wenn sie sich als Deutsche in die Wirtschaftswundergeschichten einbezogen fühlten: Wir sind wieder wer!
Es ist nicht nur ein Märchen, das Ulrike Herrmann ins Land der Wirklichkeit zurückholt:
- Das „Wirtschaftswunder“ ist keine deutsche Spezialität, es basiert nicht auf dem deutschen Geist oder der deutschen Ingenieurskunst oder versammelter Hau-Ruck-Anstrengung.
- Ludwig Erhard hat mit dem „Wunder“ der Wirtschaft nix tzu tun, er war nicht merh als ein „talentierter Selbstdarsteller“ ohne Wissensfundament. Er hatte sich den Nazis als „Gutachter“ angedient, sein Slogan war“ Wohlstand für alle“, doch „der Titel Wohlstand für alle klingt, als hätte Erhard eine Art sozialen Ausgleich gefordert. Dies wäre ein krasses Missverständnis. Erhards Botschaft lautete vielmehr: Der Wohlstand stellt sich von selbst ein. Der Staat müsse nur den Wettbewerb schützen; keinesfalls dürfe er umverteilen. Denn der Markt sei bereits sozial, weil er auf dem Prinzip der Konkurrenz beruhe. (…) Als Autor war Erhard voller kursivierter Inbrunst, doch als Wirtschaftsminister ist er daran gescheitert, den so geliebten und gelobten Wettbewerb zu schützen.” Ulrike Herrmann ist die Wut auf den “Nazi-Profiteur, Lügner und Opportunist“ und auf die bundesdeutsche Geschichtslüge anzumerken.
- Die “soziale Marktwirtschaft” war nicht sozial. Die Großkonzerne behielten ihre “ungebrochene Macht”, (Ex-)Nazis “rückten in die meisten Sphären der Gesellschaft ein”. “Die Bundesrepublik war anfangs eine »Demokratie ohne Demokraten« – und trotzdem erstaunlich stabil. Dieser innere Friede war nicht zuletzt dem enormen Wirtschaftswachstum zu verdanken, das ganz Westeuropa erfasst hatte. Doch ab 1958 zeigten sich erste Risse: Die Krisen kehrten zurück.”
- Die Bundesbank gerierte sich als “Staat im Staat”. ““Durch ihre Zinsentscheidungen hat die Bundesbank nicht nur mehrmals die Wirtschaftskrisen in Deutschland verschärft und Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit geschickt, sondern auch Nachbarländern geschadet – seien es Frankreich, England oder Italien„. „Der britische Finanzjournalist David Marsh urteilte provokant: »Die Bundesbank hat die Wehrmacht als Deutschlands bekannteste und gefürchtetste Institution ersetzt«. Denn sie kontrolliere »einen größeren Teil Europas als je ein deutsches Reich in der Geschichte«.’”
- Wirtschaftspolitische Irrtümer, Fehler und Versagen sieht Ulrike Herrmann auch bei vielen weiteren Themen: “Die Reichen werden beglückt – vor allem von Rot-Grün »Die größte Steuerreform der Bundesrepublik« Agenda 2010: Die SPD-Wähler werden betrogen »Riester-Rente«: Die Angst vor der Altersarmut kehrt zurück“ – “Die Finanzkrise ab 2007: Die Pleite einer Bank war keine gute Idee Der ewige Traum: Spekulieren ohne Risiko“ – “Ein Kontinent zerstört sich selbst: Die Eurokrise: Es funktioniert nicht: Ein Euro, aber 19 Staatsanleihen – »Exportstar« Deutschland: Weltrekorde im Außenhandel
Ulrike Herrmann kritisiert an vielen Beispielen vehement, dass der Staat die Wirtschaft gewähren ließ – und lässt – bzw. dort, wo er in den “Markt” eingreift, dies einseitig zugunsten der kapitalistischen Wirtschaft tat und tut.
Politik soll nur simuliert werden und darf den Status quo nicht erschüttern. Das Märchen von der »sozialen Marktwirtschaft« war da sehr nützlich: Der Begriff täuschte eine »Wirtschaftsreform« vor, die nie stattgefunden hat. Geschickt wurde verbrämt, dass man ökonomisch dort weitermachte, wo man im Krieg aufgehört hatte.
Der blinde Glaube an den »Markt« hätte den Markt fast ruiniert. Trotzdem, und das ist die eigentliche Nachricht, ist es noch nicht einmal den Spekulanten gelungen, das Wachstum völlig zu zerstören. Der Kapitalismus erweist sich als enorm widerstandsfähig.
Im Umkehrschluss bedeutet dies: Punktuelle Eingriffe in den »Markt« werden niemals ausreichen, um das Wachstum zu zähmen. Genau diese minimal-invasiven Strategien sind aber äußerst populär.
Herrmann hält eine Umkehr für nötig und machbar. ”Politik lohnt sich”, heißt ihr letzter Satz. Ist ihr Appell naiv? Ulrike Herrmann ist ist Seit 2000 Redakteurin bei der Berliner taz, Sie ist Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen.
„Ludwig Erhard war ein naiver Ökonom“ – Westend fragt nach mit Ulrike Herrmann
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Tuba Sarica: Ihr Scheinheiligen! Doppelmoral und falsche Toleranz –
die Parallelwelt der Deutschtürken und die Deutschen
Dieses Buch ist mir eine Herzensangelegenheit. Deutschland liegt mir am Herzen. Ich liebe mein Land.” “Ich schreibe dieses Buch nicht zuletzt für die zwölf- bis Anfang zwanzigjährigen türkischen, muslimischen Jungs und Mädels in Deutschland und Europa, die sich aus der angeblich modernen parallelgesellschaftlichen Wertewelt befreien und den Weg gehen wollen, den ich gegangen bin: ihren eigenen.
Tuba Sarica treibt ihre Wut in ihr Buch. Das ist wichtig, weil sie damit gegen eine doppelt einseitige Ignoranz anschreibt: die Ignoranz der deutsch-Deutschen, die sich um die Parallelgesellschaft nicht kümmern und nur kurz medial aufschreien, wenn die Deutschtürken eine Moschee bauen wollen oder sich mit Mehrheit für Erdoğan entscheiden. Das ist aber auch problematisch, weil sie ihren Blick auf die Defizite der deutschtürkischen Gesellschaft konzentriert und ihr dabei Defizite der deutschen Politik und Gesellschaft aus den Augen geraten. Auch die historische Dimension sollte stärker beachtet werden: In Deutschland waren die Traditionen vor 70 Jahren noch ähnlich einschränkend wie jetzt in der “Schutzblase” der “Parallegesellschaft”.
Die Deutschtürken in Deutschland sind rückständig- rückständiger als die Türken in der Türkei. (…) Ihre schlechten Eigenschaften: Kritikunfähigkeit, Unwissenheit, den fundamentalistischen Glauben, die Unfähigkeit, zwischen Religion und Staat zu trennen, das fehlende demokratische Bewusstsein, Willkür, Selbstjustiz, das gestörte Verhältnis zur Sexualität, die Kurzsichtigkeit bei der Kindererziehung, Gewaltbereitschaft, Rassismus und Hass gegen Andersgläubige, gegen die Deutschen, Europa und alles Westliche.
Tuba Sarica findet in ihrer deutschtürkischen Familie – und zur Familie gehört die ganze Verwandtschaft – vielfache Beispiele für “rückstandiges” Verhalten. Generell verbreitet ist die unbedingte Erwartung, sich an die Traditionen zu halten. Sarica sucht weniger nach Gründen für als nach den Folgen, die diese “schlechten Eigenschaften” für die Mitglieder der Parallelwelt haben, vor allem für Frauen, Kinder – und am heftigsten fürMädchen, wie Tuba. Ihr Schreiben ist subjektiv, trifft daher aber umso genauer und härter.
Viele muslimische Frauen erfahren diese Freiheit nie. Ihre Bestimmung liegt darin, den Eltern ein angenehmes Leben zu bereiten, indem sie sich an ihre Wertvorstellungen halten.
Türkische Eltern machen ihr Glück von ihren Kindern abhängig, um nicht zu sagen, sie missbrauchen das Leben ihrer Kinder für ihr eigenes Wohlbefinden. Dabei muss ich schließlich erst einmal selber glücklich sein, um andere glücklich machen zu können. Wenn ich meiner Mutter sage, dass ich ein eigenes Leben habe, reagiert sie beleidigt. Lange dachte sie sich und mich als eine Person. Als ich noch zur Schule ging, öffnete sie sogar Briefe, die an mich adressiert waren. Als ich ihr zum ersten Mal sagte, dass das nicht in Ordnung sei, hat sie mich ausgelacht. Da hatten in der Schule alle schon ein eigenes Bankkonto, und mir war es peinlich, dass ich so spät dran war. Auch das konnte meine Mutter nur schwer verkraften. »Du und ich, wir sind zwei getrennte Personen« – solche Aussagen meinerseits kommentierte sie von oben herab und warf mir damit unterschwellig vor, kalt und egoistisch zu sein.
Die muslimische Kultur ist eine Kultur ohne Worte. Das Schweigen, das die muslimische Gemeinde pflegt, ist ein Schutz vor der Welt. Indem man nicht über unangenehme Dinge spricht, weicht man unangenehmen Fragen und Antworten aus. Um der Frage nach dem Sinn des Lebens aus dem Weg zu gehen, wird ein riesiges Schauspiel veranstaltet. (…) Die regressiv muslimische Erziehung lehrt die Fähigkeit zur Lösungsfindung nicht. Stattdessen verschiebt sie die Bewältigung vieler Konflikte ins Jenseits: Wer glaubt, ihm sei Unrecht widerfahren, tröstet sich mit dem typisch parallelgesellschaftlichen Spruch: »Wir werden in der anderen Welt miteinander abrechnen« (»Öbür dünyada hesaplasacagiz«).
Gegen diese Bevormundung, diese Käfighaltung setzt Tuba Sarica ihre eigene Emanzipation, ihre Selbstverwirklichung, ihre Freiheit. Begriffe, die sie in der muslimischen-türkischen Gesellschaft in Deutschland nicht findet. Diese Eigenständigkeit beschwört sie immer wieder, wobei die Beispiele zum Teil recht jungmädchenhaft klingen. Allein ausgehen, bei Freundinnen übernachten, um die Häuser ziehen und in Bars und zum Tanzen gehen, von zu Hause ausziehen, allein oder in einer WG wohnen, in die Schule gehen und studieren.
In der Schule stößt sie auch auf Texte, die sie in ihrem Willen bestärken. Es ist niemand anderer als der deutsche Aufklärer Kant, den sie ausführlich zitiert. “Die ersten Worte für etwas, für das ich bislang keine Worte hatte, las ich in der Schule, versunken in ein ReclamHeft:”
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Als ich diese Zeilen im Klassenzimmer las, wurde das Diffuse für mich zum ersten Mal greifbar. Ich dachte: Das muss der Grund dafür sein, weshalb Männer in einigen Ländern zu verhindern versuchen, dass Mädchen in die Schule gehen. Sie wollen den Kontakt mit diesen Werten und Worten allgemein unterbinden. Ich dagegen möchte, dass jedes muslimische Mädchen und jeder muslimische Junge diesen Text zu lesen bekommt. (…) Später, im Germanistikstudium, las sich die Nachkriegsliteratur für mich wie die Aufarbeitung einer fundamentalistisch-muslimischen Gesellschaftsordnung.
Die Autorin Tuba Sarica fordert Verantwortung für das eigene Handeln. „Ich will keine Hoffnung auf die Hilfe eines fremden Gottes setzen, sondern Vertrauen in meine eigene Lebenserfahrung haben.” Ihr Appell an die Leser klingt hoffnungsvoll: „Ihr lebt in einem Land, in dem ihr eine Chance habt. Ergreift sie!“
Tuba Sarica mischt sich auch in die öffentliche Diskussion ein.„Die, die Erdoĝan gut finden, wollen keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen“, sagt Tuba. „Es ist einfacher, wenn Erdoĝan sagt, der Westen sei an der eigenen Misere Schuld.“ In ihrem Blog weltbewohner.com (Weshalb enden die Einträge Ende 2018)? schrieb sie 2018: „Özil und Gündogan sind Mitläufer. Wenn sie in den 30ern gelebt hätten und deutsch wären, hätten sie auch Hitler die Hand gegeben.“ Focus nennt das eine „krasse Entgleisung”.
Gespräch mit Tuba Sarica auf “Telepolis”
Leserkommentare bei Amazon (entlarvend)
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Philipp Ther:
Das andere Ende der Geschichte –
Über die Große Transformation
„Das Ende der Geschichte“ wurde 1992 von Francis Fukuyama verkündet. Philipp Ther ist nicht der erste, der merkt, dass die These Unsinn war. Er weiß, dass die Geschichte weiterging und weitergeht und auch 2019 an keinem Ende angekommen ist, auch an keinem anderen. Er schreibt die Entwicklungen für einige Länder(gruppen) weiter: Die USA haben nach dem Kalten Krieg „den Frieden verloren“, Deutschland habe den „Preis der Einheit“ entrichten müssen, Italiens „Crisi“ stehe als „Menetekel Europas“, der Westen habe sich von Russland und der Türkei entfremdet, Polen und Ungarn predigen Abhilfe im Nationalismus.
Ther ist Historiker, er habe sich aber für dieses Buch „auf die Form des wissenschaftlichen Essays eingelassen“. Karl Polanyis Hauptwerk „The Great Transformation“ von 1944 war für ihn „die wichtigste Quelle der Inspiration” und kam so als Untertitel aufs Cover: “Über die Große Transformation”. Auf Polanyi beruft sich Ther ausführlicher im ersten Essay: “Neoliberalismus, Illiberalismus und die Große Transformation nach Karl Polanyi.“
Was hätte Polanyi zu diesen Entwicklungen gesagt oder, anders gefragt, was lässt sich aus seinen Schriften für die Zeit nach 1989 ableiten? Man kann auf die zahlreichen Parallelen zwischen dem 19. und dem späten 20. Jahrhundert hinweisen; was derzeit als Neoliberalismus diskutiert wird, hat Ähnlichkeiten mit dem globalisierten Laissez-faire-Kapitalismus, über den Polanyi schrieb. An die Stelle des Goldstandards sind die Defizitkriterien des Euro getreten, wobei diese bekanntlich nicht für die gesamte Welt, sondern nur für die Eurozone gelten. Auch die Antireaktionen gegen diese Ordnung sind mit dem späten 19. Jahrhundert vergleichbar, in den USA besteht ein starker Drang zum Protektionismus, den sich kleinere Länder wie Großbritannien, Italien, Polen oder Ungarn, wo derzeit Rechtspopulisten (mit)regieren, freilich nicht leisten können. Stehen wir demnach kurz vor dem Faschismus? Dazu ist die bestehende globale Wirtschaftsordnung trotz aller Turbulenzen rund um Trump noch zu stabil. (…)
Ganz sicher hätte Polanyi für ein anderes Verhältnis von Staat und Wirtschaft plädiert. Er bemerkt zum 19. Jahrhundert kritisch, die »Praxis des Laissez faire« sei nicht, wie von den Liberalen behauptet, gleichsam naturwüchsig entstanden: »[F]reie Märkte wären niemals bloß dadurch entstanden, daß man den Dingen ihren Lauf ließ. […] [S]ogar der Grundsatz des Laissez faire selbst wurde vom Staat durchgesetzt.« (…)
Auch für spätere Epochen sieht Polanyi die Bestimmung des Staates darin, zum Wohlfahrtsstaat zu werden und somit als Mittler zwischen den Interessen des Markts und der Gesellschaft zu agieren. Deren soziale Bedürfnisse stellt er über das Gewinnstreben, insofern basiert sein Buch auf einer klaren Wertehierarchie. (…)
Ein weiteres Konzept von Polanyi, der für die Zeit nach 1989 eine nähere Betrachtung verdient, ist das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, der unter den deklassierten Arbeitslosen und Armen besonders verbreitet sei: »Rein ökonomische Sachverhalte, die die Befriedigung der Bedürfnisse betreffen, sind für das Klassenverhalten unvergleichbar weniger relevant als Fragen der sozialen Anerkennung.« Dieses Bedürfnis zählte offensichtlich wenig bis nichts, stattdessen stand im Osten wie im Westen die soziale Abgrenzung im Vordergrund.
In den anderen Kapiteln taucht Polanyi eher kursorisch auf, die Bezugnnahme wirkt konstruiert, als Folie für die Befunde eingesetzt. Die Zusammenstellung ist interessant und informativ. Ther stellt Querverbindungen her und zeigt an seinen Musterländern die Verwerfungen auf, die die skrupellose Durchsetzung des Neoliberalismus hinterlassen hat. Immer wieder thematisiert Ther die Rolle des Historikers, der für sichere Ergebnisse Abstand bräuchte, der sich aber an die Aktualität wagen und sich einmischen muss, denn „es eilt, sonst steht der Menschheit und ganz konkret uns und unseren Kindern noch eine ganz andere Große Transformation bevor”.
Man kann Polanyi daher sehr vielfältig interpretieren, was eine Erklärung dafür sein mag, warum er unter Linksintellektuellen bis heute so populär ist und warum prominente Sozialwissenschaftler immer wieder einen »polanyischen Moment« gekommen sahen.
Das war Anfang der Neunziger der Fall, als infolge der Rezession von 1992 die Reaganomics ebenso am Ende schienen wie wenig später der Thatcherismus; dann erneut nach der – ebenfalls bereits globalen – Krise des Neoliberalismus rund um die Jahrtausendwende (von der Asien- und Russlandkrise bis zum Dotcom-Crash) und schließlich nach der großen Krise von 2008/09, die sich in Europa zur Eurokrise auswuchs. Jedes Mal erwarteten kluge Zeitgenossen einen Pendelschlag nach links, wenigstens zu einem stärker regulierten Kapitalismus – der dann nicht eintrat.
Ich bin mir nicht sicher, warum das Pendel an diesen drei Wendepunkten zunächst in verschiedene Richtungen schwang, als hätte eine höhere Gewalt an der Aufhängung der Pendelschnur gezupft, um es dann nach rechts ausschlagen lassen. Wahrscheinlich ist der Zeitabstand, zumal zum Annus horribilis 2016, noch zu gering, um darauf eine befriedigende oder gar bleibende Antwort zu geben. So weit mein Zweifel an einer Zeitgeschichte, die immer näher an die Gegenwart heranrückt. Möglicherweise ist der globale Kapitalismus stabiler als von Polanyi vermutet und steckt solche Krisen weg. Doch was passiert mit der liberalen Demokratie? Hier begann nicht erst nach den beiden letztgenannten Krisen, sondern schon in den Neunzigern eine Drift zum Rechtsnationalismus und Illiberalismus.
Philipp Thers Danksagung endet nicht gerade zuversichtlich: „Meinen Kindern wünsche ich eine bessere Zukunft, als sich derzeit erkennen lässt.”
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Detlef Siegfried: 1968.
Protest, Revolte, Gegenkultur
Detlef Siegfried schreibt ein detaillertes und ausgreifendes Buch über 1968 und die Jahre drumherum, den „Zeiten, denen die Revolte von 1968 eine Spitze aufsetzte“. Seine These: „dass 1968 und der gesellschaftliche Umbruch der langen 1960er Jahre untrennbar zusammenhängen“. Siegfried wertet nicht, sondern stellt in sozialwissenschaftlicher Diktion dar, ordnet zu und ein und belegt seine Analyse ausführlich. (25 Seiten Anmerkungen)
Erst vor dem Hintergrund der noch in der Modernisierung der Gesellschaft reproduzierten geistigen Enge wird die Faszination des in allen Farben leuchtenden Möglichkeitsraums verständlich, der jenseits der deutschen Grenzen aufschien – im französischen Existenzialismus, in der US-Beat-Literatur, in skandinavischer Liberalität und Popkultur aus Großbritannien. Aber auch im eigenen Land wurde die besonders starke Orientierung an der Tradition, die nach Nationalsozialismus und verlorenem Krieg den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen sollte, seit den späten 195oer Jahren immer mehr in Frage gestellt. Anders leben, das bezog sich nicht nur auf das politische System, sondern fundamentaler auf die Lebensweise: Genuss statt Pflichtgefühl, Toleranz statt Normativität, weg mit dem nationalen Brett vorm Kopf – immer weniger wurde als gegeben hingenommen, weder die Familie als wichtigste Form der Gemeinschaft noch scheinbar objektive Gegebenheiten wie die sexuelle Orientierung, schon gar nicht die Konventionen von Bekleidung und Haartracht. Selbst der Rahmen dessen, was als Wirklichkeit verstanden wurde, konnte gesprengt werden, wie der Aufstieg illegaler Drogen verdeutlichte.
Die Kraft derartiger Ideen kann kaum überschätzt werden.
Siegfrieds Protest beginnt mit sub- und popkulturellen Umbrüchen, mit “anderen Wirklichkeiten”: “Körperpraktiken”, Auslandsreisen, Underground und “Swinging Benjamin”, mit Erkundungen, Hoffnungen und Positionen. Das erste der vielen intelligent ausgewählten Bilder zeigt eine “Demonstration für den Minirock”.
Dass in den späten 1960er Jahren die Bereitschaft der Linken gewachsen war, sich Beat und Pop gegenüber zu öffnen und ihnen ein politisches Potenzial zuzuerkennen, hatte auch mit einem theoretischen Paradigmenwechsel zu tun, der die linke Intelligenz beschäftigte. Helmut Lethen erzählt eine Geschichte, die die Haltung einer bestimmten Strömung trefflich illustriert. 1967, drei Jahre nach dem Kauf von Twist and Shout und dem Besuch eines Beatles-Konzertes in Amsterdam, hatte Lethen, geboren 1939, bei einer Tagung der Studienstiftung des Deutschen Volkes Adorno getroffen. »In dem Weinlokal, in dem wir uns abends nach der Konferenz trafen, stand glücklicherweise eine Jukebox. Um den Verächter der Massenmusik zu quälen, wählten wir – eine kleine Gruppe von Studenten des SDS […] – pausenlos Platten wie Hey Jude, Ruby Tuesday etc. Der Philosoph widmete sich seelenruhig dem Wein und seiner kleinen Freundin. Das hat mir imponiert.« Hinter dieser Miniatur verbirgt sich ein Austausch der theoretischen Autoritäten in jenem Teil der Studentenbewegung, der im Politischen wie Kulturellen an den Puls der Zeit strebte. Es ging, grob gesprochen, darum, Hochkultur und Theorie durch Popkultur und Praxis zu ersetzen.
Da das aber doch nicht theoriefrei vonstattengehen konnte, wurde dieser Paradigmenwechsel untermauert durch den Übergang von Theodor W. Adorno zu Walter Benjamin. Während Adornos Kritik der Kulturindustrie keinen Ausweg aus dem Zirkel von Manipulation und »rückwirkendem Bewusstsein der Rezipienten ließ, eröffnete Benjamins Essay zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit einen Weg, die modernen Massenmedien als Werkzeuge der Emanzipation zu begreifen.
Der zweite, wegen des Gegenstands drögere Teil des Buches ziseliert die “politischen Bewegungen”, die APO und die Vietnam-Konferenz(en), den Antikolonialismus bis hin zu den “Ikonen des neuen Internationalismus: Che & Mao”. Es fehlen nicht Schüler- und Lehrlingsbewegung , obwohl ein Gutteil der “Gegenkultur” von Studenten und Gymnasiasten getragen wurde. Das Ende zerlief zwischen Kommerzialisierung und sektiererischem Individualismus, zwischen “linkem Hedonismus” und RAF, zwischen Institutionen und SPD.
Man liest die nüchterne Studie als “linker Melancholiker (Walter Benjamin”), vertieft sich in begleitende “Selbsthistorisierung”, versucht , den Anteil der “Bewegung” an der eigenen Selbstwerdung zu extrahieren. Aus der zeitlichen Distanz findet man viel, was man schon weiß oder gewusst hat, das man aber nur aus provinzieller Distanz “miterlebt” und diskutiert hatte und das sich doch mit dem eigenen Leben verwob. “ Es geschah viel in kurzer und im Rückblick noch strärker verkürzten Zeit .Mit dabei war ich nur beim Konzert von Jimi Hendrix am 15. Januar 1969 am revolutionären ,-) Ort, dem Kongressaal des Deutschen Museums in München.
Bei seiner “Tournee vom Januar 1969 wurde deutlicher als zuvor, wie sehr gerade die linke Szene von Hendrix fasziniert war. Wie die alten Bluesgrößen repräsentierte er aus ihrer Sicht die nichtkommerzielle Seite der Popmusik. Hendrix wirkte zugänglicher, spontaner und weniger arrogant als viele seiner (weißen) Kollegen, er schien unter der Kommerzialisierung seiner Musik zu leiden und sie durchbrechen zu wollen. Schon vor seinem Auftritt in Woodstock – bei dem er die amerikanische Nationalhymne instrumental zerlegte – galt Hendrix als politischer Künstler, der der weitverbreiteten Kritik am Vietnamkrieg einen zeitgemäßen musikalischen Ausdruck verlieh.
„Zwei Wunderdinge erschienen zu Beginn der Sechziger in der Welt: die Antibabypille und die Beatles“, schreibt Willi Winkler in der SZ und er lobt – in gewohnter Überhebung und in falschem Deutsch): „Die wahre Geschichte von 1968 haben nicht sie [Wolfgang Kraushaar und Götz Aly] geschrieben, sondern der Kulturwissenschaftler Detlef Siegfried.“
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Heinz Bude: Solidarität.
Die Zukunft einer großen Idee
“Manchmal muss man Begriffe in Frage stellen, um weiter etwas mit ihnen anfangen zu können”, beginnt Heinz Budes Vorwort. Um das zu tun, habe ich mir Budes Hilfe gekauft. Was Solidarität wusste ich natürlich schon vorher. Bude sieht auch “in unserer Gesellschaft” Bedarf an Solidarität und bilanziert die Situation “in einer Welt der Ungleichheit” im letzten Kapitel. “Es wird alles besser und schlechter zugleich. So könnte man die Entwicklung der globalen Ungleichheit in den letzten dreißig Jahren zusammenfassen.” (…) ”Das Kreuz des Augenblicks besteht darin, dass die Spaltungen und Verwerfungen den globalen Norden wie den globalen Süden heimsuchen. Im Norden hat die tiefe Spaltung zwischen jenen, die die Flüchtenden aus dem globalen Süden willkommen heißen, und jenen, die Mauern zum Schutz vor diesen Eindringlingen errichten wollen, ihren Grund in der Frage, wem die Zukunft gehört. Muss sich der globale Norden, der der Menschheit die Französische Revolution der gleichen Rechte für alle und eine englische der Erfindung einer Industrie zum Wohle aller gebracht hat, sich damit abfinden, dass seine Zeit vorbei ist und jetzt die Zeit der anderen beginnt, oder sollte er alle Kräfte aufbieten, um sich gegen die Anmaßung der Anderen, die ganze Welt in Besitz zu nehmen, zur Wehr zu setzen?”
Im größten Teil des Buches widmet sich Bude einer Vielzahl von Aspekten des Begriffs, leitet her und grenzt ab, referiert die Thesen der Wissenschaft(ler). Die Rede ist von christlicher “Barmherzigkeit” oder von revolutionärer “Brüderlichkeit”, von der sozial bestimmten “Nachbarschaft” in Stadt und vor allem Land, von Zusammenschlüssen zu Selbsthilfe wie beruflichen “Ständen” und “Gewerkschaften”, von staatlicher “Fürsorge”. Bude verbindet den Blick in die Geschichte mit dem ins “Heute”. Er fragt nach der Zukunftshaftigkeit des Begriffs “Proletarier” und den Bedingungen und Chancen internationaler Solidarität, nach den biologischen Wurzeln des Altruismus und dem Beitrag der Sozialisation, beleuchtet auch die “dunklen Seiten der Empathie” und registriert die Vereinzelung in Zeiten des Neoliberalismus.
Für Bruno Latour muss sich der Gedanke der Solidarität heute mit einer bestimmten, einigermaßen aggressiven Strategie des Überlebens auf unserem Globus auseinandersetzen, die dadurch gekennzeichnet ist, das eine gewichtige Fraktion der herrschenden Klasse weltweit zu der Auffassung gelangt ist, dass auf der einen zusammenwachsenden Welt ein mörderischer Kampf um die Plätze entbrannt ist, bei dem man sich nicht mehr darum kümmern kann, wie die anderen dran sind. »Wir zuerst« lautet die Parole, und der Rest muss schauen, wo er bleibt. Deshalb muss man auch nicht länger so tun, als sei das Bemühen der Weltpolitik darauf gerichtet, allen Menschen in gleichem Maße zu Wohlstand und Wohlfahrt zu verhelfen. Die herrschende Klasse will genau besehen auch gar nicht mehr führen, sie sucht wie alle anderen auch Schutz, allerdings glaubt sie im Unterschied zu den meisten anderen, dass Schutz für die Privilegierten und Begüterten nur außerhalb dieser Welt zu finden ist. Es gibt für diese tonangebende globale Klasse keine gemeinsame Welt mehr, die wir miteinander teilen.
Ein guter Überblick, um Linien zu verfolgen und Aspekte wieder in den Blick zu nehmen. Bude nennt seine ausführungen “Meditationen”, er appelliert nicht, dafür wäre sein Stil auch zu elaboriert, seine Sätze zu worthaltig, seine Begriffe zu präzise.
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Arno Gruen: Der Fremde in uns
Arno Gruen war Psychoanalytiker. „Der Fremde in uns“ ist die Entfremdung von einer eigenen Identität, die in der frühkindlichen Sozialisation ihre Wurzel hat.
Ausschlaggebend ist eine Erziehungssituation, die von unserer Kultur gefördert wird. Der Vater übernimmt in der Regel den strengen Part, weil er weitergibt, was ihm selbst angetan wurde. Er kann sich in dem ihm auferlegten Selbstwert nur bestätigt fühlen, wenn seine Kinder so sind, wie er selbst sein mußte. Die Mutter, die ihr Eigenes auch nicht erkennt, darf in dieser sie unterdrückenden Beziehungsstruktur ihre berechtigte Aggression nicht direkt, sondern nur indirekt oder unbewußt ausdrücken: indem sie den Vater insgeheim verachtet und sich selbst und den Kindern (vor allem Söhnen) gegenüber eine verwöhnende Haltung einnimmt.
Einer solchen Prägung kann der Mensch/der Mann nur schwer entkommen. Es entsteht eine innere Leere, die man durch die Identifikation mit dem Stärkeren, dem Aggressor, zu verdecken bzw, zu kompensieren versucht.
Diese Identifizierung führt nicht nur dazu, daß das Opfer sich mit dem Täter verbündet, sondern auch, daß es ihn idealisiert. In den Augen des Opfers beginnt der Täter Geborgenheit auszustrahlen. Gleichzeitig fängt das Opfer an, seinen Schmerz als Schwäche zu empfinden, weil der Täter diese Gefühle verbietet. Würde er diese Gefühle bei seinem Opfer wahrnehmen, müßte er sich schuldig fühlen. Das gilt es mit Gewalt zu verhindern. Doch der Schmerz und die daraus resultierende Wut existieren weiter in dem Opfer, nur richten sie sich jetzt gegen das Eigene, das nun als fremd erlebt wird. Es gehört zum normalen Anpassungsprozeß, diese Wut gegen das Fremde nach außen zu richten. Die Allgegenwart dieses Vorgangs ist bestimmend für den Verlauf unserer Geschichte.
Gruen findet für seine These(n) Fallbeispiele in seiner Praxis. Er überprüft die Erkenntnisse dann an Personen aus der Geschichte, die für Gewalt-täter stehen: Hitler vor allem, aber auch Hans Frank, Göring, Heß und andere NS-Problemmänner. Zur Bestätigung zieht er Untersuchungen an Massenmördern in der SS oder deutschen Kriegsgefangenen heran.
Indem Hitler den Menschen vermeintliche Feinde offerierte, bot er ihnen die Möglichkeit, den so verhaßten inneren Fremden nach außen zu verlagern, den Haß ohne Schuldgefühle zu entäußern und sich dadurch von der erdrückenden Last der Minderwertigkeit zu befreien. Das ist der Grund, warum Menschen nach Erlösung trachten, warum sie einen Führer brauchen, der kein wirklicher ist. (…) Das Ergebnis ist die oft lebenslange Suche nach Erlösung von der Minderwertigkeit, nicht von dem eigentlichen Schmerz, der dem Kind einst zugefügt wurde.
Gruen beruft sich auf Donald W Winnicott, der sich auch mit Persönlichkeitsstrukturen und Demokratie beschäftigte.
Mit einer solchen Entwicklung geht auch eine Angst vor der Frau einher, die ihre Ursachen in der tiefen Abhängigkeit des kleinen Kindes von der Mutter hat. Winnicott ist der Meinung, daß diese Angst vor der Frau die eigentliche Triebfeder dafür ist, daß viele Menschen andere beherrschen wollen. Das heißt: Manche Menschen entwickeln das Bedürfnis, ein Diktator zu sein, um auf diese Weise der Angst zu entkommen, von einer Frau beherrscht zu werden.
Konsequenzen aus den Analysen lassen sich auch für dem Umgang mit Menschen ohne eigene Identität ziehen:
Mit liebevoller Toleranz und verständnisvollem Entgegenkommen werden wir gewalttätige Rechtsradikale und Neo-Nazis nicht besänftigen können. Aus der Forschung mit geschändeten und mißhandelten Kindern ist bekannt, daß diese auf liebevolles Entgegenkommen mit Haß und Gewalt reagieren. Durch ihre Idealisierung derer, die Gewalt ausüben, werden Liebe und Wärme zu etwas, das inneren Terror auslöst. Die Verachtung des Liebevollen ist eine Abwehrreaktion. Diese Abwehr von Zärtlichkeit zeigte sich auch im Verhalten der Nazis, die Dicks untersucht hatte.
Liebe und Wärme werden mit Verachtung bestraft. Sozial engagierte Menschen, die Gewalttätigen und Rechtsradikalen «verständnisvoll» beizukommen versuchen, werden nicht nur enttäuscht. Sie müssen auch damit rechnen, zusammengeschlagen zu werden. Haß und Gewalt sind jedoch auch nicht die geeigneten Gegenmittel. Im Umgang mit haßerfüllten Menschen gilt es vor allem, konsequent zu sein. Das heißt: Grenzen setzen! Das ist die einzige Sprache, die Menschen ohne innere Identität verstehen. Wer ihnen helfen möchte, braucht eine innere Autorität. Er muß die Gewißheit haben, daß Gewalt und Haß menschenunwürdig sind.
Die wirkliche Lösung bestünde jedoch in dem Bemühen, dem Drang nach Größe und Besitz Einhalt zu gebieten und Menschen statt dessen zu ihren wahren Möglichkeiten zurückzuführen, die mit Liebe, Zuwendung, Nähe und Zugang zum Schmerz in Zusammenhang stehen. Das ist weder ein einfaches noch ein schnell realisierbares Unterfangen. Es ist aber das einzige, das dem fatalen Kreislauf ein Ende bereiten und einen gesellschaftlichen Zusammenbruch verhindern kann. Nur so können wir die Spaltung unseres Seins, die zur Entfremdung und zur Jagd nach Opfern führt, aufheben. Im Prinzip gibt es nur zwei Welten – die des Lebens und die, die sich Zerstörung und Tod verschrieben hat.
„Der Fremde in uns“ ist 2002 erschienen doch, folgt man den Thesen, natürlich immer gültig, weil die Prozesse „Grundlage aller sogenannten Hochkulturen“ sind. Die Grabungen der Psychoanalyse sind freilich ebenfalls von historischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Positionen bestimmt. Ökonomische Unterbauten sind nicht Thema der Veröffentlichung.
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Theodor W. Adorno:
Aspekte des neuen Rechtsradikalismus
Der Titel ist kein Fake, aber Täuschung! Wir wissen nicht weiter, deshalb HILF! St. Adorno steh auf, steh uns bei! Schnapphoffnung. – Das Büchlein ist die – erstmalige – Verschriftlichung eines Vortrags von Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1967. Der „neue“ Rechtsradikalismus nannte sich damals NPD.
Aufschlussreich ist der Text aber auch nach 50 Jahren noch, denn verändert haben sich Name und technische Mittel, nicht aber Strukturen und Voraussetzungen rechter Propaganda und Politik. Adorno beschäftigt sich mit seiner (und Horkheimers) Analyse der „autoritätsgebundenen Persönlichkeit“, dem „pathischen Nationalismus“.
Außer den Kleinbürgern spielen sicher eine hervorragende Rolle die Bauern, die sich ja in einer permanenten Krise befinden, und ich würde denken, daß solange, wie es nicht wirklich gelingt, das Agrarproblem auf eine radikale, nämlich nicht subventionistische und künstliche und in sich wieder problematische Weise zu lösen, solange man nicht wirklich zu einer vernünftigen und rationalen Kollektivierung der Landwirtschaft gelangt, daß dieser schwelende Herd dauernd bestehen bleibt.
Darüber hinaus gibt es aber auch in diesen Bewegungen insgesamt so etwas wie einen sich verschärfenden Gegensatz der Provinz gegen die Stadt.
Er konstatiert eine überkommene Geistfeindschaft und eine Fixierung Auf die „Mittel“ und deren Perfektionierung im Vergleich zur Hohlheit von Inhalten. Weil diese Bewegungen, die ja, wie ich sagte, prinzipiell überhaupt nur Machttechniken sind und keineswegs von einer durchgebildeten Theorie ausgehen, weil die ohnmächtig sind gegen den Geist, wenden sie sich gegen die Träger des Geistes.
Das Charakteristische für diese Bewegungen ist vielmehr eine außerordentliche Perfektion der Mittel, nämlich in erster Linie der propagandistischen Mittel in einem weitesten Sinn, kombiniert mit Blindheit, ja Abstrusität der Zwecke, die dabei verfolgt werden. Und ich glaube, daß gerade diese Konstellation von rationalen Mitteln und irrationalen Zwekken, wenn ich’s einmal so abgekürzt ausdrücken soll, in gewisser Weise der zivilisatorischen Gesamttendenz entspricht, die ja überhaupt auf eine solche Perfektion der Techniken und Mittel hinausläuft, während der gesamtgesellschaftliche Zweck dabei eigentlich unter den Tisch fällt. Die Propaganda ist vor allem darin genial, daß sie bei diesen Parteien und diesen Bewegungen die Differenz, die fraglose Differenz zwischen den realen Interessen und den vorgespiegelten falschen Zielen ausgleicht. Sie ist wie einst bei den Nazis geradezu die Substanz der Sache selbst. Wenn Mittel in wachsendem Maß für Zwecke substituiert werden, so kann man beinahe sagen, daß in diesen rechtsradikalen Bewegungen die Propaganda ihrerseits die Substanz der Politik ausmacht.
Als Voraussetzung des anwachsenden Rechtsradikalimus weist er aber auch auf die „Konzentration des Kapitals“ und die Prekarität der Arbeit im „Zeitalter der Automatisierung“ hin. Für Adorno swohl elbstverständlich und nicht prophetisch, heute aber gern unbedacht und vom Neoliberalismus in die Ecke geschoben.
Wie nicht anders zu erwarten, hat auch Adorno nicht das Zaubermittel, er ist Analytiker, kein Wunderheiler. Immerhin gibt er Ratschläge, die man aber aufnehmen und auf die Situation 2020 übertragen können müsste und sollte. Vielleicht beteiligen sich heute zu viele „Heiler“ am Diskurs, die in ihrer Gesamtheit eher konfuse als profunde Lösungen andenken.
Ich glaube, die »Hush-Hush«-Taktik, also die Taktik, diese Dinge totzuschweigen, hat sich nie bewährt, und es ist sicher heute bereits diese Entwicklung viel zu weit gegangen, als daß man damit noch durchkäme. Daß man nicht moralisieren, sondern an die realen Interessen appellieren soll, habe ich Ihnen bereits gesagt.
Ein weiteres Moment ist die Wendung nach innen. Das heißt, daß man in der Abwehr versucht, bewußtzumachen, daß dieser ganze Komplex der autoritätsgebundenen Persönlichkeit und der rechtsradikalen Ideologie in Wirklichkeit seine Substanz gar nicht an den designierten Feinden hat, gar nicht an denen hat, gegen die man dabei tobt, sondern daß es sich dabei um projektive Momente handelt, also daß die eigentlichen Subjekte einer Studie, die, die man zu begreifen und zu verändern hätte, die Rechtsradikalen sind und nicht die, gegen die sie ihren Haß mobilisiert haben. Nun, meine Damen und Herren, ich bin nicht so naiv zu glauben, daß man mit dieser Wendung nach innen unmittelbar bei den Menschen, um die es sich handelt, sehr viel erreichen könnte, denn es gehört – ich kann das jetzt nicht mehr im einzelnen Ihnen auseinandersetzen, warum -, es gehört zu diesem Syndrom wesentlich dazu, daß diese autoritätsgebundenen Charaktere unansprechbar sind, daß sie nichts an sich herankommen lassen.
Aber nun nicht Lüge gegen Lüge setzen, nicht versuchen, genauso schlau zu sein wie er, sondern nun wirklich mit einer durchschlagenden Kraft der Vernunft, mit der wirklich unideologischen Wahrheit dem entgegenarbeiten.
Volker Weiß („Die autoritäre Revolte“) vermittelt in seinem ausführlichen Nachwort Adornos Gedanken mit der Gegenwart. Sehr interessant.
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Julia Ebner: Wut.
Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen
Julia Ebners zentrale These: Islamisten und Rechtsextreme sind aufeinander fixiert, ja angewiesen. Sie ähneln sich in ihren hierarchischen Strukturen, in ihrem „Schwarz-Weiß-Denken“, ihrer Nutzung von Medien, in ihren Anschlägen. Julia Ebner hat für „die weltweit erste Organisation zur Prävention von Extremismus Quilliam hearbeitet“, jetzt ist sie als Extremismus- und Terrorismusforscherin beim Institute for Strategic Dialogue (ISD) tätig.
In diesen Funktionen und der Arbeit zum Buch „Wut“ (im englischen Original: The Rage) hat sie eine Fülle von Material zusammengetragen, die formale Gemeinsamkeiten und wechselseitige Überlagerungen stützen. Sie wertet Verlautbarungen, Media-Kanäle, Anschläge aus und nutzt auch ein weiteres Mittel zu Beleg und Unmittelbarkeit der Informationen: persönliche Gespräche, nicht nur mit Wissenschaftlern. „Wir wollen nicht die Ersten sein, wir wollen recht haben“`, erzählt Charlie mir bei einem Kaffee auf dem Campus der LSE, wo seine Denkfabrik ihren Sitz hat. „Blödsinn.“ Er seufzt. „ – „Was empfindest du, wenn du solche Artikel siehst?“, frage ich Mohammed, einen in London wohnhaften 22-jährigen muslimischen Geschichtsstudenten.” – „Wenn eher ein Klima der Feindseligkeit und Gewalt herrscht, ist eine Reaktion islamistischer Extremisten wahrscheinlicher“, sagte mir Richard Barrett, der frühere Leiter der Global Counter Terrorism Operations für den britischen Auslandsgeheimdienst SIS (Secret Intelligence Service) bei einer heißen Schokolade in Victoria. (…) Für Richard ist wechselseitige Radikalisierung oft das Ergebnis einer„ Reaktion auf die Wahrnehmung, nicht auf die Realität„.
Man muss nicht alles lesen, um Ebner Resümee für plausibel zu halten. Die Kapitel sind auch nicht immer deutlich abgrenzbar, zudem dauert es bis Seite 37, ehe das Kapitel 1 startet. In den einzelnen Bereichen werden jeweils die islamistischen und die rechtsextremen Strukturen behandelt. Also: Die neue islamistische/rechtsextreme „Welle“, islamistische/rechtsextreme Identitätspolitik, jeweilige Propaganda- und Medien-Blase, jeweilige geographische „Hochburgen“ in GB/F/D/USA.
Aus Geschichten können im Lauf der Zeit durch Wiederholung ihrer Muster Narrative werden und aus Narrativen Metanarrative. Ein Metanarrativ kann man auch als große Geschichte bezeichnen, die hilft, den oftmals tief in einer Kultur verankerten Kosmos der kleinen Geschichten zu verstehen. So fing etwa der globale „Krieg gegen den Terror“ als eine Serie zusammenhängender Ereignisse an, verwandelte sich aber bald in ein Narrativ vom „Westen, der sich im Krieg mit dem Islam befindet“, das von islamistischen Extremisten instrumentalisiert wurde, indem sie es mit einem Metanarrativ von den Kreuzfahrern und vom Endzeitmythos verknüpften.
Umfassende Erklärungen sind nicht das Hauptthema von Julia Ebners Schreiben. Es geht um die Frage, WAS die Extremisten machen (und wie), nicht so sehr um das Warum.
In einem Zeitalter, wo sogar Menschen ohne Zugang zu sauberem Wasser Zugang zu Mobiltelefonen haben, können die Armen den Bildern auf Facebook und Instagram, die das beneidenswerte Leben der Reichen zeigen, nicht entkommen.
Empfundene sozioökonomische Ungerechtigkeit ist eine entscheidende Triebkraft für Identitätspolitik und Radikalisierung. Die Marginalisierung der Mehrheiten – sowohl regional als auch international – hat zum Aufstieg des IS und der Popularität islamistischer Organisationen im Nahen Osten, in der Golf-Region und darüber hinaus beigetragen. Aber sie hat auch unsere westlichen Gesellschaften anfälliger für Radikalisierung und politische Gewalt gemacht. Im Lauf der vergangenen 140 Jahre konnten rechtsextreme Parteien ihren Stimmenanteil nach einer Finanzkrise jedes Mal im Schnitt um 30 Prozent erhöhen.“ Die „Empörten“, die feststellten, dass ihre Straßenproteste nichts änderten, mussten radikalere Wege finden, um ihre Unzufriedenheit mit dem Status quo zu zeigen. Indem sie ihre liberalen, demokratischen Heimatländer für etwas verließen, das sie für eine bessere Welt hielten, beispielsweise das Pseudo-Kalifat des IS. Oder indem sie für jene an den Rändern des politischen Spektrums stimmten, die behaupten, die Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren. Extremisten haben die Lücken gefüllt, wo staatliche Institutionen scheiterten.
Die unterschiedlichsten Wege führen in den Extremismus, aber es gibt klare Anfälligkeitsmuster. Ein Charakteristikum, das Menschen gemeinsam haben, die sich extremistischen Gruppen anschließen, ist Perspektivlosigkeit. Nur Hoffnungslosigkeit ist schlimmer als Vertrauensverlust. „Er dachte, er hätte nichts zu verlieren. Für ihn gab es keine Perspektiven. Ich hätte aufmerksamer zuhören sollen, was er sagte, aber wie hätte ich es wissen sollen?“, erinnert sich die Mutter eines ausländischen Kämpfers, der 2014 nach Syrien ging. Es ist wie beim Roulettespiel: faites vos jeux. Junge Menschen setzten nicht mehr auf untätige Politiker und korrupte Eliten.
In einer solchen Atmosphäre, wenn Gesellschaften Menschen keine sinnvollen Orientierungspunkte mehr zur Ausbildung einer Identität bieten können, gedeihen extremistische Gruppen.
Bis heute benutzen [Extremisten] den Verweis auf kollektive Traumata ganzer ethnischer, kultureller oder religiöser Gemeinschaften, um deren kollektive Identität zu stärken und sie an ihre gemeinsame Pflicht zur Verteidigung ihrer Länder zu erinnern.
Ebners Anmerkungen zu den Gründen sind zielführend, aber doch eher knapp – und so bleiben auch ihre Antworten auf das Wie-Weiter allgemein: „“Den Teufelskreis durchbrechen“. „Wir mögen in ein neues „Zeitalter der Wut“ eingetreten sein, aber Geschichte verläuft nicht linear. Wir können immer umkehren und eine andere Richtung einschlagen. Wir sind es, die die Narrative unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägen. Glauben wir daher an unsere Fähigkeit, einen positiven Wandel herbeizuführen. Unser einziger wirklicher Feind ist der Hass; unsere beste Waffe ist Solidarität. Hören wir also zu und lernen wir statt zu verbieten und Bomben zu werfen. Verschließen wir niemandem die Tür; bleiben wir stattdessen offen für Dialog und Debatte mit allen. Was den Humanisten vom Antihumanisten unterscheidet, ist, dass Ersterer jedem – auch der Person, die er oder sie am meisten hasst – eine zweite Chance geben würde.
Die Arbeiten von Julia Ebner und ihrer Kolleg*innen sind ein Baustein zu einer Befriedung der Welt. Aber sie laufen den Radikalisierungen, der WUT imer hinterher und können nicht die Ursachen des Terrors beseitigen.
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Jörg Kronauer:
Meinst du, die Russen wollen Krieg ? – Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg
Jörg Kronauer hat sich ein umspannendes Archiv angelegt, aus dem er seine Aussagen mit links blegen kann. Viele Zahlen und kryptische Kürzel (HQ MNC-NE, CANVAS) bezeugen Handelsströme und Wirtschaftsinteressen, die Schwerpunkte der Kapitel über deutsche und US-Russlandpolitik. Zentral geht es dem Westen um Rohstoffe und Energie. Kronauer greift weit in die Geschichte zurück, zeigt das Auf und Ab und die Kontinuitäten. Der Ukraine-Konflikt steht jeweils am Ende, ist aber nicht so solitär wie heute oft gesehen.
In der russischen West-Politik sei Russland zunächst „Auf der Suche nach Bündnissen“ gewesen, aber von den Westmächten, der NATO und der EU brüsk abgewiesen worden und habe in der Ära der „Eigenständigkeit“ Bündnispartner in Asien oder auch im Nahen Osten gesucht.
Im abschließenden Kapitel „Der neue Kalte Krieg“ wird Kronauer unverblümter und ideologischer. Er hält dem Westen „Spaltungsaktivitäten“ beim Zerfall der Sowjetunion vor, Einmischungen bei der Abkehr von Russland („Farbrevolutionen in Georgien und der Ukraine), „Formierung der Opposition“: „Wie war das, als auf dem Kiewer Maidan die Proteste tobten und auch deutsche Experten einräumten, gut ein Drittel der Demonstranten stehe der faschistischen Partei Swoboda zumindest nahe oder sei gar für sie aktiv? Damals waren nicht nur zahllose anfeuernde Stellungnahmen deutscher Politiker zu hören; Außenminister Guido Westerwelle nutzte einen Aufenthalt in Kiew am 4. Dezember 2013 sogar, um sich in einem Akt demonstrativer Sympathiebekundung persönlich in die Menge auf dem Maidan zwischen Liberale und Faschisten zu mischen. Lawrow blieb mit seiner empörenden Verbalintervention zugunsten der brodelnden rassistischen Menge immer noch unterhalb des von Westerwelle gewählten Eskalationsniveaus.” Dazu kommen Sanktionen und – weiter aktuell: die Ausdehnung der NATO bis hin zu Manövern im Baltikum an Russlands Grenze (“Die Lücke von Suwalki”). “Russlands Gegenschlag” sei “Mit gleicher Münze” erfolgt, eine “Kopie deutscher Polit-Praktiken”.
Jörg Kronauers Bücher sind Gegenentwürfe und als solche wichtige Ergänzungen und Korrektive zur splitterigen Darstellung in westlichen Medien. Zeitungsartikel können hier eingeordnet werden, was die eigene Meinungsbildung unterstützt.
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Fatma Aydemir und
Hengameh Yaghoobifarah:
Eure Heimat ist unser Albtraum
Migration ist immer ein Versprechen auf ein besseres Leben, einen German Dream. Der German Dream meiner Großeltern war, etwas Geld zur Seite zu legen und damit in der Türkei ein Stück Land zu kaufen. Der German Dream meiner Eltern war, ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen und ein großes deutsches Auto zu fahren. Und was ist meiner? Ganz einfach: Ich will den Deutschen ihre Arbeit wegnehmen. Ich will nicht die Jobs, die für mich vorgesehen sind, sondern die, die sie für sich reservieren wollen – mit der gleichen Bezahlung, den gleichen Konditionen und den gleichen Aufstiegschancen. Mein German Dream ist, dass wir uns alle endlich das nehmen können, was uns zusteht – und zwar ohne dass wir daran zugrunde gehen. Rest in Power, Semra Ertan.
Fatma Aydemir beschäftigt sich mit den anderen 13 Autor_innen des Sammelbandes „Eure Heimat ist unser Albtraum“ mit der Frage, was vom „weißen Blick“ der „Bio-Deutschen“ zu halten ist, die sich ihre „Heimat“ frei von als fremd markierten Personen halten wollen. Wer nicht „deutsch“ aussieht, also dunklere Haut, und schwarze Haare hat oder auch nur einen nichtdeutsch klingenden Namen, wird ausgegrenzt. Er/Sie fühlt sich ständig begafft und wird befragt, woher er/sie denn kommt. Es reicht nicht, in Deutschland geboren zu sein, auch wenn seit 2004/2014 auch in Deutschland ein jus soli gilt.
Die Autor_innen fordern das gleiche Recht ein. Sie wollen sich nicht mehr für ihre „Herkunft“, ihren „Migrationshintergrund“, ihre Religion rechtfertigen müssen, sie wollen „Teil einer Gesellschaft sein, in der jedes Individuum, ob Schwarz und/oder jüdisch und/oder muslimisch und/oder Frau und/oder queer und / oder nicht-binär und / oder arm und / oder mit Behinderung gleichberechtigt ist“.
Sasha Marianna Salzmann schreibt über „Sichtbarkeit“, Fatma Aydemir (Zitat oben) über „Vertrauen“, Sharon Dodua Otoo über „Liebe“. Hengameh Yaghoobifarah sieht sich „Blicken“ ausgesetzt. Vina Yun rühmt das koreanische „Essen“, Reyhan Şahin plädiert für unkontrollierten „Sex“. Margarete Stokowski denkt über „Sprache“ nach. Manche der Texte bieten profunde Informationen, etwa Mithu Sanyal über das „Zuhause“. Sie befasst sich mit verschiedenen Begriffen von „Heimat“ und resümiert: „Die entscheidende Frage lautet also nicht »Wo kommst du her?«, sondern »Wo wollen wir zusammen hin?«!“
Viele Texte erschöpfen sich in der subjektiven Betroffenheit. Etwa Hengameh Yaghoobifarah in ihrer – berechtigten – Klage über den „white gaze“: „Meine Ästhetik ist vieles: Sie ist camp, sie ist queer, sie ist femme, sie ist das beliebte Kind aus der Mittelstufe im Jahr 2003 und gleichzeitig die Außenseiterin von 2007. Aber crazy? Für ein Kloster-Retreat vielleicht. Aber nicht für eine europäische Großstadt, wo es Menschen gibt,, die in Clownskostümen oder als Kupferstatuen geschminkt unterwegs sind. »Zwischen all denJunggesell_innenabschieden bin ich fast schon eine graue Maus!«, protestiere ich. Ich trage nun wirklich nichts, was sonst niemand anhat. Dennoch gehören Situationen, in denen ich von Umstehenden angestarrt oder ohne mein Einverständnis fotografiert werde, mittlerweile zu meinem Alltag. Ich werde als »anders« wahrgenommen, als »fremd«. Aus welchem Grund, weiß ich nie genau. Hängt es damit zusammen, dass ich dick bin? Dass ich queer bin? Dass ich Kanak_in bin? Oder liegt es wirklich an meinem Style? Vielleicht ist es auch alles zusammen. Vielleicht ist ein_e dicker, queere_r Kanak_in mit einem Bombenoutfit zu viel Schock für Annika. Aber sind diese Zuschreibungen überhaupt alle auf den ersten Blick ersichtlich?”
Wenige Text sparen sich Tiefgang und bilden sich etwas darauf ein, dass die Autor_innen nicht Steffi, Sebastian oder Nadine heißen: “In der Grundschule wurde schnell klar, dass er anders war. Anders als die Michaels, Christians und Julias. Nicht weil er sich so fühlte, sondern weil sie ihn jedes Mal darauf aufmerksam machten. Sie gaben ihm den Spitznamen »Spaghettifresser«. (…) Er weiß nicht, was genau das Thema ist, kann es sich aber schon denken.” Enrico Ippolito erkennt seine Schludereien und kreidet sie auch sich selbst an. Im Autor_innenverzeichnis lese ich ,dass er seit 2015 das Kulturreferat von Spiegel-Online leitet. Da passt er hin. Max Czollek fasst seine Forderung: “Desintegriert euch!” zusammen.
Im letzten Beitrag wird Simone Dede Ayivi versöhnlich:
Ich glaube nicht an Heimat. Ich glaube an Heimaten. Das können besondere Orte sein, denen wir uns ewig verbunden fühlen, egal, wie weit wir weg sind, und egal, wie lange wir schon nicht mehr dort waren. Doch meistens sind es Menschen, die uns vertraut sind und denen wir vertrauen.
Zu Hause ist, wo ihr seid.
Das Buch versteht sich als “Manifest” und ist wichtig im Zusammenhang der Debatte um Integration. Es wird nichts ändern, denn so einfach ist die Sache mit Vaterland und Muttersprache nicht. Ein Viertel der Menschen in Deutschland hat (2018) einen “Migrationshintergrund”.
Ich habe als alter weißer Mann wenig persönliche Erfahrungen mit latentem oder aggressivem Rassismus. Beim Lesen habe ich mich ertappt, wie ich bei einzelnen Beiträgen nach dem Übersetzer/der Übersetzerin gesucht habe. Es wird auch noch dauern, bis man ohne Nachschauen weiß, ob man es mit Verfasser oder Verfasserin zu tun hat, viele Vornamen sind in Deutschland nicht geläufig.
Schriftstellerin, Theaterautorin und Kolumnistin Jagoda Marinic wendet sich in der SZ gegen das Ausblenden der Frage nach der Herkunft, wie es die Autor_innen fordern.
Dieser Wunsch vieler Menschen mit hybriden Biografien, endlich in Ruhe gelassen zu werden mit der Frage, woher sie kommen, ist eine ungewollte Absage an die Vielfalt in sich selbst und somit an die Vielfalt dieser Einwanderungsgesellschaft. Es ist seltsam, einerseits Vielfalt zu fordern, doch andererseits von der Vielfalt im eigenen Leben nicht mehr erzählen zu wollen.
Natürlich, es wäre eine einfache Regel für die Einwanderungsgesellschaft: „Verhalte dich bitte so, als ob die Eltern deines Gegenübers nicht eingewandert wären!“ Ein solcher Imperativ kann den zwischenmenschlichen Umgang nur belasten. Verneinung und Verunsicherung. Es geht nicht darum, sich festschreiben zu lassen auf die eigene Herkunft, es geht darum, dass nur durch ein Geschichtsbewusstsein der Nachfahren von Eingewanderten für die eigenen Biografien Deutschland lernen kann, wie sehr es längst Einwanderungsland ist.
„Geschichte ist wichtig. Wenn du nichts über Geschichte weißt, dann ist es, als wärst du erst gestern geboren worden.“ Das ist ein großartiger Satz des Historikers Howard Zinn. Er begründet diesen Satz damit, dass nur der Geschichtsbewusste den Mächtigen die Stirn zu bieten weiß. Es gibt viel zu tun in diesem Einwanderungsland. Wenn die Kinder der Nachfahren nicht anfangen, die Vielfalt stärker statt weniger einzubringen, helfen sie ungewollt jenen, die sich gegen Vielfalt aussprechen. Man muss diese Geschichten ans Licht bringen. Sie sind nicht die Abweichung von der Norm. Sie werden immer mehr zur Regel. Menschen haben mehr als eine Herkunft. Sie haben mehr als einen Ort, an dem sie Einheimische sind.
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Fabian Scheidler: Chaos.
Das neue Zeitalter der Revolutionen
Es geht ums Ganze und seine Teile. Fabian Scheidler stellt in Zeiten „wachsender Unübersichtlichkeit“ eine Diagnose des „Zeitalters“ und macht Vorschläge zur Therapie, „die sich insbesondere auf die ökonomischen Tiefenstrukturen beziehen“. Nicht Arbeit an Symptomen ist sein Anliegen, sondern das Freilegen der „Aspekte der systemischen Krisen und der neuen »tödlichen Ordnungen«”. In einem 16-Punkte-Programm skizziert er Möglichkeiten des Ausstiegs aus der “Megamaschine” („Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ ist Scheidlers vorhergehemdes Buch.)
Thematisert werden u.a. “Verbindungen von weltwirtschaftlicher Krise, ökologischem Kollaps und geopolitischem Umbruch”, “Methoden, diese Realitäten nicht zur Kenntnis zu nehmen, von der rituellen Selbstbestätigung bis hin zu Eskapismus und paranoischen Phantasien”. Er “beleuchtet die Ursachen für die Dauerkrise der kapitalistischen Ökonomie, insbesondere den Niedergang der regulären Lohnarbeit und die Dynamik von Schulden und Crashs. Die Versuche, Privilegien und Macht der bisherigen Profiteure in der systemischen Krise aufrechtzuerhalten, behandelt das Kapitel »Tribut«. Das abschließende Kapitel des ersten Teils widmet sich dem »Zerfall komplexer Gesellschaften«.
Dieses System führt in eine Welt, in der die Menschen immer härter dafür arbeiten, die Welt immer schneller in den Abgrund zu wirtschaften, und am Ende, nach vollendetem Zerstörungswerk, selbst ausgebrannt zurückbleiben. Das Bruttoinlandsprodukt, das ausschließlich Geldströme misst und in praktisch allen Ländern als wichtigste Kenngröße gilt, ist dafür ein Symbol.
Eine andere Ökonomie, die mit diesem Raubbau bricht, muss daher das Ganze unseres Zusammenlebens und Wirtschaftens in den Blick nehmen und nicht nur das, was immer wieder verkürzend als »Wirtschaft« bezeichnet wird. In einer solchen Perspektive geht es nicht nur um »Verteilungsgerechtigkeit«, also um die Anteile aus dem durch Lohnarbeit erwirtschafteten Kuchen, sondern auch darum, was überhaupt getan wird, wie es getan wird, wer es tut und zu welchem Zweck.
Schon vor gut 2300 Jahren, als die Geldwirtschaft in Griechenland erstmals das ganze Leben durchdrang, unterschied der Philosoph Aristoteles scharf zwischen Ökonomik (der Haushaltskunst) und Chrematistik (der Kunst, Geld zu vermehren). Unter Ökonomik verstand er eine Form des Wirtschaftens, die der Bedarfsdeckung dient, während Chrematistik darauf abzielt, endlos abstrakte Reichtümer in Form von Geld anzuhäufen.‘,‘ In dieser Perspektive ist ein großer Teil unserer Wirtschaft heute gar keine Ökonomie, sondern lediglich Chrematistik. Denn sie dient ausschließlich dazu, aus Geld mehr Geld zu machen, und zwar um jeden Preis.
Die herkömmliche, klassisch-liberale Wirtschaftstheorie behauptet, Bedarfsdeckung und Gemeinwohl würden wie von Geisterhand erreicht, wenn alle Akteure ihre Anstrengungen auf die private Geldvermehrung konzentrieren, geleitet von ein paar einfachen Regeln. Mit anderen Worten: Die Chrematistik produziere wie von selbst eine gesunde Ökonomie und Wohlstand für alle. Diese Theorie darf man nach 50o Jahren real existierendem Kapitalismus und 2300 Jahre nach Aristoteles getrost als widerlegt betrachten und auf dem Friedhof schlechter Ideen begraben. Von der Unbrauchbarkeit der chrematistischen Ideologie zeugen die beispiellosen Verwüstungen der natürlichen Reichtümer des Planeten, die immer massiveren Finanzkrisen und die Tatsache, dass alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt, obwohl mehr als genug Nahrungsmittel weltweit produziert werden.
Der zweite Teil des Buches befasst sich mit Perspektiven einer gesellschaftlichen Reorganisation. »Vom Großen und Kleinen« widmet sich den Voraussetzungen gesellschaftlichen Wandels in den zwischenmenschlichen Beziehungen. »Wege zu einer zukunftsfähigen Ökonomie« erkundet Pfade zu einem Umbau wirtschaftlicher Institutionen: von den Eigentumsverhältnissen über die Rechtsformen von Unternehmen, die Rolle von Markt, Geld und Schulden bis zur Wachstumsfrage und den Handelsstrukturen. Welche Türhüter in unseren politischen und medialen Institutionen, aber auch in unseren Köpfen, den nötigen Wandel behindern, und wie sie zu überwinden sind, thematisiert das Kapitel »Die Gatekeeper«.
Schließlich wirft Scheidler einen Blick auf “die Entwicklung von Chinas »nicht-kapitalistischer Marktwirtschaft« nach, ihre Zerstörung in der Epoche der Kolonialisierung und den Wiederaufstieg Chinas seit 1949, Von zentraler Bedeutung sind dabei die Chancen für eine neue globale Friedensordnung, die sich aus Chinas besonderer Geschichte ergeben.”
„Fabian Scheidler gelingt es, die unglaubliche Faktenfülle mit enormer Leichtigkeit zu vermitteln. Ich kann das Buch jedem unbedingt weiterempfehlen.“
Erwin Wagenhofer, Filmemacher („We Feed the World“, „Let’s Make Money“, „Alphabet“)
Ein wichtiger Text zur aufflammenden Diskussion über die immer drängender werdende Wende des tödlichen Systems des Wirtschaftens und Denkens.
Texte, Videos, Interviews und das Inhaltsverzeichnis auf der Webseite
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Geoffroy de Lagasnerie:
Denken in einer schlechten Welt
Die These von Lagasnerie: Wissen muss oppositionell sein zur bestehenden schlechten Welt und engagiert für eine gute Welt, zumindest eine bessere. Er lehnt die These an die kritische Theorie von Horkheimer (und Adorno) an und beruft sich auch auf Foucault und Bourdieu.
Die Fragen müssen radikal gestellt werden. Wer sich dabei auf die Seite der Ethik stellt, tritt für die Verbesserungsfähigkeit ein: Die Frage nach der Möglichkeit, es besser und anders zu machen, muss immer wieder aufgeworfen und der Anspruch, über andere Arten der Produktion, Veröffentlichung und Verbreitung von Wissen nachzudenken, muss am Leben gehalten werden. (…)
Die Fragen »Was ist Philosophie?« und »Welcher Methode sollen die Sozialwissenschaften folgen?« ergeben keinerlei Sinn. Mit solchen Problemstellungen und Formulierungen gilt es zu brechen, um die Fragen anders zu stellen. Zu fragen ist immer: »Was ist Philosophie in einer schlechten Welt?«, oder besser noch: »Wie praktiziert man Sozialwissenschaften in dieser Welt, in diesem Moment?«
Soweit, so einleuchtend. Wissenschaft muss an die Wurzeln gehen, darf sich nicht auf Einzelaspekte konzentrieren, sondern muss auf Totalität aus sein. Nicht sich kritisch mit dem Bestehenden auseinandersetzen, sondern immer zum “System” vorstoßen. Auch müsse das Denken die Fachgrenzen hinter sich lassen.
Die Kategorie des »Engagements« oder des »engagierten Intellektuellen« begründet ein Verständnis, nach dem Interventionen im Verhältnis zu einer »Neutralität« definiert werden, die als die eigentlich normale und selbstverständliche Haltung gilt. Wenn aber Schreiben grundsätzlich bedeutet, sich zu engagieren, dann ist in Wirklichkeit das Engagement die normale Haltung, der Bezugspunkt, und das Streben nach Neutralität definiert sich im Verhältnis zu ihr. Das System »Neutralität«/»Engagement« ist folglich durch das System »Engagement«/»Ablehnung von Engagement« oder sogar »Wahrhaftigkeit«/»Leugnung« zu ersetzen.
Lagasneries Forderung klingt verlockend, sie impliziert aber, dass das systemtranszendierende Denken die Wahrheit denkt, sie aus dem Denken entwickelt, dass sich die Wahrheit aus dem Denken ergibt.
Die Sozialwissenschaft, wie ich sie verstehe, stellt ein unmittelbar oppositionelles Wissen dar. Sie definiert sich als Infragestellung von Ideologien, Institutionen und gesellschaftlichen Rahmenstrukturen. Die soziale Welt zu objektivieren hegt das zu objektivieren, was in ihr nicht in Ordnung ist, sowie die Gründe dafür. Wissen hegt, die Missstände in der Gesellschaft aufzudecken, ihre Probleme und ihre Falschheit. Es bedeutet, Institutionen, ihre Schattenseiten und Grausamkeiten anzugreifen. Die Objektivierung des Marktes bedeutet für Marx zu zeigen, wie der vermeintlich freie Tausch zwischen Gleichen in Wirklichkeit ein Ausbeutungsverhältnis konstituiert. Die soziologische Untersuchung des Bildungssystems läuft auf eine Kritik an der Ideologie der Begabung und den Nachweis hinaus, wie die sogenannte Meritokratie eine gigantische Maschine der sozialen Reproduktion und ihrer Legitimierung darstellt.
Lagasneries großes Problem ist, dass er nicht nur als Soziologe denkt, sondern als Philosoph. Philosophen aber zerdenken gerne. Lagasneries These windet sich in Philosophenidiom durch das dünne Buch, bis man ins Zweifeln kommt: an Lagasneries These. Ist die “schlechte Welt” doch nicht bloß eine Setzung. Wenn man immer wieder das gleiche sagt, will man vor allem sich selbt überzeugen. Higgelti Piggelti Pop!
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Eric Hobsbawm:
Nationen und Nationalismus.
Mythos und Realität seit 1780
Nation – Staat – Volk – Sprache – Kultur – Ethnie – Vaterland – Patriotismus – Nationalismus. Man muss ordentlich aufpassen bei der Unterscheidung und dem Zusammenspiel der Begriffe, die Eric Hobsbawm für seine Monografie des Nationalismus einsetzt. Vor allem die Alltagsgleichsetzung von Staat und Nation (Vereinte Nationen!) führt zu Problemen. Hobsbawm befragt die Entwicklungen auf ihre soziale Komponente, welche Gruppe/Klasse der Gesellschaft sieht einen Nutzen in der Subsumtion der territorial verhafteten Menschen unter dem Rubrum „Nation“.
Für die „einfachen“ Menschen, Bauern, Handwerker etc., sei ei es nie nötig/zwingend gewesen, sich als Angehörige einer „Nation“ zu definieren, erst die „Moderne“ habe sich zur Vereinheitlichung von Bildung und Verwaltung zu einer Standardisierung von Sprache und Loyalität veranlasst gesehen.
Allein dadurch, daß sie zu einem »Volk« wurden, wuchsen die Bürger eines Landes zu einer Art Gemeinschaft zusammen, wenn diese auch nur vorgestellt war, und deren Mitglieder machten sich auf die Suche nach Dingen, die sie miteinander gemein hatten – Stätten, Gebräuche, Persönlichkeiten, Erinnerungen, Zeichen und Symbole – und fanden sie auch. Andererseits konnte das Erbe von Gruppen, Regionen und Lokalitäten der neuentstandenen »Nation« in ein gesamtnationales Erbe eingehen, so daß selbst alte Konflikte deren Versöhnung auf einer höheren, umfassenderen Ebene symbolisierten.
Die Nation sei eine „Erfindung“ von oben gewesen, der „Nationalstaat“ habe erst aus der pseudo-wissenschftlichen Konstituierung einer „Rasse“ entstehen können. Die Bestimmung der „Nation“ sei aber in der Geschichte nie einfach bzw. eindeutig gewesen. Interessant ist die Haltung der Arbeiter/des Proletariats zur Frage der Nation.
Was immer das Wesen des Nationalismus sein mochte, der in dem halben Jahrhundert vor 1914 aufkam, alle seine Spielarten hatten offenbar eines gemeinsam: die Ablehnung der neuen proletarischen sozialistischen Bewegungen, nicht nur, weil sie proletarisch waren, sondern auch, weil sie internationalistisch (oder zumindest nichtnationalistisch) gesinnt und aktiv waren.‘ Nichts scheint deshalb näher zu liegen, als die Einflüsse des Nationalismus und des Sozialismus als sich gegenseitig ausschließend zu betrachten und das Vordringen des einen mit dem Rückzug des anderen gleichzusetzen. Und es ist auch tatsächlich unter Historikern anerkannt, daß in dieser Periode der Nationalismus der Massen über andere Ideologien triumphierte, vor allem über den klassenbewußten Sozialismus, wie sich zum einen beim Ausbruch des Weltkriegs zeigte, der die Hohlheit des sozialistischen Internationalismus entlarvte, und zum anderen am überwältigenden Triumph des »Nationalitätsprinzips« in den Friedensverträgen nach 1918.
Hobsbawm sieht den Höhepunkt zwischen 1918 und 1950. Für den Nationalismus im ausgehenden 20. Jahrhundert hat Hobsbawm nur Ausblicke. Er sieht den Zusammenbruch der UdSSR und der Ostblock-Ordnung nicht primär nationalistisch bestimmt und er sieht auch in der Entkolonialisierung keine neuen Nationalstaaten entstehen. Mit zunehmender Globalisierung (der Wirtschaft) und Verstädterung würden die Chancen für neue Nationalismen eher schwinden. „Man wird (die Weltgeschichte) unweigerlich als die Geschichte einer Welt schreiben müssen, die sich nicht länger in die Grenzen von »Nationen« und »Nationalstaaten« zwängen läßt, gleichgültig, ob sie politisch, wirtschaftlich, kulturell oder sprachlich definiert sind. Diese Welt wird weitgehend übernational und »unternational« sein, aber auch eine »Unternationalität«, selbst wenn sie sich mit dem Mantel eines Kleinnationalismus umgibt, wird den Niedergang des alten Nationalstaats als eines funktionsfähigen politischen Gebildes zum Ausdruck bringen.”
Schließlich deutet allein schon die Tatsache, daß Historiker zumindest damit beginnen, in der Erforschung und Analyse von Nationen und Nationalismen Fortschritte zu machen, wie in so vielen ähnlichen Fällen darauf hin, daß das Phänomen seinen Zenith bereits überschritten hat. Die Eule der Minerva, die uns Klugheit bringt, breitet nach Hegel ihre Flügel immer erst in der Dämmerung aus. Es ist ein gutes Zeichen, daß sie ihre Kreise inzwischen über Nationen und Nationalismen zieht.
Dass sich im 20. Jahr des 21. Jahrhunderts allerorten wieder – teils aggressive – Nationalismen im Aufwind sehen, könnte man dann als polternde Rückzugsgefechte deuten.
Darüber hinaus stützen sich nur sehr wenige moderne Nationalbewegungen wirklich auf ein starkes ethnisches Bewußtsein, obwohl sie häufig eines erfinden, wenn sie erst einmal in Gang gekommen sind, und zwar in Form eines Rassismus.
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Enis Maci: Eiscafé Europa
Enis Macis Texte sind keine Essays, wie ich mir sowas vorstelle. Es sind Gedanken, oft kurz, splitterhaft, assoziativ, spontan. Maci nimmt vieles und schnell auf, vergleicht, repliziert, lässt die Ideen, das Denken schweifen, lässt sich inspirieren, auch von Trivialitäten, schreibt alles auf, stellt alles ins Netz. Sie zitiert Ilse Aichinger: „Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind“. Manches geht verloren, wie ein versehentlich gelöschter iCloud-Account „und mit ihm, unwiderruflich, ungefähr 4000 der insgesamt über 5000 Notizen, die ich in den vergangenen drei Jahren angesammelt hatte“. Enis Maci sammelt weiter, veröffentlicht überall, schreibt Theaterstücke, ist in der Spielzeit 18/19 Hausautorin am Nationaltheater Mannheim. Geboren ist sie 1993 und hat Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Kultursoziologie an der London School of Economics studiert.
Die Texte lassen sich nicht einordnen, sind ungebunden, anregend, vielleicht auch öfter mal banal. „Macis Essays bestehen aus Konstellationen von Zitaten, Anekdoten, Überlegungen. Sie bilden einen Text, den man unmöglich überfliegen kann, weil seine Bedeutung sich aus dem Material ergibt, ohne ausgesprochen zu werden. Man muss schon selber denken. Der Geisteszustand der konzentrierten Digression, den Enis Maci pflegt, ist der des vernetzten Menschen.“ (Marie Schmidt, SZ)
Klappentext: „Wie könnte Widerstand heute aussehen? Auf der Suche nach einer Antwort zieht Enis Maci eine Linie von Jeanne D’Arc über Sophie Scholl zu den albanischen Schwurjungfrauen. Sie entlarvt die medialen Strategien der Identitären als Travestie, befragt Muttersprache und Herkunft, reist nach Walhalla und blickt dort auf die Büste der in Auschwitz ermordeten Nonne Edith Stein. Sie verweilt in den sozialen Randzonen und verwebt die losen Zipfel erzählens-notwendiger Dinge zu einem dichten Panorama europäischer Gegenwart. Das Außerordentliche überkreuzt sich in ihren Essays mit dem Alltäglichen, das Private mit dem Politischen.“ Zum Privaten, das nur politisch zu fassen ist, gehört auch das Kreisen um die familiäre Herkunft, die Bestimmungen, die sich daraus ergeben, die Möglichkeiten, davon wegzukommen, kosmopolitisch zu werden.
Eine fixe Idee der Neuen Rechten ist – angelehnt an Antonio Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie – der »metapolitische Raum«, den es zu erobern gelte. So heißt es in den letztes Jahr geleakten internen Strategiepapieren der deutschen IB-Sektion, zu den Fehlern der alten Rechten habe gehört, »dass sie Propaganda/Kommunikation mit dem Kern/der Theorie verwechselt[en]«. Außerdem wird eine sogenannte Metapolitik der Straße entworfen; sie wollen, so lese ich weiter, »>die Fragen< bestimmen, welche die Ereignisse und Tatsachen mit einer Erzählung >umrahmen< und den Kampf um die Deutung der Tatsachen gewinnen.«
Was ist unsere Erzählung, fragen sich diese jungen Patrioten, Requiem oder Reconquista? – immer auf der Suche nach der perfekten, der definitiven Corporate Identity für die »Bewegung«, die ja letztlich doch eine straff geführte Organisation ist. Es geht zu wie bei einem Sales-Seminar für Call-Center-Mitarbeiter: Gesprächsmanipulation, Bejahungskette, geduldig sein!
Eine besondere Rolle nimmt die Frage nach der Art der Bilder ein, die man – und zwar dezidiert in den sozialen Medien – in Umlauf bringen will. Sie sollen »Macht« symbolisieren, »Trotz«, »Spott«, oder: »Zuneigung – Fotos von sozialen Aktionen oder Ökoaktivismus schaffen Sympathie. Das tun auch Bilder von kulturellen Veranstaltungen mit jungen Menschen (Frauen), die eine positive Ausstrahlung haben. Wir wollen eine menschliche und persönliche Seite zeigen, um der Dämonisierung unserer Bewegung vorzubeugen.«
Europa, die von einem potenten Stier entführt und vergewaltigt wurde, phönizische Königstochter, middle eastern girl, Europa, die man einst erob nannte, den Abend, das Abendland, Europa, deren Vergewaltiger ein schneeweißer Gott war und ganz friedlich aussah, was sich aber als falsch herausstellen sollte; sie wird entführt und mit einer Krokusblüte vergiftet, bewusstlos gemacht und geschändet und bleibt. Und der Ort, an dem sie sich niederlässt, der Ort, an dem man sie sich niederlassen heißt, wird mit Europa bezeichnet, ihrem Namen, den sie mit Anmut trägt wie wir die unsren. Ich beweine sie, wie ich um die müden, schmerzenden Leiber aller Frauen weine, ich beweine sie, wie ich um die diakritischen Zeichen weine, die auf der Müllhalde der Geschichte gelandet sind, ich beweine sie, aber es ist auch Stolz dabei. Wir kennen ihren Namen noch heute und nutzen ihn; ohne mit der Wimper zu zucken, sagen wir ihn auf.
Navigare necesse est, vivere non est necesse.
Seefahrt tut Not, Leben nicht.
In See zu stechen ist notwendig,
Überleben ist nicht notwendig
MÄNNER ALLER ART, GNAEUS POMPEIUS MAGNUS
ZUM BEISPIEL,
ODER GABRIELE D’ANNUNZIO
Lesenswert, zum Mitdenken, zur Anregung, als Ermutigung zur Digression. (Eine Digression (von lat. digressio – Abschweifen, griech. παρεκβασις Parekbasis) ist ein Teil eines literarischen Textes, der dessen Gegenstand außer Acht lässt und sich mit einer Binnenerzählung, einer Reflexion, einer Beschreibung oder Ähnlichem beschäftigt, das mit dem eigentlichen Thema nicht oder allenfalls indirekt verbunden ist. Wikipedia)
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Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit
Erich Fromm emigierte nach 1933 in die USA, wo er 1941 auch „Die Furcht vor der Freiheit“ (Escape from Freedom) verfasste. Er entwickelte Ansätze von Freud weiter, sah aber die Prägung der Psyche des Menschen icht als von der triebhaften menschlichen Natur bestimmt, sondern im wesentlichen von der Gesellschaft. Fromm bezeichnete dies als Sozialcharakter, der sich mit der historischen Entwicklung verändern kann.
Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der wachsenden Individuation, aber sie ist auch die Geschichte der wachsenden Freiheit. Das Streben nach Freiheit ist keine metaphysische Erscheinung und läßt sich nicht mit dem Naturgesetz erklären; es ist vielmehr das unausbleibliche Resultat des Individuationsprozesses und des Wachstums der Kultur.
Fromm erkennt die
“Ohnmacht und Unsicherheit des isolierten einzelnen in der modernen Gesellschaft, der sich von allen Bindungen befreit hat, die seinem Leben einst Sinn und Sicherheit gaben. Wir sahen, daß der Mensch diese Isolierung nicht ertragen kann; er ist als isoliertes Wesen der Außenwelt gegenüber völlig hilflos und daher voller Angst vor ihr. Durch diese Isolierung ist die Einheit der Welt für ihn verlorengegangen, und er hat jeden Orientierungspunkt verloren. Deshalb überfallen ihn Zweifel an sich selbst, am Sinn des Lebens, und schließlich gibt es für ihn keinerlei Grundsätze mehr, nach denen er sich in seinem Handeln richten könnte. Hilflosigkeit und Zweifel lähmen sein Leben, und um weiterleben zu können, versucht er der Freiheit – der negativen Freiheit – zu entfliehen. So gerät er in eine neue Knechtschaft hinein. Diese unterscheidet sich von den primären Bindungen, von denen er sich noch nicht völlig gelöst hat, obwohl er sich in die Abhängigkeit von Autoritäten oder seiner gesellschaftlichen Gruppe begeben hat. Die Flucht gibt ihm auch nicht seine verlorene Sicherheit zurück, sondern sie hilft ihm nur, sein Selbst als eine separate Größe zu vergessen. Er erlangt eine neue, aber brüchige Sicherheit, die er damit bezahlt, daß er ihr die Integrität seines individuellen Selbst zum Opfer bringt. Er entscheidet sich für den Verlust seines Selbst, weil er das Alleinsein nicht ertragen kann. So führt die Freiheit – als »Freiheit von« – nur in eine neue Knechtschaft hinein.”
Fromm erläutert die Reaktionen auf diese Befreiung von schützenden Sicherheiten im Zeitalter der Reformation und deren Angebote zur Nutzbarmachung zur individualisierten Anpassung an die wirtschaftlichen Prozesse. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt bei den „Aspekten der Freiheit für den modernen Menschen” und dessen “Fluchtmechanismen” ins Autoritäre, Destruktive bzw. ins Konformistische. Daraus leitet er die „Psychologie des Nazismus“ ab. (1941)
Die Merkmale des autoritären Charakters sind auch heute zu sehen, da sie durch die (kapitalistische) Ordnung der Gesellschaft stetig reproduziert werden. (Auch durch Medien oder Konsum) Aber die
Dynamik der menschlichen Natur veranlaßt den Menschen, nach befriedigenderen Lösungen zu suchen, soweit eine Möglichkeit besteht, sie zu erreichen. Die Einsamkeit und Ohnmacht des einzelnen, sein Streben nach Verwirklichung der in ihm angelegten Möglichkeiten, die objektive Tatsache der gesteigerten Produktionskapazität unserer Industrie sind dynamische Faktoren, welche die Grundlage für ein zunehmendes Streben nach Freiheit und Glück bilden. Die Flucht in eine symbiotische Bindung kann das Leiden eine Zeitlang mildern, aber sie kann es nicht aus der Welt schaffen. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der wachsenden Individuation, aber sie ist auch die Geschichte der wachsenden Freiheit. Das Streben nach Freiheit ist keine metaphysische Erscheinung und läßt sich nicht mit dem Naturgesetz erklären; es ist vielmehr das unausbleibliche Resultat des Individuationsprozesses und des Wachstums der Kultur. Die autoritären Systeme können die Grundbedingungen nicht beseitigen, die zum Streben nach Freiheit führen, und sie können auch das Freiheitsverlangen nicht ausrotten, das diesen Bedingungen entspricht.
Fromm hat eine Lösung parat, die jedoch nur idealistisch sein kann. Sie heißt “spontanes Tätigsein” und in dessen Konsequenz “Liebe”. Man müsste sich nur selbst aus dem Sumpf ziehen.
Wenn der Mensch durch spontanes Tätigsein sein Selbst verwirklicht und auf diese Weise zur Welt in Beziehung tritt, hört er auf, ein isoliertes Atom zu sein, er und die Welt werden Teil eines strukturierten Ganzen, er hat seinen ihm zukommenden Platz in der Welt, womit auch seine Zweifel an sich selbst und am Sinn seines Lebens verschwinden. Diese Zweifel entsprangen seiner Absonderung und der Vereitelung seines Lebens. Die Zweifel schwinden, sobald er es fertigbringt, nicht mehr unter Zwang und automatisch, sondern spontan zu leben. Er erlebt sich dann als tätiges und schöpferisches Individuum und erkennt, daß das Leben nur den einen Sinn hat: den Vollzug des Lebens selbst.
Die wichtigste Komponente einer solchen Spontaneität ist die Liebe – aber nicht die Liebe, bei der sich das Selbst in einem anderen Menschen auflöst, und auch nicht die Liebe, die nur nach dem Besitz des anderen strebt, sondern die Liebe als spontane Bejahung der anderen, als Vereinigung eines Individuums mit anderen auf der Basis der Erhaltung des individuellen Selbst.
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Max Czollek: Desintegriert Euch!
Max Czollek ist knapp über 30 und es ist schön, dass er wütend ist. Er empört sich über etwas, das er „Gedächtnistheater“ nennt. Über die Rolle/Funktion, welche die „Deutschen“ den Juden in ihrer Gedenkens- und Integrations-„Kultur“ zuweisen.. Ddie Juden sollen die Deutschen entlasten für ihr(e) Verbrechen, sollen die Täter- in eine Mitleidensrolle integrieren, sollen sie „läutern“. Czollek will dabei nicht – mehr – mitmachen. Angeregt ist Czollek auch vom aktuellen völkisch artikulierten Rechtsruck in Deutschland, er setzt den Versuch der funktionellen Integration neuer Menschengruppen in Bezug zur Funktion der Juden in den „frühen Jahren“ nach WK II.
Politik bedeutet nicht die Konfrontation von Volk gegen Volk, Kultur gegen Kultur. Politik ist die Kunst, Vielfalt in einer Gesellschaft zu organisieren. Ein solches Konzept der Gesellschaft als eines Ortes der radikalen Vielfalt ist mit dem Phantasma einer deutschen Leitkultur, die auf einer vermeintlich jüdisch-christlichen Tradition beruht, schwer vereinbar. Das Propagieren dieser Leitkultur hat einen doppelten Effekt: Indem sie Muslim innen aus dem Bereich deutscher Geschichte ausschließt, wird deren Status als Zugehörige zur Kultur in Deutschland infrage gestellt. Indem sie Juden und Jüdinnen in die Geschichte einschließt, wird die eigene moralische Überlegenheit zementiert. Juden und Jüdinnen haben die Wahl, wie sie auf diesen Eingemeindungsversuch reagieren wollen. Diejenigen, die sich davon geschmeichelt fühlen oder die Angst vor dem Islam teilen, werden meiner Kritik nicht zustimmen. Für alle anderen gilt: Desintegriert Euch vom Gedächtnistheater.
Czollek versteht “die Desintegration als einen jüdischen Beitrag zum postmigrantischen Projekt, dessen Ziel es ist, radikale Diversität als Grundlage der deutschen Gesellschaft ernst zu nehmen und ästhetisch durchzusetzen. (…) Das Versprechen der Desintegration ist nicht die Gutwerdung der Juden, sondern ein größeres Maß an Selbstbestimmung.“ Dazu müssten die zugewiesenen Kollektividentitäten aufgelöst werden. „Wenn wir neue Allianzen schließen wollen, dann müssen wir wegkommen von der Idee der identitären Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe, von der Idee, wir seien ganz und müssten unsere Ganzheit verteidigen. Jeder Mensch besteht aus vielen Teilen, die sich immer wieder verschieben. Die ungebrochene Identität ist eine gefährliche Illusion.”
Max Czolleks Aufruf enthält viel Denkwürdiges, er kann jedoch das Dilemma nicht auflösen, das zwischen getrennten und nicht trennbaren Bezugsgruppen liegt. Der Konflikt ist nicht eingehegt, wenn man Juden zu Deutschen erklären will, Juden aber eine gleichgestellte Identitätsgruppe bleiben sollen/wollen. Deutschland ist ein Land, Jüdischkeit eine Religion mit zum Teil davon abgeleiteten Traditionen, Lebensweisen, Kulturen. Czollek müsste die Begrifflichkeiten präziser fassen. Der Gedankengang ist oft vom Zorn getragen,sprunghaft, ichzentriert.
Interview mit Max Czollek in der SZ
Profil von Max Czollek auf Literaturport
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Michael Lüders: Armageddon im Orient
Niemand unterschätze zudem die wirtschaftliche Dimension von Raketendeals. Die Vereinigten Arabischen Emirate kauften im Dezember 2008 als erster Golfstaat 172 Patriot PAC-3 Raketen mit allem, was dazugehört, von der Abschussrampe über die Software bis hin zur technischen Einweisung und der Wartung. Die beiden beteiligten US-Rüstungsfirmen, Lockheed und Raytheon, erzielten mit dem Auftrag einen Umsatz von 5,1 Milliarden US-Dollar. Größter Einkäufer allerdings war erneut Saudi-Arabien, das im Oktober 2017 einen Rüstungsdeal über die allerneueste Raketenabwehrtechnologie, THAAD genannt (Terminal High-Altitude Area Defense), abschließen konnte. Mit ausdrücklicher Genehmigung, wie bei allen Hightech-Rüstungsexporten üblich, des US-Außenministeriums, und zwar in Höhe von 15 Milliarden US-Dollar.23 2011 bereits hatten die Emirate eine erste Lieferung von THAAD-Raketen erhalten, im Wert von 3,48 Milliarden US-Dollar.24 Solche phantastischen Bilanzen sind ohne griffiges Feindbild und das entsprechende Bedrohungsszenario kaum zu erzielen.
Laut des schwedischen Rüstungskontrollinstituts SIPRI sind zwischen 2011 und 2015 fast zehn Prozent der amerikanischen Waffenexporte auf Saudi-Arabien entfallen. Dieses beträchtliche Volumen beleuchtet einmal mehr den «Urgrund» des amerikanisch-saudischen Verhältnisses. Alles andere wird dem untergeordnet.
Man kann die Informationen nicht selbst validieren, aber Michael Lüders liefert viele Belege. Das reicht dem Historiker René Wildangel nicht. In der SZ hält er Lüders vor: „Bei einem „Blick hinter die Kulissen“ sollte man Recherchen vor Ort und Gespräche mit beteiligten Akteuren erwarten dürfen. Schließlich wird die Kernfrage nach dem Risiko eines Krieges, der den „Weltfrieden ernsthaft bedroht“, unzureichend analysiert: Hier wäre ein Blick auf die militärischen und strategischen Hintergründe notwendig und auch eine nüchterne Abschätzung, welche Faktoren möglicherweise gegen eine militärische Konfrontation sprechen. Vorsichtshalber rudert der Autor selbst zurück: Statt des beschworenen Armageddons sei auch ein Stellvertreterkonflikt möglich. „Gewissheiten git es allerdings keine“, lautet das wenig überzeugende Fazit.“ Wildangel macht sich’s zu leicht: Wenn es keine „Gewissheiten“ gibt, gibt es halt keine. Es stünde den Medien gut an, das auch zu konstatieren und begrifflich sauberer zu arbeiten. („Rebellen“ etwa ist so ein Begriff, der nichts als schwammig und damit vernebelnd ist.)
In seinem neuen Buch“ Armageddon im Orient“ behandelt Michael Lüders die US-Saudi-Connection, die enge Verflechtung von Militär und Politik, und die Folgen, die diese für den Nahen Osten und die Welt hat. Hauptakteure sind der US-Präsident und der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS), die das enge Verhältnis der beiden Staaten zum beiderseitigen Nutzen auf reaktionäre Weise vertieft haben. Die Kooperation geht zu Lasten des Iran, der von der Trump-Administration zum Schurkenstaat erklärt wurde, der ausgelöscht gehöre. Lüders beschönigt nicht, beleuchtet auch die negativen Aspekte der Regierungen im Iran oder in Syrien, er versucht aber, hinter die meist öberflächlichen und einseitigen Darstellungen in den (westlichen) Medien zu blicken.
Die Zukunft – im Zweifel Krieg gegen den Iran. Warum nicht als Weltkrieg? Immerhin leidet die gesamte Menschheit unter iranischer Aggression – mit Ausnahme vielleicht der Afghanen, Iraker, Syrer, Libanesen, Palästinenser, Libyer, Jemeniten, um nur einige zu nennen, die möglicherweise auch Erfahrungen haben mit anderen Aggressoren. Am bittersten ist wohl die Einsicht, dass solche Inszenierungen keinerlei Folgen haben für ihre Urheber. Die Medien könnten dergleichen Machenschaften entlarven, ziehen es aber meist vor, die offizielle Sicht wiederzugeben. Unterm Strich setzt sich in der westlichen Öffentlichkeit nach einem Auftritt wie dem von Haley einmal mehr der Eindruck fest: irgendwie gefährlich und böse, diese fanatischen Mullahs. Wer einen Krieg zu führen gedenkt, tut gut daran, als Erstes das Feindbild in den Köpfen zu festigen.
Mohammed Bin Salman hat fragwürdige, politisch nicht durchdachte Manöver gegen Katar und den Libanon eingefädelt, teils in Kooperation mit Abu Dhabi, und ist damit gescheitert. Er ist verantwortlich für die Hungerblockade und mitverantwortlich für die Zerstörung Jemens, ohne Aussicht auf einen politischen Gewinn. Die langfristigen Folgen seines Aktionismus sind noch gar nicht abzusehen. Die Golfstaaten hat er gespalten, die sunnitischen ebenso, seine Allianzen sind brüchig. Vor allem Trump wird ihm beistehen, solange er als Geschäftspartner interessant bleibt, weiterhin amerikanische Waffen kauft und auf Konfrontation mit dem Iran setzt.
Michael Lüders schildert die Ursachen des Konflikts seit dem 18. Jahrhundert und erklärt, warum der Westen einseitig Partei ergreift. Unter Obama wurde 2015 das Atomabkommen mit dem Iran geschlossen. Doch obwohl Teheran sich erwiesenermaßen an alle Verpflichtungen hält, bricht der Konflikt jetzt erneut auf. Warum ist das so? Ist der Iran wirklich ein „Schurkenstaat“? Welche Rolle spielen die engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den USA und Saudi-Arabien, die sogenannte „Saudi-Connection“? Und gibt es tatsächlich eine religiöse Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten? (Klappentext) Als Antidot gegen die vereinheitlichte Sprechmeinung sind Lüders’ Bücher wichtig und aufklärerisch.
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Philipp Blom: Böse Philosophen.
Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung
Die „bösen Philosophen“, das sind die Radikalaufklärer, die sich in den 1770er-Jahren im Pariser Salon des Barons Paul Henri Thiry d’Holbach trafen. Der Gastgeber reichte gutes Essen und bot den Raum für offene Gespräche, er hielt sich in der Öffentlichkeit und mit Publikationen eher im Hintergrund, veröffentlichte oft unter Pseudonym, denn seine Werke wie „Das entschleierte Christentum“ agitierten gegen Kirche und Religion. Auch aufgrund des Atheismus der philosophes, vermutet Philipp Blom, sei d’Holbach heute weitgehend vergesssen.
Warum glauben Menschen an Gott?, fragte der Baron sich selbst und schloss, dass die einzigen Gründe Unwissen und Furcht sein konnten. Zu lange haben die Menschen bezüglich der wahren Gründe von natürlichen Phänomenen im Dunkeln getappt. Die Wissenschaft wird eines Tages die Ignoranz ersetzen, auch wenn es für viele Menschen schwieriger sein mag, die blinde Notwendigkeit zu akzeptieren als den verborgenen Sinn einer göttlich inspirierten Schöpfung. Nur weil das Spiel der natürlichen Kräfte uns verblüfft, suchen wir hinter den Dingen eine Bedeutung, einen Willen wie unseren. Schließlich leben wir in einem sozialen Gefüge, in dem jede Handlung interpretiert, als gut oder böse gedeutet wird. Diese Deutung übertragen wir auf eine Welt, die von sich aus sinnlos ist.
Der andere Denker, der die Konversationen im Salon wesentlich mitbestimmte, war Denis Diderot, der Herausgeber der Encyclopédie. Doch auch andere „böse“ Philosophen trafen sich bei d’Holbach: David Hume, Friedrich Melchior Grimm (geb. 1723 in Regensburg), Guillaume Paynal, Claude-Adrien Helvétius und ihrer mehr, die heute kaum noch jemand kennt.
Philipp Blom grenzt die Holbach-Clique (coterie) in der materialistischen und hedonistischen Radikalität ihres Denkens und ihres Disputs ab gegen die „gemäßigten“ Aufklärer:
Etwas mehr als zwei Jahrhunderte nachdem Holbachs Salon seine Türen zum letzten Mal schloss, stehen wir noch immer vor der Wahl zwischen Rousseaus Kult des Sentiments und des säkularisierten Selbsthasses, Voltaires weltgewandtem Zynismus und der Ethik des aufgeklärten Hedonismus, die in Holbachs »Boulangerie« vertreten und weiterentwickelt wurde. An den Rand gedrängt von einer Gesellschaft, die keine Bereitschaft zeigte, diese Botschaft zu hören und zu erforschen, wurde sie von anderen, lauteren Stimmen übertönt, ihre Werke wurden zuerst vom Henker öffentlich verbrannt, dann in verstümmelten und verfälschten Ausgaben verbreitet und schließlich nur von wenigen Lesern wahrgenommen. Sieger sehen anders aus.
Blom setzt sich zu den “vergesssenen Erben der Aufklärung” in den Salons, verbreitet ihre Gedankenwelt, die auf Epikur und Lukrez, Bayle und Spinoza zurückgeht, er erzählt aber auch ausgiebig von ihren Marotten, Händeln, Eifersüchteleien. Die Frauen wie Louise d’Épinay oder Sophie Volland sind nicht unwichtig, bleiben aber meist randständige Gesprächs-, Brief- und Liebespartner.
Die Sympathie des Autors ist stets bei den “Bösen”, ohne diese in ihrer Menschlichkeit zu verklären. Oft nennt er sie beim Vornamen. Wer sich über die “Philosophie” der Zeit informieren will, kann sich an der “Personalityshow” stören, andererseits liegt die Dokusoap im Trend. (Man denke etwa an Sarah Bakewells “Café der Existenzialisten”.) Eine angenehme Lektüre, bei der ich doch des öfteren bereits Gesagtes überblättern wollte.
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Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem
2017
„Jürgen Kaube erzählt, wie die menschliche Kultur entstand – und entwirft ein überraschendes Panorama.“ – So stehts auf der Klappe und so stimmts nicht. Kaube erzählt nicht, er bedient sich einer wissenschaftlichen Sprache, die häufig umständlich und auch dröge wirkt. Er entwirft kein überraschendes Panorama, denn das meiste ist bekannt oder man könnte darüber gelesen haben. Panorama ist insofern treffend, weil er sich wichtigen Entwicklungen widmet, „von allem“ ist recht viel versprochen. Nicht die Erfindungen sinds, die Kaube interessieren – obwohl auf dem Cover ein Rad abgebildet ist -, sondern „Übergänge“ in etwas Neues, deren „Mechanismen“ und Ursachen.
Schließlich ist an den Anfängen zu lernen, dass immer Mehreres nötig war, um sie hervorzubringen. Keine einzige zivilisatorische Errungenschaft verdankt sich einem einzigen Mechanismus, einer einzigen Ursache. Um zu Höhlenbildern mit Pferden, Bisons, Löwen und Bären zu kommen, bedurfte es nicht nur technischer Voraussetzungen – wie der Farbpigmente und der Kontrolle von Feuer, um Höhlen zu beleuchten -, sondern auch einer kognitiven Fähigkeit, Objekte zur Mitteilung einzusetzen. Es bedurfte der Jagd als Motivvorrat, aber auch des Bewusstseins, dass es sich bei Tieren, die nicht gejagt werden, sondern selber Jäger sind, ebenfalls um Tiere handelt. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Um zum Staat im Sinne flächendeckender Herrschaftsausübung durch eine besondere Schicht zu kommen, bedurfte es, je nach Theorie, der Vertrautheit mit zentralisiertem Entscheiden, des Charismas erfolgreicher Jäger und Krieger, mangelnder Fluchtmöglichkeiten von Unterworfenen und einer Wirtschaft, die Überschüsse ermöglichte.
Kaube behandelt: den aufrechten Gang, das Kochen, das sprechen, die Kunst, die Religion, die Stadt und den Staat, die Zahlen und das Erzählen, die Monogamie und einiges mehr. Lauter interessante und deshalb auch schon oft abgehandelte Themen. Je älter die Anfänge, desto unsicherer die Erkenntnisse, je jünger, desto gründlicher kann sich Kaube auf Vorhandenes stützen: Gilgamesch-Epos, Mesopotamien, politische Organisation auf dem archaischen Hawaii, Codex Hammurapi, uvm. Kaube trägt sehr viel zusammen, hätte er sein Wissen erzählt, statt darüber zu berichten, wäre ein spannendes Buch entstanden. Die Kapitelüberschriften täuschen größere Lockerheit vor: “Die Göttin hat unten am Meer das letzte Bordell vor dem jenseits: Der Anfang des Erzählens”. Dennoch hilfreich, wenn man sich in einen der “Anfänge” einlesen will.
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Karl Schlögel: Planet der Nomaden
2006
Karl Schlögel hat sein spezielles wissenschaftliches Interesse Osteuropa zugewandt. Auf dieser Folie untersuchte er u.a. die Zwangsmigrationen zwischen Deutschland und dem Osten im 20. Jahrhundert. Das Thema der globalen Migration steht etwas vereinzelt in der reihe von Schlögels Publikationen. Wenn er sich gegenüber der aktuellen russischen Politik sehr kritisch zeigt, so betont er als konservativ (gewordener) Historiker auch beim Thema Migration die Konstanten der gesellschaftlichen Entwicklungen. Als eine der Grundlagen der Gesellschaftlichkeit überhaupt sieht er aber die Wanderungen, die seit Anbeginn der menschlichen Geschichte deren konstituierendes Moment waren. Migration gab es und gibt es immer und überall.
Fast immer zeigt sich: Migranten sind die Avantgarde der Innovation und Modernisierung. »Refugee mentality« ist oft ein mentales Plus, nicht zwingend ein Defekt. Oft sind es Migranten, die Neues wagen und risikoreiche Unternehmen initiieren. Auf sie ist die Rolle übergegangen, die Max Weber dem »Geist des Protestantismus« bei der Entstehung des modernen Kapitalismus zugeschrieben hat.
In ihnen mischt sich die Situation des neu und ganz von unten Anfangenmüssens, des Traditionsbruchs mit dem Improvisierenkönnen, mit der Fähigkeit, eine Zeitlang in Provisorien zu leben. Die frühe Bundesrepublik, aber auch Korea mit seinen Millionen von Kriegsflüchtlingen sind Beispiele für gelungene Modernisierung, die auf Entwurzelung basiert. Es wäre ein Glücksfall für das nachsowjetische Rußland, wenn seine nach Millionen zählenden Remigranten zum Motor der fälligen Modernisierung werden würden.
Improvisationsfähigkeit, ethnisch und kulturell bedingte Kohäsion der jeweiligen Diaspora, Elastizität, Anpassungsfähigkeit und Durchsetzungskraft und nicht zuletzt Vielsprachigkeit – all das macht die Nomaden zu Agenten sozialer und kultureller Veränderung.
Das sind beileibe keine neuen Erkenntnisse, doch sticht der Blick des Historikers heraus aus dem aufgeregten Gehabe der Poltiker und Medien, die aus wahl- oder quotentaktischen Überlegungen oder aus ideologischen Verblendungen Gedanken hintanstellen. Schlögels “Planet der Nomaden” zu lesen, lohnt 2018, auch wenn das buch von 2006 stammt. Es hat sich nichts Grundlegendes verändert! Wie sollte es auch, wenn Migration als überhistorisches Phänomen beschrieben wird. Was sich ändert, sind Geschwindigkeiten, etwa in der Kommunikation oder im Verkehr, wodurch sich auch die Entfernungen relativieren.
Überall finden wir die Spuren einer einmaligen Kultur, die deshalb so reich war, weil sie eine Kultur der Schattierungen, der Vermischungen, der Vieldeutigkeit und Vielsprachigkeit war. (…) Die alten Städte bilden sich neu – und das ist das Werk der Nomaden, der Beduinen, der alten Städtegründer. Es geht nicht um multikulturellen Kitsch, sondern um die Frage, ob wir in Europa und anderswo an die schon einmal erreichte Komplexität und Konfliktfähigkeit der großen multiethnischen und kosmopolitischen Zentren der Vorkriegswelt anknüpfen können. Was heute als multikulturell diskutiert wird, hat es schon einmal gegeben –
Oder, im Kapitel WANDERUNG UND VERBRECHEN:
Niemand verläßt seine Heimat ohne Not. Es bedarf einer starken Zuversicht, daß mit der Ankunft in der neuen Heimat alles anders werde. Beim Aufbruch in die unbekannte Zukunft werden Brücken abgebrochen. Es steht fast immer viel auf dem Spiel. Es geht um den bisherigen Lebensplan, um den Abbruch von Beziehungen, in denen man bisher aufgehoben war. Die Entscheidung zum Aufbruch setzt alles auf eine Karte: es geht um Lebensentscheidungen und daher auch um die Bereitschaft zu höchstem Risiko und fast immer um viel Geld. Wer in Not ist, ist hilfsbedürftig und leicht erpreßbar. Die Not der vielen wird zur Quelle des Reichtums von wenigen, wenn man es nur versteht, jene Stellen zu besetzen, die all jene Mühseligen und Beladenen passieren müssen auf ihrem Weg ins »Gelobte Land«.
Migranten sind leicht erpreßbar. Sie wollen weg, sie müssen weg. Daher ist ihnen fast alles recht, was ihnen weiterhilft. (…)
Das alles hat dazu geführt, daß Migration und Kriminalität in einen fast unauflösbaren Zusammenhang gerückt sind. Jeder harmlose Migrant – ob Gastarbeiter, politischer Flüchtling oder Asylbedürftiger – läuft von nun an Gefahr, mit dem Dealer in einen Topf geworfen und als Krimineller abgestempelt zu werden. Fast aussichtslos erscheint es, die Konjunktion von Verbrechen und Migration auflösen und dem uralten Feindbild vom Fremden als dem Dubios-Gefährlichen entgegentreten zu können. Und doch hängt daran weit mehr als nur die Einhaltung des Toleranzgebotes gegenüber Fremden. Die bürgerliche Gesellschaft, die Fremde unter Verdacht stellt, nur weil sie Fremde sind, untergräbt letztlich auch das Fundament, auf dem sie selber ruht.
Es würde den aktuellen “Debatten” guttun, die Probleme der Wanderungen nicht zu verselbständigen, sondern im Kontext zu betrachten. Schlögel könnte da helfen.
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Edward Brooke-Hitching:
Atlas der erfundenen Orte.
Die größten Irrtümer und Lügen auf Landkarten
2016
Unglaublich, wie viel falsch war auf alten Karten. Man könnte das auch positiv formulieren, denn viele der „Irrtümer“ verdanktem sich ungenügender technischer Möglichkeiten der globalen Lokalisation oder der Kartographie. Die Welt wurde größer, die Entdecker forcierten die Darstellbarkeit und waren zugleich oft Urheber der „Lügen“: der ungenauen Koordinaten und der erdachten Beshchreibungen. Vielfach wollten sie ihre Auftraggebern und Financiers ihre Fähigkeiten durch übertriebene, vielfach auch einfach erfundene Ortsangaben davon zu überzeugen, mehr Geld rauszurücken oder die Erforscher mit Titeln und Ruhm zu versehen. Schon in früheren Jahrhunderten gingen fake news und Sensationsgier Hand in Hand.
Unser Land fließt über von Milch und Honig. In einem unserer Länder schadet kein Gift und quakt kein lärmender Frosch, es gibt dort keinen Skorpion, und es kriecht keine Schlange durchs Gras. Keine giftigen Tiere können dort wohnen und ihre tödliche Macht einsetzen …
Nur wenn du die Sterne am Himmel und die Körner im Sand zählen kannst, wirst du in der Lage sein, die Größe unseres Reiches und unsere Macht zu ermessen.
Edward Brooke-Hitching hat 60 solcher „erfundenen Orte“ versammelt und die Motive und Methoden ihrer „Lügen“ beschrieben – und meist auch deren langwierige Korrekturen und Entlarvungen. Das Alphabet geht von Atlantis über die Dämoneninsel, El Dorado, Fonseca, die Kong-Berge und die Mondberge bis zu Thule, Vineta und Wak-Wak. Häufig sind es Inseln, die es gar nicht gibt und die dennoch blumig samt ihrer Bewohner, der Tierwelt und sonstigen Ressourcen dargestellt werden. Inseln waren schwerer zu errreichen und zu verifizieren, oft ließ man sich gerne von Wolkenformationen täuschen. Das Buch ist opulent bebildert, eher zum Stöbern und Staunen als zum Durchlesen, da sich viele der „Erfindungen“ doch in ihren Strukturen ähneln.
P.S. Die exakten Namen und Koordinaten machen mich glauben, dass Brooke-Hitching ein extrem fieseliger Aufklärer ist. Aber was ist, wenn auch er mich Leichtgläubigen täuscht wie seine Heroen die Welt?
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Heinz Bude:
Adorno für Ruinenkinder.
Eine Geschichte von 1968
Heinz Budes „Geschichte von 1968“ ist 2018 interessant, auch wenn er sich zum Großteil auf Arbeiten der Jahre um 1988 stützt: auf Gespräche mit Personen, die als „Ruinenkinder“ in die 68er-Bewegung hineinwuchsen. Die Namen: Peter Märthesheimer, Adelheid Guttmann, Klaus Bregenz, Camilla Blisse, Peter Gente sind heute aus dem öffentlichen Diskurs gefallen oder tot, gemeinsam haben sie, dass sie in der Nazizeit geboren sind und in den 1968er Jahren Leitsysteme fanden, ihre Traumata der verlorenenVäter und verbogenen Mütter zu verarbeiten und Losungen für eine Selbstfindungen erhielten, auf denen sie ihr Leben in einem neuen „Wir“ aufbauen konnten.
Das Undankbare und Unfügsame der Ruinenkinder kam später. Aber nicht in der Familie, sondern in der Gesellschaft. Als mit dem Wirtschaftswunder die Ordnung wiederhergestellt werden sollte, die doch nie da war, machte man Schluss mit einer Wirklichkeit, worin alles von den Maschen der Gesellschaft eingefangen wurde. Der Augenblick der Befreiung sollte der Augenblick der Wahrheit sein. Nicht drinnen zu Hause, sondern draußen in der Eisdiele in Hildesheim, im Club Voltaire in Frankfurt am Main oder auf der Straße in Berlin, wo man im Einklang mit den Aufständischen von Paris und anderswo unter dem Pflaster den Strand sah.
Adorno war wie für so viele geistes- und sozialwissenschaftliche Studenten (dieser) Generation insofern ein intellektuelles Vorbild, als man mit ihm die unerfreuliche Mischung aus abendlandmäßiger Schwülstigkeit und positivistischer Fachidiotie, die einem normalerweise aut den Universitäten angeboten wurde, hinter sich lassen konnte. Außerdem war er für viele der Einzige, der die halbbewussten Wahrnehmungen des Völkermords, so wie sie in der Erinnerung der Kriegskinder versiegelt waren, zur Sprache bringen konnte.
Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. (…)
So lautet der erste Satz von Adornos aphoristischen Reflexionen aus dem beschädigten Leben, wie der Untertitel seiner Minima Moralia lautet, die zwischen 1941 und 1944 entstanden und 1951 zuerst erschienen sind.
„Großartige Neuentdeckungen sind jedoch nicht zu erwarten“ in Budes„Remix“ seiner Untersuchung „Das Altern einer Generation“ aus dem Jahr 1995. „Es ist also eher ein Buch für nebenbei und aufs Jubiläum hin konzipiert.“ (Nikolai E. Bersarin, Aisthesis)
Gespräch mit Heinz Bude auf der Leipziger Buchmesse
(ARD ttt – titel, thesen, temperamente) – 27 Minuten
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Michael Butter:
»Nichts ist, wie es scheint« –
Über Verschwörungstheorien
Michael Butter geht das Thema streng systematisch an. Er grenzt Begriffe voneinander ab, sagt, was die Verschwörung von der Verschwörungstheorie unterscheidet und was diese von Verschwörungsgerüchten, weshalb Fake News noch keine Verschwörungstheorien sind. Er zeichnet Strukturen und Methoden von Verschwörungstheorien auf. Ein paar Seiten widmet er dem Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Populismus. Ein Kapitel befasst sich mit den psychologischen Aspekten, das nächste mit der historischen Entwicklung, wobei er Schwerpunkte auf die „Entstehung und Entwicklung bis ins 20. Jahrhundert“ und auf die „Delegitimierung und Stigmatisierung nach 1945“ legt. Schließlich betrachtet er die Auswirkungen des Internets auf Verschwörungstheorien. Michael Butter legt auch den Aufbau seiner Darstellung und Argumentation dar.
Jedem Kapitel ist eine „Fallstudie“ eingefügt. Er beginnt mit massenwirksamen Verschwörungstheoretikern wie Daniele Ganser, David Icke (Reptiloide) oder Alex Jones, beleuchtet den „Mythos von der jüdischen Weltverschwörung“, um schließlich bei Donald Trump zu enden.
Am Beispiel eines Artikels von Eva Herman erläutert Butter zentrale Merkmale von Verschwörungstheorien:
Am 31. August 2015 sprach Angela Merkel angesichts Tausender Flüchtlinge, die täglich nach Deutschland kamen, ihren berühmten Satz »Wir schaffen das«. Just an diesem Tag veröffentlichte das Magazin Compact einen Text der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Herman, der sich mit diesem Thema beschäftigte. Der etwa zehnseitige Aufsatz war bereits einige Tage zuvor unter dem Titel »Einwanderungs-Chaos: Was ist der Plan?« auf der Seite der Wissensmanufaktur erschienen, deren Medienbeirat Herman damals angehörte. Compact, das wie die Wissensmanufaktur zu den rechtspopulistischen Alternativmedien gehört, die in den letzten Jahren so viel Auftrieb erfahren haben, publizierte ihn unter dem Titel »Flüchtlings-Chaos: Ein merkwürdiger Plan«. Der Artikel ist in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu Merkels Aussage. Wo die Kanzlerin Optimismus verbreitete, sah Herman nichts weniger als den Untergang des Abendlandes unmittelbar bevorstehen. »Wir schaffen das nicht«, schreit es aus jedem ihrer Sätze.
»Europa«, so Herman, »wird geflutet mit Afrikanern und Orientalen. Unsere alte Kraft, unsere christliche Kultur, Glaube und Tradition, werden zerstört, die Identität der einzelnen Völker aufgeweicht und, Schritt für Schritt, abgeschafft.« Während sie hier für einen Moment das Bild einer Naturkatastrophe bemüht, dominiert insgesamt eine ganz andere Metaphorik: Für Herman ist die Flüchtlingskrise ein »Feldzug gegen Europa« und Deutschland entsprechend »ein Schlachtfeld«, ein »Kriegsgebiet […], welches nun von unzähligen Asylsuchenden, Stück für Stück, eingenommen wird«. Die Geflüchteten, angeblich »überwiegend junge, starke Männer«, sind für sie »der Sprengstoff«, der sich »zunehmend zur Waffe gegen die einheimische Bevölkerung« entwickelt.
Diese Bildlichkeit von Krieg und Invasion passt zum Argument, denn für Herman handelt es sich bei der Migrationskrise nicht nur um eine von Menschen gemachte, sondern um eine ganz bewusst herbeigeführte Katastrophe. Gleich im ersten Absatz betont sie, der eigentliche »Widersacher« sei »nicht in den Millionen fliehenden Migranten zu suchen«. Die Geflüchteten seien nur die sichtbaren Werkzeuge, denn: »[D]er Feind arbeitet in vielerlei subtiler Form an bislang für die meisten Leute unbekannten Nahtstellen.« Letztendlich verantwortlich, so Herman, sei »eine bestimmte Gruppe von Machtmenschen des globalen Finanzsystems […], die sich die Welt aus ihrem Kapitalsammelbecken heraus untertan machen will«. Sie erklärt allerdings an keiner Stelle, wie die Zerstörung des christlichen Europa, die sie prognostiziert, zur Agenda dieser »mächtigen Globalbestimmer« beitragen soll. Immer wieder betont sie jedoch, dass diese mysteriösen Strippenzieher die Politik und die Medien kontrollieren. Wiederholt kommt sie auf das »Brüsseler Marionettentheater«, die »eingesetzten Politikdarsteller« und »die gleichgeschalteten Massenmedien« zu sprechen, die, statt dem Volk zu dienen, »die Hirne der Menschen« verwirren, um »das Volk in den Untergang [zu] führen«.
Wer Michael Butter gelesen hat, könnte alles über Verschwörungstheorien wissen, wird aber unsicher bleiben, wie man mit diesem Wissen umgeht. Butter weiß es auch nicht, beruhigt aber mit persönlich gehaltenen Tipps. Die Widerlegung von Behauptungen scheint ihm wenig erfolgreich, weil die Gegenargumente gleich in die Verschwörungstheorie eingebaut werden. Wesentlich ist ihm die „Vermittlung von »Gesellschaftskompetenz« oder social literacy ergänzt durch zwei Aspekte, die ich als »Medienkompetenz« oder media literacy und »Geschichtskompetenz« oder historical literacy bezeichnen würde. (…) Wir alle mussten oder müssen lernen, seriöse Nachrichtenquellen von unseriösen zu unterscheiden, und zu verstehen, was den Youtube-Kanal einer Privatperson oder einen persönlichen Blog von der Website einer Qualitätszeitung unterscheidet.”
Die “Fragmentierung der Gesellschaft … scheint mir das eigentliche Problem zu sein, das sich uns derzeit stellt. Verschwörungstheorien sind ein Bereich, in dem diese Zersplitterung besonders auffällt. Insofern ist die derzeitige Diskussion – Verschwörungspanik in manchen Teilöffentlichkeiten,Verschwörungstheoriepanik in anderen – ein Symptom für eine tiefer liegende Krise demokratischer Gesellschaften. Denn wenn Gesellschaften sich nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist, können sie auch die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts nicht meistern.
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Infos und Materialien bei „der Freitag: Buch der Woche“
Liste von Veschwörungstheorien
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François Jullien:
Es gibt keine kulturelle Identität
2016
“Kultur” als solche, feststehende, einem kollektiven Subjekt zuzuschreibende, gibt es nicht, sagt der Philosoph und Sinologe François Jullien. Er trennt Begriffe und sucht in definitorischen Schleifen um Zustimmung zu seinen Eingrenzungen. “Es gibt keine französische oder europäische kulturelle Identität, dafür aber (französische, europäische oder zu einer beliebigen anderen Kultur gehörende) Ressourcen. Identität wird definiert, Ressourcen werden inventarisiert. Man erkundet sie und beutet sie aus – das meine ich mit aktivieren.”
“Es ist schließlich leicht zu erkennen, dass das Kulturelle, auf welcher Ebene auch immer man es betrachtet, sich dadurch auszeichnet, dass es gleichzeitig vielfältig und einzigartig ist.” Aus dieser Vielfalt – lokal und historisch gesehen, aus den “Abständen” – ein wichtiger Begriff für Jullien – entwickelt sich permanent Neues. „Diese Abstände, welche die Kulturen in Gegenüberstellung und daher in Spannung zueinander aufrechterhalten, bringen das Gemeinsame zwischen ihnen zum Vorschein. Außerdem sollten wir nicht von »Identität« sprechen, da Kultur sich dadurch auszeichnet, dass sie mutiert, dass sie sich permanent verändert.” „Denn woraus könnte das »Kulturelle« entstehen, wenn nicht aus ebendieser Spannung des Vielfältigen, die von der Abweichung hervorgebracht wird, die es arbeiten und ununterbrochen mutieren lässt?”
Eine Kultur, die sich nicht länger verändert, ist tot (in diesem Sinne ist auch von toten Sprachen die Rede: da sie von niemandem gesprochen werden, können sie sich auch nicht mehr entwickeln). Die Transformation ist der Ursprung des Kulturellen, und deshalb ist es unmöglich, kulturelle Charakteristiken zu fixieren oder von der Identität einer Kultur zu sprechen.
Gerade aus den Abständen – zwischen Personen, Sprachen, Denktraditionen, was auch immer, eröffnen sich „Ressourcen“, die allein „fruchtbar“ sind um Neues, „anderes Mögliches entstehen” zu lassen, das “wir bislang nicht in Betracht gezogen, ja nicht einmal vermutet haben.” Der grassierenden und geschürten Angst vor dem “Verlust der kulturellen Identität” setzt Jullien eindringlich seine – auch aus seinen Erfahrungen als Sinologe gestützte Mahnung für eine Öffnung entgegen, auch und gerade in globalen Zeiten. Nicht ganz einfach zu lesen, aber lohnenswert.
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Gabriele Krone-Schmalz: Eiszeit.
Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist
2017
Gabriele Krone-Schmalz ist eine, die man nur mit spitzen Fingern anfasst. Wie sie schon aussieht: „die strenge Meinungsdomina mit der eisgrauen Micky-Maus-Frisur“ (Bild). Was sie sagt und wie sie das tut, weiß man eh schon, weil sie nur ein Thema hat: „Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist.“ „Ansonsten vertritt sie ihre Thesen, die sie seit Jahren bei öffentlichen Auftritten runterplaudert: (…) Bei Widerspruch aus der Runde fährt sie pöbelnd auf: „Wollen Sie Zoff oder wollen Sie Gedankenaustausch?“ (…) Die anderen Gäste nehmen die Fouls der Provokateurin gelassen. Ihr „klügster Konterpart: Udo Lielischkies, aktueller ARD-Studioleiter in Moskau. Er nennt die Sichtweisen von Krone-Schmalz höflich ausgedrückt ‚merkwürdig’. (…) „Völliger Unfug! Sie bauen Ihre Mythen so schnell auf, dass man kaum hinterherkommt!“ (FR)
Ich wollte mal nachlesen, was an der Frau so gefährlich ist – und ich bin nicht der einzige. Mein Buch ist schon die 3. Auflage 2017. Ihr Anliegen scheint ein moralisch einwandfreies: der Frieden. Die Wege zum Ziel können unterschiedlich sein, Krone-Schmalz bevorzugt das Miteinander, die Verständigung, den Konsens, den „Wandel durch Annäherung“. Sie hält die Politik Russlands nicht für per se harmlos, doch gesteht sie dem Land eigene Interessen zu, die „der Westen“ kennen und respektieren müsse, um zu einem Ausgeich und zu nachhaltigen, das heißt auch: allmählichen Veränderungen zu gelangen. Dem Westen spricht sie diesen Willen und diese Fähigkeiten ab.
Wenn die eigene Position die einzig moralisch berechtigte ist und jeder Wohlmeinende diese teilen müsste, was bleibt dann für diejenigen, die nicht zum westlichen «Club» gehören? Wie soll man mit jemandem verhandeln, der im Grunde nur erwartet, dass sein Gegenüber den Widerstand gegen das Richtige und Gute endlich aufgibt? Der Westen ist zu echten Kompromissen nicht mehr in der Lage, weil er die eigene Weltsicht für alternativlos hält. Das hat etwas von missionarischem Eifer, der schon immer das beste Rezept war, um große Katastrophen herbeizuführen.
Sie führt das an einigen zentralen Beispielen vor: Der Westen betrachtet die von Russland vorgebrachten Interessen von vornherein als illegitim, sei es im Fall der Raketenabwehr, sei es im Fall der NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine. Einen Blick wirft sie auch auf die unnere Verfasstheit von russischer Gesellschaft und Politik. In Russland fehle eine bürgerliche Zivilgesellschaft und diese lasse sich auch nicht von außen überstülpen.
In Russland hat die westliche Konfrontationspolitik eine paradoxe Wirkung. Sie soll bekanntlich dazu beitragen, die russische Zivilgesellschaft zu stärken, den autoritären Staat zu schwächen und das Land zu liberalisieren. De facto bewirkt sie jedoch exakt das Gegenteil. Sie schwächt die westlich orientierten Kreise, stärkt nationalistische Positionen und schließt die Reihen hinter dem Präsidenten Wladimir Putin, der dem Westen Paroli bietet. Der Druck von außen führt auch dazu, dass die Regierung der Opposition und westlichen Nichtregierungsorganisationen grundsätzlich misstrauisch gegenübersteht und glaubt, sich weniger Liberalität im Inneren leisten zu können.
Auch der
Putin-Gegner und Korruptionsjäger Nawalny ist nicht der westliche Liberale, den sich viele wünschen, sondern nach eigener Bezeichnung ein «nationalistischer Demokrat». Er irritiert einen Teil seiner Anhänger immer wieder dadurch, dass er auch auf rechtsextremen Veranstaltungen spricht und sich einer fremdenfeindlichen Sprache bedient – und dies ist keine Kremlpropaganda, die erfunden wurde, um ihn zu diskreditieren, sondern hinreichend belegt.
Die Wahrheit, wenn es denn die eine gibt, selbst herauszufinden, ist dem Leser nicht möglich, man kann aber mit den veröffentlichten Nachrichten vergleichen und Plausibilitäten abwägen. Und wenn man sich auf Krone-Schmalz’ Beobachtungen einlässt, wird man das Weltbild, das viele “unserer” Medien verbreiten, als vorurteilsbeladen und ebenfalls mehr interessen- als wertegeleitet einstufen. Gabriele Krone-Schmalz belegt ihre Ausführungen mit über 600 Anmerkungen, aber wer wird das prüfen. Dem Leser empfiehlt sie dennoch: “Selber denken.”
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Guillaume Paoli:
Die lange Nacht der Metamorphosen. Über die Gentrifizierung der Kultur
„Guillaume Paoli kommt aus der kulturellen Ecke des Denkens. Er tat sich hervor als Begründer (der „Glücklichen Arbeitslosen“) und Manifestator, er veranstaltete Diskussionsreihen an der Berliner Volksbühne und wirkte als „Hausphilosoph am Leipziger Theater“ (Klappentext) So jemand denkt viel rum, kennt sich nicht nur in der Kultur aus, sondern auch in der Welt und im Kapitalismus – und er ist kein verbeamteter Wissenschaftler. Das tut meist der Sprache und dem Stil des Schreibens gut, denn als Festangestellter muss man zwar viel wissen, aber nicht mit seinen Ein- und Ansichten brillieren.
Das Buch heißt im Untertitel „Über die Gentrifizierung der Kultur“ und auf dem sehr gelben Einband brüllt ein Pudellöwe, vorderhälftig wie im Leben, das Hinterteil wie von Jeff Koons paillettiert. Es geht um Mutanten.
Nehmen wir vorübergehend diese Behauptung für unbezweifelbar: Eine anthropologische Mutation ist in vollem Gange. In letzter Zeit fand eine brachiale Veränderung statt, die die geistige Verfasstheit der Individuen betrifft. Sitten und Denkweisen, die vormals als selbstverständlich galten, scheinen nicht mehr nachvollziehbar, dafür werden Zustände akzeptiert, gegen die vergangene Generationen sofort auf die Barrikaden gegangen wären. Ohne dass eine physische Veränderung sichtbar wäre, unterscheidet sich der Jetztzeitgenosse in seiner Subjektivität, in seinem Bezug auf die äußere Welt, in seiner Art, mit anderen zu kommunizieren, in seiner Intimität, in seiner Kultur im weitesten Sinne des Wortes vom herkömmlichen Menschentyp so substanziell wie der Hund vom Wolf Die Hypothese klingt erst einmal eher unseriös und wie aus einem schlechten Horrorstreifen, ich weiß. Einstweilen sei zur Begründung bloß ein subjektiver Eindruck erwähnt. Immer häufiger begegnen sich Menschen, die sich, obwohl sie in derselben Stadt leben, dieselbe Sprache teilen und mehr oder weniger demselben sozialen Milieu und derselben Altersgruppe angehören, auf eine ganz neuartige Art fremd sind. Die einen gerieren sich wie die letzten Mohikaner und halten an Dingen fest, die offenbar im Begriff sind zu entschwinden, während die anderen die ganze Positivität eines unaufhaltbaren Wandels auf ihrer Seite zu haben scheinen.
Paoli findet diese Mutationen, die Metamorphosen in allen möglichen Sphären von Kultur, Kommunkation, Lebenswelten. Am Anfang steht – natürlich – der Neoliberalismus. “Er ist (…) vergegenständlichte Ideologie, ja die Chiffre für eine ganze Epoche. Das verleiht ihm den Status eines deprimierenden Fatums, also von etwas, das sich nicht mehr stoppen lässt. Und da der Neoliberalismus permanent daran arbeitet, die Menschen nach seinem Bilde zu schaffen, wäre die Hypothese einer anthropologischen Mutation nicht fehl am Platz. Diese en detail zu beschreiben wäre eine enzyklopädische Aufgabe. Schon die Inhaltsangabe lebt von der Wortphantasie:
“Prolog: #theorierecycling 7 1. Mutantengedanken 2. Der unüberschreitbare Horizont 3. Konfusionismen 4. Strandgut 5. Am Pflock des Augenblicks 6. Selfiction 7. When the music’s over 8. Die Welt als Hotel 9. Weder Volk noch Raum 10. Schreckgespenster 11. Dissensfindung”.
Übersetzt: Liberalismus als kleineres Übel – Natur und Fiktion – Pasolini und Situationismus – Stadt und Postmoderne – Selbststilisierung und Authentizität – “Ausmerzung der Geschichtlichkeit” – Popmusik nach ihrem Ende – Essenzialismus und Kosmopolitismus – Experten-Meritokratie – Trump als Avatar – Nietzsche und das erodierte Vetrauen der Menschen in alles.
Mangels verfügbarer Erklärungen wird im Reich des Guten das Zeitgeschehen zunehmend einer mittelalterlichen Chronik ähnlich, ein unentwirrbares Durcheinander von zusammenhanglosen Ereignissen und irrationalen Gerüchten, Überfällen von Sarazenen und kollektiven Hysterien, schicksalhaften Unfällen und obskuren Verschwörungsvermutungen, apokalyptischen Prophezeiungen und frommen Erlösungswünschen. Es wird sogar erzählt, dass die Wölfe in die Stadt zurückgekehrt seien.
So leben wir fortan in einem ZombieZeitalter. Welch eine außerordentliche historische Situation: Ein System hat die praktische Widerlegung all seiner Grundsätze überstanden und lebt als Untoter weiter. Es verzichtet auf jeglichen Legitimationsgrund außer: Ich bin hier, und wo ich nicht bin, ist es noch schlimmer. Mehr wird nicht versprochen. Vergessen selbst der trickle down effect, dieses zynische Märchen, wonach die effektivste Weise, Arme zu ernähren, darin bestünde, die Reichen sich vollstopfen zu lassen, damit genug Brosamen vom Tisch fallen. Nicht einmal ein Gleichgewicht der Märkte wird noch behauptet. Wie die Japaner auf das kommende Erdbeben, warten alle gebannt, bis die nächste Blase platzt.
Guillaume Paoli findet in seinem und unserem Leben eine Fülle von Beispielen, die er mit Verve zu einem Netzwerk der Kulturmetamorphosen verknüpft. Die Muster zeigen subjektive Geschmäcker des Autors, zu lesen ist das Buch durchaus vergnüglich. „Paoli ist vielmehr der seltene Glücksfall eines konzentrierten Plauderers, temperamentvoll, aber nachdenklich. (…) Klüger und klarer wurde über die Kompliziertheit der Lage im Jahr 2017ff bislang selten geschrieben.“ (Jens-Christian Rabe, SZ)
Es wird nicht viel hängenbleiben, sind wir doch alle gezüchtete Mangelmutanten.
Leseprobe beim Verlag Matthes & Seitz
„Desatomisierung“ | Künstler*Innengespräch mit Guillaume Paoli
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Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil
Didier Eribon treibt weiter die Frage um, wie sehr man von seiner Herkunft determniniert sit und wieweit es möglich ist, sich von seiner Familie, seiner Region, seiner Klasse zu distanzieren, sie gar zu verlassen.
Jede Begegnung zwischen zwei Personen enthält immer auch die gesamte Geschichte der sozialen Strukturen, der etablierten Hierarchien und der von diesen eingesetzten Herrschaftsweisen. Die Gegenwart jedes Einzelnen wird geprägt von seiner individuellen Vergangenheit, welche wiederum von der kollektiven, unpersönlichen Vergangenheit der sozialen Ordnung mit ihrer inhärenten Gewalt geprägt ist.
Eine bedeutsame Rolle spielen bei dieser „Prägung“ die Kultur und – wohl noch stärker als in Deutschland –das Bildungswesen.
Das Licht, das die Kultur für alle darstellt, die einen Zugang zu ihr und in ihr die Mittel zu einer Emanzipation finden, hat allerdings eine dunkle Kehrseite: die Gewalt einer Trennung, durch die so viele Menschen von dem ausgeschlossen werden, was die Gesellschaft in den allgemeinsten Diskursen über sich selbst – besonders in ihren institutionellen Dispositiven, aber auch in der Selbstdarstellung ihrer »Eliten« – als die edelsten Errungenschaften bezeichnet, als das Erstrebenswerte schlechthin. Erst viel später wurde es mir möglich, diese Funktion der Kultur zu begreifen, ihren durch das Schulsystem vermittelten Beitrag zur Legitimation und Verstetigung sozialer Ungleichheit. Mit Blick auf die vehementen Attacken aus dem Lager der französischen Rechtsextremen auf Andre Gide, der sich Anfang der dreißiger Jahre zum Kommunismus und zur Verteidigung der ausgebeuteten Massen bekehrte, spricht Walter Benjamin ohne große Umschweife von einer substanziellen Relation zwischen Kultur und Faschismus: »Die Ausbildung des Kulturbegriffs scheint einem Frühstadium des Faschismus anzugehören.«‘ Gesellschaftlicher Dünkel und die nacktesten Formen von Herrschaft werden mit dem Argument gerechtfertigt, dass zum Bereich der »geistigen Werke« nur ausgesuchte Menschen Zugang haben sollten. Dass dieser kulturelle Elitismus, dieser »Kulturfaschismus« heute bei bester Gesundheit ist, davon kann man sich fast täglich überzeugen (der Hass, der Bourdieu heute wie seinerzeit Gide entgegenschlägt, ist dafür ein sicheres Zeichen). Man ist immer versucht, solche ekelhaften Äußerungen als etwas Punktuelles und Isoliertes anzusehen, als die Aufwallungen von einigen verbitterten Ideologen, die es für einen Ausweis ihrer »Kultiviertheit« halten, wenn sie »die Kultur« gegen »das banausische Volk« verteidigen (und natürlich gegen die Immigranten, die noch nicht einmal die Sprache beherrschen!). Man vergisst dabei allzu leicht, dass solche pathologischen Extreme nur die politische Kehrseite der fast schon banalen, normalen, rituellen Feiergesänge auf die »Größe« und »Höhe« der Kultur sind.
Nachdem er in „Rückkehr nach Reims“ sich persönlichen Identitäten widmete, nach dem Klassenstandpunkt seiner als Arbeiter in Reims zurückgebliebenen Familie fragte, setzt er sich im Nachfolge- und Ergänzungsbuch nach vertiefenden Spekulationen mit Identitätsverlust und -suche anderer Autoren auseinander. Mit Annie Ernaux beschäftigt er sich kurz, den größeren Teil von „Gesellschaft als Urteil“ nehmen Veröffentlichungen von Raymond Williams, Richard Hoggart und Paul Nizan ein. Eribon wird dabei spezieller, die Leseerkenntnisse sind für mich weniger übertragbar auf eigene Gedanken.
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Volker Weidermann: Die Träumer
MITTENDRIN |
Es geht weiter von Kaserne zu Kaserne. Das Vorgehen ist immer gleich. Einige Männer gehen hinein, draußen warten Eisner und die anderen, irgendwann öffnet sich ein Fenster und eine rote Fahne weht heraus. Es war turbulent, schnell, in all der Erschöpfung der |
DER LESER FRAGT SICH |
Die Gruppen teilen sich, am Rande des Weges werden immer |
MIA SAN MIA |
Graf und Schorsch haben den Anschluss verloren. Sie gehen |
STIMMUNG |
Als die zwei Revolutionäre den Franziskaner verlassen und zurück Richtung Altstadt gehen, herrscht reges Treiben auf den Straßen. |
SCHWEINSHAXN & DIE ROTE WELT |
Währenddessen ist der große Trupp ins Mathäserbräu zwischen Hauptbahnhof und Stachus weitergezogen. Neun Uhr abends, auch hier Wurst und Bier und Schweinshaxn, aber keine Gemütlichkeit, sondern laute Emsigkeit, freudige Konzentration, Unglaube und Entschlossenheit. Ein Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat wird gewählt, Organe der Selbstverwaltung nach Vorbild der russischen »Sowjets«. |
EISNER, MANN & OSKAR MARIA |
Kurt Eisner reißt sich selbst mit und den ganzen Saal. Er Doch wenn er ehrlich ist, hat Thomas Mann nur einen echten Wunsch in diesen turbulenten Tagen: »Ich wünsche, nicht zu verarmen, das ist der Wunsch, den ich anmelde.« In den Bierkellern der Vorrevolution ist er naturgemäß nicht dabei. Aber er hat seine Leute, er lässt sich berichten. Oskar Maria Graf läuft durch die Stadt, die Hauptstadt der Er geht nach Hause. Schreibt einen Brief an sein schwarzes Fräulein, beginnt immer und immer wieder von vorn. Weltschmerz, Sehnsucht, Bedrückung. Ein Mann taumelt in der Revolution, die er sich erträumt hatte und die nun irgendwie so unwirklich, so läppisch, so falsch war. »Ich weiß nicht, was ich bin und wohin ich gehöre«, schreibt er. »Aber es kommt mir doch manchmal vor, als wenn die anderen auch nicht recht viel anders wären als ich.« . |
Die Jahrestage sind zwar erst im November dieses und im Frühling des nächsten Jahres, doch Volker Weidermann wollte schnell am Markt sein. Er nimmt mich mit in dieÜberspanntheiten und Eskapaden der Münchner Räterepublik nach dem Ende von WK1. Bayern ist bei Norddeutschen für allerlei Exotik bekannt und das Treiben in München liefert viel Stoff dazu. (München steht hier für Bayern, obwohl das restliche Bayern an den politischen Luftsprüngen keinen Anteil hatte. Im Gegenteil.) „Träumer“ ist kein historisches oder politisches Sachbuch, es fehlen die Hintergründe und Zusammenhänge, es ist eine vielschichtige Erzählung über ein paar Literaten und andere Künstler, die durch einen Streich des Schicksals in eine Revolution geraten sind und sich überraschend als politische Gestalter wiederfinden. Weidermann erzählt mit erkennbarer Anteilnahme, er dichtet dazu, was nicht verbürgt ist, eine verhaltene Ironie lässt sich nicht vermeiden. Schön zu lesen wie auch sein Buch über einen „Sommer der Freundschaft unter Literaten, die es 1936 auf vorübergehendes Exil nach „Ostende“ T(itel) verschlagen hat.
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Terry Eagleton: Kultur
Terry Eagleton ist ein „distinguished“ englischer Literaturtheoretiker (geb. 1943), der sich „ebenso selbstverständlich zu seiner Prägung durch den Katholizismus“ bekennt, „ wie er sich im postkommunistischen Zeitalter als Marxist bezeichnet“ (Magnus Klaue, FAZ). Sein kleines Buch „Kultur“ von 2016 hat drei Teile. Im ersten grenzt er seinen Begriff von Kultur ab von der Zivilisation und der Kunst.
Vielleicht ist es nicht zu pedantisch, hier zwischen lappländischer Kultur und lappländischer Zivilisation zu unterscheiden. Malerei, Kochkunst und sexuelle Einstellungen in Lappland wären der Kultur zuzurechnen, während Nahverkehrssystem und Zentralheizungstechnik unter Zivilisation fallen würden. (…) Zur australischen Kultur gehört sicherlich nicht die Tatsache, dass es zahlreiche Autovermietungen in Alice Springs gibt, wohl aber beinhaltet sie Barbecues, Australian Football und Strandaufenthalte. Die britische Kultur reicht von der Liebe zu Ironie und Understatement bis zum Tragen roter Plastiknasen bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Ausführlich und politisch pointiert nimmt Eagleton Stellung zu „Postmodernen Vorurteilen“:
Das Interesse für Pluralismus, Differenz, Diversität und Marginalität hat einige wertvolle Erkenntnisse gebracht, hat aber auch dazu geführt, dass die Aufmerksamkeit von verschiedenen eher materiellen Fragen abgelenkt wurde. Mancherorts ist Kultur zu einer Möglichkeit geworden, nicht über Kapitalismus zu reden. Die kapitalistische Gesellschaft verbannt ganze Heerscharen ihrer Bürger auf die Müllhalde, achtet aber höchst feinsinnig darauf, deren Überzeugungen nicht zu verletzen. Kulturell betrachtet wird uns allen der gleiche Respekt zuteil, während ökonomisch betrachtet die Schere zwischen den Almosen- und den Dividendenbeziehern immer weiter aufgeht. Der Inklusivitätskult trägt zur Verschleierung der materiellen Unterschiede bei. Das Recht, sich zu kleiden, zu beten oder Sex zu haben, wie man möchte, wird in Ehren gehalten, aber keiner schert sich darum, wenn den Menschen das Recht auf einen angemessenen Lohn verweigert wird.
Der Mittelteil stammt aus Eagletons Archiv und befasst sich mit Kulturtheoretikern von Edmund Burke über Friedrich Schiller, den „romantischen Nationalisten“ Johann Gottfried Herder und Friedrich Nietzsche bis hin zum „Kulturapostel“ Oscar Wilde. Im Zentrum des dritten Teils stehen Bestimmungen und Auswirkungen der „Kulturindustrie“ innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Abschnitte sind die interessantesten, weil sie fruchtbar sind auch für aktuelle Debatten bis hin zur gegenwärtigen Migration.Auch hier ist der Kulturdiskurs explizit politisch.
Kulturell betrachtet, geht es dem Kapitalismus weniger um Hierarchie als um Hybridität – um Mischung, Verschmelzung, Vielfalt -, während, materiell betrachtet, die Kluft zwischen den sozialen Klassen ultra-viktorianische Ausmaße annimmt. Es gibt viele Kulturwissenschaftler, die Ersteres zur Kenntnis nehmen, Letzteres aber nicht. (…)Die Kulturindustrie zeugt weniger von der zentralen Bedeutung der Kultur als vielmehr von den expansionistischen Ambitionen des spätkapitalistischen Systems, das nun Phantasie und Unterhaltung so umfassend kolonisieren kann, wie es einst Kenia und die Philippinen kolonisierte. Paradoxerweise büßt die Kultur ihre Autonomie umso stärker ein, je mehr Bedeutung sie als Massenkultur gewinnt und je mehr sie als eigenständiges Phänomen erscheint. Je größer der Einfluss dieser Art Kultur, desto mehr stärkt sie ein globales System, dessen Ziele der Kultur in der normativen Bedeutung des Wortes größtenteils feindselig gegenüberstehen.
Besonders kritisch bedeuert Eagleton den „weltweiten Niedergang der Universitäten„, speziell den „Tod der Geisteswissenschaften„. „Gegenwärtig werden die jahrhundertealten, traditionsreichen Universitäten als Zentren humaner Kritik zerschlagen, indem sie unter der Herrschaft einer philisterhaften Managerideologie in pseudokapitalistische Unternehmen umgewandelt werden. Die akademischen Institutionen, einst Schauplatz kritischen Denkens, werden wie Wettbüros und Imbissketten zu bloßen Marktorganen.“
Terry Eagleton schreibt im englischen Stil, konsequent in der Aussage, locker lakonisch im Ton, betont lustig in der Kombination der Beispiele.
Seite der englischen Wikipedia
Some articles by Eagleton in der London Review of Books
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Zygmunt Baumann:
Die Angst vor den anderen.
Ein Essay über Migration und Panikmache
Zygmunt Baumann sucht in seinem psychologisch und philosophisch geprägtem Sozialarchiv nach Erklärungen für die forcierte Fremdenfeindlichkeit in Zeiten erhöhter Migration. Der erste ist die weitreichende „Individualisierung“, der zweite die „Erosion der territorialen Souveränität“. Auf dem Weg von der „Disziplinargesellschaft” der noch nicht ‘flüchtigen’, sondern’soliden’ Moderne« zur “Leistungsgesellschaft” “wird die Unsicherheit des menschlichen Daseins privatisiert und die Verantwortung für den Umgang damit dem schwachen Einzelnen aufgebürdet, während die existenziellen Notlagen und Schicksalsschläge als Doit-yourself-Jobs abgetan werden, die dummerweise von den Betroffenen selbst verursacht worden sind”. “Das Gespenst, das in einer Gesellschaft von Menschen umgeht, die vor allem Leistung erbringen sollen und wollen, ist die Angst, sich selbst als ungenügend – unfähig und ineffizient – zu fühlen, und die Angst vor den unmittelbaren Auswirkungen dieser Einsicht – dem Verlust der Selbstachtung – sowie ihren wahrscheinlichen Folgen: Ablehnung, Verbannung und Exklusion. Als Erzeuger der offiziellen Angst schüren die Machthaber unablässig die existenzielle Unsicherheit, aus der dieses Gespenst hervorgegangen ist und immer wieder neu geboren wird. Die Machthaber tun alles, um dieses Gespenst so greifbar und glaubwürdig – so »realistisch« – wie möglich zu machen; schließlich ist es die offizielle Angst ihrer Untertanen, die sie letzten Endes an der Macht hält.”
Man hat das Gefühl, ein Opfer zu sein. Opfer wovon? Von Umständen, auf die man nur sehr geringen oder gar keinen Einfluss hat – von Kontrolle gar nicht zu reden. Wir sprechen hier gerne von »Schicksal«, doch mit dieser Bezeichnung machen wir alles nur noch schlimmer. Dann sind wir nicht nur Versager, sondern dazu noch kurzsichtige, unwissende oder unfähige und tölpelhafte Versager, wodurch die Schmach und die daraus folgende Selbstverachtung sich verdoppeln: Das Schicksal hat kein Gesicht, und meist ist es aussichtslos, ihm ein Gesicht geben zu wollen. Um diese Erniedrigung zu vermeiden und etwas von ihrer Würde und Selbstachtung zu retten, müssen die Opfer diejenigen ausmachen und benennen, die sie zu Opfern gemacht haben; und diese Leute müssen ein erkennbares Gesicht haben, damit man sie lokalisieren und mit einem Namen belegen kann. (…) Migranten und vor allem die Neuankömmlinge unter ihnen erfüllen alle diese Voraussetzungen bestens.
Mit Miroslaw Hroch sieht Baumann Nationalismus und den Verweis auf die ethnische Zugehörigkeit als »Ersatz für Integrationsfaktoren in einer desintegrierenden Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft zerfällt, erscheint die Nation als letzte Garantie.« Individuell nicht aufzulösende Diskrepanzen in Denken und Wollen – kognitiven Dissonanzen – verwirrten die Wahrnehmung und lenkten die”Hoffnungen auf einen Retter und Erlöser, einen von der Vorsehung geschickten Mann (oder eine Frau) setzen, nach einer eisern, militant, kämpferisch nationalistischen Gestalt suchen – nach jemandem, der den globalisierten Planeten draußen zu halten und die Tore zu schließen verspricht, die doch schon längst aus ihren Angeln gehoben (oder vielmehr aufgebrochen) und daher nutzlos geworden” sind. “Die Attraktivität der Anwärter auf die Rolle des starken Manns oder der starken Frau gründet auf ihrem Versprechen, zu handeln (auch wenn ihr Handeln sich im Augenblick auf Reden beschränkt), und auf dem Umstand, dass sie immerhin behaupten, sie könnten es anders machen, es gäbe eine Alternative – und zwar sie selbst. Und schließlich beruht die Verführungskraft der starken Männer und Frauen auf dem Umstand, dass all diese Versprechungen und Behauptungen ungeprüft bleiben.”
Zygmunt Baumann versieht die “anthropologischen Wurzeln des Hasses” auf die Frremden mit zeitbedingten Gründen. Er lässt den Leser nicht allein und postuliert am Schluss “eine Gegenkraft: das Phänomen der Begegnung, die zu einem Dialog führt, der zwar nicht unbedingt auf Einvernehmen, sicher aber auf wechselseitiges Verständnis zielt”.
2016
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Sarah Bakewell:
Das Café der Existenzialisten.
Freiheit, Sein & Aprikosencocktails
Als ich mit Anfang zwanzig erstmals Heidegger las, verfiel ich der Magie des Zauberers von Meßkirch. Mein Blick auf die Welt wurde von seinem schieren Erstaunen darüber beeinflusst, dass es tatsächlich etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Ich war beeindruckt von seiner Betrachtung von Landschaften und Gebäuden und von dem Gedanken des Menschen als «Lichtung», auf die das Sein hinaustritt.” “Auf ganz andere Weise hat mich der zweite Gigant des Existenzialismus überrascht, Sartre, der mich mit seinem Roman Der Ekel früh für die Philosophie begeistert hatte. Ich wusste, er würde in meinem Buch eine herausragende Rolle spielen, ohne zu ahnen, wie sehr ich ihn am Ende wertschätzen, ja mögen würde.
Jetzt erkennt sie, dass “Eigentümlichkeiten der Persönlichkeit oder die Details der Biographie eines Philosophen bedeutsam sein” können und deshalb schrieb die 1962/63 Geborene 2016 eine leichtfüßige, anekdotische Revue der Existenzialisten. Ausgehend von ihrer intellektuellen und Lesebiografie erzählt Sarah Bakewell vom Denken und Streiten, vom Schreiben und Trinken, von Liebschaften und Intrigen, von allerlei Indiosynkrasien gewichtiger Existenzialisten. Am meisten Raum nehmen Heidegger und Sartre ein, doch auch Simone de Beauvoir, Raymond Queneau, Boris Vian, Hannah Arendt, Maurice Merleau-Ponty und andere dürfen ins Café. (Wobei Husserl mit seiner Flucht beschäftigt ist und Heidegger nicht aus seiner Schwarzwaldhütte tritt.) Mit Bakewell lassen sich die Denkrichtungen durch die 1940er und 1950er Jahre verfolgen, ich lese eine anschaulicheEinführung in den Existentialismus und versteh’ ein bisschen mehr. Was mir aber fremd bleiben wird, ist die „magische Anziehungskraft” Heideggers auf Frauen und Studenten und spätere Philosophen. “Wenn wir von unserer Natur her zeitliche Wesen sind, bedeutet eine
authentische Existenz zuallererst, dass wir unsere Endlichkeit und Sterblichkeit akzeptieren. Wir werden sterben. Diese überaus wichtige Erkenntnis nennt Heidegger das authentische «Sein zum Tode».“ Es ist für seine Philosophie grundlegend.“ Kann diese ‘Erkenntnis’ jemals verborgen gewesen sein? Sartre verstand Heidegger nicht, auch sonst niemand verstand ihn, auch Husserl, sein Lehrer, verstand ihn icht.
Als er jedoch Heidegger freundschaftlich erzählte, er sei oft genug gewarnt worden, Heideggers Phänomenologie sei etwas völlig anderes als die seine, lachte der nur und sagte: «Unsinn!»
Privat jedoch äußerte sich Heidegger durchaus abschätzig über Husserls Philosophie. Noch als sein Mentor ihm überschwänglich lobende Empfehlungsbriefe schrieb, sagte er über ihn: «Huss. war nie auch nur eine Sekunde seines Lebens Philosoph. Er wird immer lächerlicher.»“
2016 350 Seiten
der Freitag: Das Buch der Woche
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Elisabeth Wehling: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht (2016)
Im ersten Teil gibt Elisabeth Wehling ihr Wissen über Mechanismen des sprach- und begriffgeleiteten Denkens weiter, erklärt die zugehörigen Begriffe und stellt das Instrumentarium für die Analyse der oft/weitgehend unbemerkten (Selbst-)Manipulationen des Denkens und – folgend – politischen Handelns bereit. Der Leser fühlt sich, als wäre er bei Wehling im Seminar, er wird bei der Hand genommen, direkt angesprochen und mit der Nase auf die grundständigen Prozesse gestoßen. „Kann ja jeder behaupten, sagen Sie vielleicht. Zu Recht. Ich trete also kurz die Beweisführung an. Lesen Sie einmal.” (Den Begriff „Hebbian Learning“ habe ich nicht gekannt: „Auch sprachliche Erfahrung verändert also unser Gehirn im Zuge des Hebbian Learning. je öfter wir Worte oder Sätze hören, die bestimmte Ideen miteinander assoziieren, desto selbstverständlicher wird diese Assoziation Teil unseres alltäglichen Denkens und formt langfristig unsere Wahrnehmung.”) Sie kennt Beispiele ohne Ende, als Skeptiker bezüglich der Studien zur psychologischen Verhaltensökonomie (Daniel Kahnemann) halte ich manche gezogenen Zusammenhänge für recht gewagt.
In einem Experiment an der Princeton-Universität haben Forscher kürzlich folgenden Versuch gemacht: Man ließ Probanden sich entweder nach rechts oder links bewegen – zum Beispiel, indem man den Stuhl auf dem sie saßen, so manipulierte, dass er sich leicht nach rechts oder links neigte. Dann ließ man sie eine politische Meinungsumfrage ausfüllen. Und tatsächlich: Diejenigen Probanden, die nach rechts gelehnt saßen, rutschten auch in ihren politischen Positionen signifikant >nach rechts<, also hin zum Konservativen; und jene, die nach links gelehnt saßen, rutschten auch politisch signifikant >nach links<, also hin zum Progressiven (OPPENHEIMER/TRAIL 2010).
Der zweite Teil des Buches ist die Anwendung. Wehling erläutert an Beispielen aus dem politischen Denken (Reden, Schreiben) die Wirkmächtigkeit des Framing. Sie behandelt Themen wie: Steuern, Sozialstaat, Arbeit, Abtreibung, vieles davon kennt man schon, manche Thesen wirken etwas dezidiert. Aktueller, wenn auch nicht ganz neu, sind Kapitel zu „Islam und Terrorismus“ sowie „Zuwanderung und Asyl“. Viele ihrer Beispiele stammen aus den letzten Jahren und thematisieren Wertungen durch begriffliche Metaphorik (Die Nation als „Schiff/Boot“, die „Phobie“ beim Denken an den Islam, etc.). Was mir fehlt, sind Analysen, die eine ganze Textstruktur betreffen und nicht bloße Aneinanderreihungen von Schlagwörtern sind. Framing geht ja wohl über die Metaphorik hinaus.
Eine Zusammenschau in angenehm kurzen Kapiteln, als Abriss etwas über Wert verkauft.
TEIL EINS – DEMOKRATIE IM GEHIRN:
DIE SPRACHLICHEN SOCKEL POLITISCHEN DENKENS UND HANDELNS
als pdf der Bundeszentrale für politische Bildung
Interview mit Elisabeth Wehling in der ZEIT vom März 2016
Elisabeth Wehling ist beliebter Gast im Fernsehen (youtube-Übersicht)
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Carlo Strenger: Abenteuer Freiheit.
Ein Wegweiser für unsichere Zeiten
2017
In der „westlichen Kultur“ ist der „autonome Mensch, der keinen vorgegebenen Identitäten verpfichtet“ ist, das Ideal des „freien „ Menschen, wobei diese Freiheit auch Überforderungen und Ängste zeitigt. “Die größte Leistung der westlichen Moderne besteht darin, es den Individuen ermöglicht zu haben, ihr Leben frei nach bestem Wissen und Gewissen zu gestalten, und ihnen ein breites Spektrum von Lebensformen und -stilen zur Verfügung zu stellen.”
Die freiheitliche Ordnung des Westens “ist dadurch definiert, dass sie die Frage nach dem Großen Sinn ins Private verlagert hat. In einer freiheitlichen Ordnung kann und darf keine Institution, keine Gruppe und kein Einzelner ein Monopol auf diesen Sinn beanspruchen, jede Ausübung von Zwang in Glaubensfragen gilt als Verletzung unseres Grundrechts auf persönliche Freiheit. Aus existenzialpsychologischer Sicht ist diese Freiheit einerseits eine Errungenschaft, andererseits stellt sie eine Last dar. Anders als zu den Zeiten unserer Vorfahren ist es heute nicht länger möglich, irgendein Sinnsystem als selbstverständliche Gegebenheit zu akzeptieren. Das bedeutet zugleich, dass es die für die bestehenden Systeme, vor allem die Religionen, immer schwieriger wird, ihre ursprüngliche Schutzfunktion auszuüben.”
Mit Sigmund Freud insistiert er darauf, dass “wirkliche Freiheit bestenfalls eine Errungenschaft” sei, die nur “durch harte Arbeit erworben werden könne. Gemäß dieser Auffassung sind persönliche und politische Freiheit überaus komplexe kulturelle Schöpfungen, die an die Mitglieder freier Gesellschaften hohe Ansprüche stellen. Die Dynamik des Erwachsenwerdens besteht darin, dass wir für uns selbst immer mehr Verantwortung übernehmen müssen.” “Kulturkritiker” wie Michel Houellebecq, Benjamin Barber, Alain Finkielkraut oder John Gray würden nicht verstehen, “dass es ein schwerwiegender, fast metaphysischer Fehler ist zu glauben, es gebe für alle Probleme eine technische Lösung und alle Schwierigkeiten könnten letztlich von irgendeiner Instanz beseitigt werden. Menschen mit einer solchen Mentalität weigern sich, die tragische Dimension unserer Existenz zu akzeptieren. Sie wollen sich nicht eingestehen, dass das menschliche Dasein wesentlich von nicht lösbaren Konflikten und Spannungen geprägt ist.” Bloßer Konsumismus oder die Erwartung staatlicher Fürsorge seien kein Ersatz für die individuelle Anstrengung, die Disziplin, Freiheit zu erarbeiten.
Carlo Strenger ist Psychologe und beruft sich bei seinen Thesen auf den Fundus seiner Arbeit und Forschung, im zweiten Teil befasst er sich mit der modernistischen Kunst, der Freiheitsvorstellung im Existenzialismus, zieht auch Beispiele aus dem – nicht mehr ganz neuen – Film heran. Weder seine Thesen noch seine Beispiele sind neu, doch arbeitet er Strukturen heraus, die auch zur Erklärung von religiösem Fundamentalismus oder der Angst vor Fremden herangezogen werden können.
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Stephan Rammler:
Volk ohne Wagen.
Streitschrift für eine neue Mobilität
2017
Stephan Rammler ist Professor für Transportation Design & Social Sciences und kennt sich als solcher aus mit Fragen des Verkehrs. Es geht ihm nicht nur um veränderte Antriebsformen (Elektroauto), sondern um grundlegende Probleme der (Auto)Mobilität und eine “zukunftsfähige Automobilpolitik”. Behandelt werden Themen wie fossile und erneuerbare Energieversorgung, Vernetzung verschiedener Arten der Mobilität, Digitalisierung, Abgase, Parkraum, Car-sharing und manches mehr. Der Nutzen der “Streitschrift” liegt in der umfassenden Themenverbindung und den Gedanken zu Perspektiven einer Mobilität, die weggeht vom privatgenutzten Automobil.
Stephan Rammler ist Professor für Transportation Design & Social Sciences und schreibt auch so. Dass Fachbegriffe nötig sind, seht außer Frage, Rammler aber schwelgt in ihnen, was zusammen mit einem wenig reflektierten Satzbau zum Drüberweglesen verführt. Der Aufbau scheint in der Inhaltsangabe logisch und systematisch, in der Darstellung ergeben sich aber kaum zu ertragende Redundanzen. Mag sein, dass dies in seiner Zunft übliches Publizieren ist, für den interessierten Laien mindert es den Nutzen erheblich. “Für eine Streitschrift aber bleiben Rammlers Darstellungen zu abstrakt und zu sehr verhaftet in der Sprache der verwalteten Welt. Pauschale Behauptungen werden ohne differenzierende Belege ebenso wiederholt wie Stereotype, wie sie tagtäglich in politischen Statements kursieren. Ein ums andere Mal wird die gute Absicht in einem abstrakten, über den Problemen schwebenden soziologischen Jargon begraben, ob vom „Ressourcenkuchen, der gleich bleibt“, von einer Politik „für die Politikbetroffenen“ oder einem „Minimalanforderungsprofil“ die Rede ist.“ (Thomas Wagner, stylepark) Ich finde zu wenig konkrete Informationen, mit denen sich argumentieren ließe. Ulkig ist, dass Rammler sich nicht für seinen Kreisverkehr-Stil entschuldigt, sondern für „nüchterne politikprogrammatische Textexegese” in einem Abschnitt. (Auch hier erfüllt er seine Ankündigung nicht.)
Insofern die unterschiedlichen Innovationskorridore der Digitalisierung der Mobilität alle im weitesten Sinne zu einer Effizienzsteigerung der Nutzung einzelner Produkte führen bzw. auf eine gesamtsystemische Effizienzsteigerung abzielen und damit eine enorme Technologierendite versprechen, ist das Thema der Reboundeffekte gerade hier unbedingt mit im Blick zu behalten, vor allem wenn man mit dem Einsatz digitaler Technologien auf eine ökologische Gesamtoptimierung abzielt. Als eine direkte Schlussfolgerung ergibt sich aus den digitalen Rebounds, dass digital unterstützte verkehrssystemische Innovationen mit ökologischem Anspruch immer im Gesamtkontext komplementärer Handlungsansätze zu betreiben sind. Einer etwaigen Optimierung des urbanen Verkehrsflusses für den fließenden und ruhenden Verkehr durch verkehrstelematische Lenkung digital vernetzter, womöglich sogar autonomer Autoflotten stünde in dieser Denkweise dann also die Notwendigkeit eines Handlungsansatzes gegenüber, der die weiteren, dadurch möglichen Wachstumsprozesse der Automobilität durch geeignete fiskal- oder ordnungspolitische Instrumente auf ein gewünschtes Niveau reguliert. Damit ist nun auch die Möglichkeit generalisierter, gesamtgesellschaftlicher Reboundeffekte der Digitalisierung angesprochen. Hier kann vielleicht eine Metapher dem Verständnis weiterhelfen, die den funktional hochdifferenzierten und deswegen strukturell auf ein hohes Maß an integrationsleistender Mobilität angewiesenen »Organismus der Gesellschaft« mit allen seinen Straßen, Leitungen und Austauschprozessen gleichsetzt mit dem biologischen Organismus, seinen Blutbahnen, Nervenleitungen und Schaltzentralen. Zu befürchten ist nun, dass die Digitalisierung auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gesamtorganismus so wirken könnte, wie viele Liter koffeinhaltige Getränke oder aufputschende Drogen auf den menschlichen Organismus wirken würden: Es kommt zu einer enormen Beschleunigung und Dynamisierung aller körperlich-metabolischen bzw. gesellschaftlichen Vorgänge, zu eher kurzfristigen Steigerungseffekten – und eben nicht zu nachhaltig-dauerhaften Entwicklungen -, mit allen damit verbundenen Effekten eines gesteigerten Ressourcendurchsatzes, Flächenverbrauches, Zerstörung sozialer Strukturen und Institutionen etc. vorgeschlagen – allein durch eine am Effizienzzuwachs orientierte allgemeine Verbrauchsbesteuerung von Energie und Ressourcen ausgeglichen werden.
Auf die pointierte “Streitschrift” muss man weiter warten.
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Philipp Blom:
Was auf dem Spiel steht
2017
Wenn Historiker über die Gegenwart schreiben, kann man meist beruhigt weiterleben. Sie wissen, dass alles schon einmal da war und sie verstehen es, das Jetzt in die Geschichte einzuordnen. – “Demokratie und Menschenrechte sind nicht die Norm und keine logische Folge des Fortschritts. Sie sind eine junge und seltene historische Ausnahme, vielleicht nur eine Episode.” Philipp Blom weiß in seinem neuen Buch, „Was auf dem Spiel steht“ und er gibt auch schon auf der Rückseite die Antwort: „Alles steht auf dem Spiel!“
Katastrophismus? Ja, aber psycho-sozial-historisch abgeleitet. Die Menschen und ihre Geschichte sind – wieder einmal – an eine „globale Zäsur“ geraten. „Geben wir es zu: Wachstum durch Ausbeutung, das Geschäftsmodell der westlichen Gesellschaften, ist bankrott.” „Wir leben in reaktionären Zeiten, weil viele begriffen haben, dass das gegenwärtige Geschäftsmodell des Westens über kurz oder lang katastrophale Konsequenzen haben wird und bereits hat.”
Ein wesentliches Problem ist, dass die Digitalisierung (wie auch der Klimawandel) schneller voranschreitet, als Gesellschaften sinnvoll darauf reagieren können. Der Niedergang der linken Parteien ist ein Indiz für die Schwierigkeit von Gesellschaften, ihre eigene Struktur und vielleicht auch ihre Ideen an neue, technologisch geschaffene Realitäten anzupassen. Ein Grund dafür ist auch, dass Ideen und gesellschaftliche Einstellungen nicht so einfach auswechselbar oder aktualisierbar sind wie Software. Ideen leben und sterben mit den Generationen, in denen sie geboren werden. Wenn der technologische Wandel schneller ist als der Generationenwechsel, entsteht notwendigerweise eine gewisse Verwerfung.
Das sind historische Linien, die Blom zieht, das sind Gedanken an die Krise und an das Ende der Aufklärung, das sind Ängste um die Bewahrung der Demokratie und des Lebens.
Was passiert in einer Demokratie, wenn zu viele Leute einfach keinen Bock haben auf Veränderung? Was passiert, wenn zu wenig Zeit bleibt, um sie umzustimmen?
Was passiert, wenn Gesellschaften, die Zukunft vermeiden wollen, die nur wollen, dass die Gegenwart nie aufhört, und deren politische Allianzen auf Statuserhalt ausgerichtet sind, auf die mächtigste Stromschnelle der Geschichte treffen?
Blom sieht zwei Alternativen:
Wenn die liberale Demokratie in den Augen so vieler so dramatisch versagt und so offensichtlich immer weniger imstande ist, die fundamentalen Versprechen des Gesellschaftsvertrags einzuhalten, dann ist es verständlich, dass sich die Menschen nach Alternativen umsehen, die ihnen eher geeignet erscheinen, ihre Interessen zu wahren, und die auch ihrem Selbstbild stärker entsprechen. So hat sich die Zukunft der reichen Welt in einen liberalen und einen autoritären Traum aufgespalten, die beide nicht notwendigerweise demokratisch sind oder Menschenrechte respektieren. Ich nenne diese beiden Träume den Markt und die Festung.
Hinter diesen Bildern stehen keine Ideologien, sondern Haltungen zur Welt, die eine geprägt von einer grundsätzlichen Offenheit (für wen, bleibt zu fragen), die andere vom drängenden Verlangen nach Sicherheit. Längst hat sich gezeigt, dass diese Haltungen das politische System der Nachkriegszeit innerhalb von wenigen Jahren von der Landkarte gewischt haben. Rechts und links, konservativ und progressiv, religiös und säkular – diese Begriffe treffen nur noch unvollständig zu auf die ideologischen Allianzen und Familienähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Formen von Populismus, die sich als das stärkste Idiom der gesellschaftlichen Umbrüche der unmittelbaren Zukunft etablieren.
Politische Debatten und Entscheidungen, aber auch Kämpfe und politische Gewalt geschehen entlang dieser Grenze zwischen dem liberalen und dem autoritären Traum, zwischen dem Markt und der Festung. Arbeitslosigkeit und soziale Hoffnungslosigkeit durch Digitalisierung, völkischer Nationalismus als Rebellion gegen intensivierte Migration im Zuge des Klimawandels und globale Finanzmärkte, deren nächste Krise nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, werden eine große, vielleicht sogar zu große Herausforderung für liberale Demokratien und die Durchsetzung von Menschenrechten darstellen.
Blom hat keine Lösung und wenig Hoffnung. Stattdessen erzählt er das Märchen von der “Zahnfee der Geschichte”.
Kein Buch zur Wahl, aber vor der Wahl verkauft es sich wohl besser. Das Buch geht weit über den medial-inszenierten zappelig-behäbigen Wahlkampf hinaus. Es zeigt nichts unbedingt Neues, zieht aber einen Strukturrahmen und ist so historisch wie sozial wie anthropologisch interessant. Man liest es so schnell wie Blom schreibt.
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Joachim Radkau:
Geschichte der Zukunft.
Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute
2016
Joachim Radkau hat vieles, wenn nicht alles gelesen, was an relevanten Texten zum Fortschreiten der Bundesrepublik veröffentlicht wurde. Er erspart einem, das alles selbst zu finden und zu lesen, er musste wohl lauch sehr vieles weglassen – und dennoch droht die Fülle des Materials zu erschlagen.
Radkau versucht einerseits, seine Informationen in eine Chronologie zu bringen „von 1945 bis heute“ (2016), doch lässt sich diese Methode nicht strikt durchhalten, ohne bestimmte Komplexe immer wieder aufzugreifen. Also bildet er auch thematische Knotenpunkte, vor allem bei Energie- (Atom) und Umweltpolitik. Beides zweifellos wichtig, andere zentrale Aspekte wie Gestaltung von Arbeit (Automation) oder Bildung greift Radkau auf, verfolgt sie aber nur am Rande weiter. Themen wie Globalisierung oder Migration werden vernachlässigt. Kapitel wie das über Reisen („Reale und virtuelle Träume der Zukunft“) sind durchaus interessant, ihr Stellenwert im Buch erschließt sich eher über persönliche Forschungsprojekte des Autors.
Radkau wollte sein Buch ursprünglich „Im Zickzack der Zukünfte“ nennen. Ungenauigkeit und Wechsel- und Sprunghaftigkeit der Prognosen ist eigentliche Bilanz und Erkenntnis Radkaus. Vorhersagen gehorchen zu oft „Himmel-Hölle-Szenarien“, protegieren Ideologien und/oder Interessen (Georg Picht > Bildungskatastrophe / Roman Herzog > Ruck /@Bertelsmann) oder beschwören Katastrophen, nicht zuletzt ein Mittel der (Selbst-)Vermarktung der Weissager.
Allzu oft liegen Vorhersage und Zufall nahe beieinander („Zufalls-, nicht Zukunftsforscher, was jedoch auf das Gleiche hinausläuft!“), da Entwicklungen unvorhersehbar oder unerwartet rasch eintreten und die ganze Zukunft über den Haufen werfen (Fotovoltaik, Informationstechnologie, aber auch die Marktreife der Antibabypille, die Vorhersagen über die Demografie obsolet machte), oft bringen auch Katastophen einen Bruch (Tschernobyl, Fukushima). Wichtig für die Wirksamkeit von Zukunftsgedanken ist immer ihre Verbindung mit Denkströmungen.
Überprüfbar sind Radkaus Thesen und Schlussfolgerungen kaum. Es wäre schön gewesen, Radkau hätte seine Materialfülle noch prägnanter strukturiert, hätte neue rote Fäden eingezogen, hätte dafür manches als redundant zurückgehalten. Schön wäre es auch gewesen, Autor/Verlag hätten Leerzeilen spendiert und Kapitelüberschriften kenntlicher gemacht. Ein in Darstellung und Aufmachung eher altmodisch wirkendes Buch, das zu wenig auf Lesefreudigkeit setzt.Daran ändern auch die raren Schwarzweißbildchen nichts.
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Jochen Oltmer: Globale Migration. Geschichte und Gegenwart
In einem der schmalen, aber informativen Bändchen von C.H.Beck-Wissen gibt Jochen Oltmer einen Überblick über Wanderungen seit dem 16. Jahrhundert. Das Buch stammt von 2012, wurde aber 2016aktualisiert. Man muss sich mit vielen Zahlen beschäftigen, die man sich im einzelnen nicht merken kann, die sich aber hier leicht wieder nachschlagen lassen.
Man erfährt, dass die meisten Migrationen Arbeitskräfte betrafen, dass diese Arbeitskräfte stets als Manövriermasse gesehen wurden, die sich mannigfachen Bedrückungen ausgesetzt sahen, aber auf Beschäftigung, wenn auch noch so schlecht entlohnt, angewiesen waren. Es geht von der „Erschließung und Verdichtung des globalen Raums durch Migration vom 16. bis zum 19. Jahrhundert” über “migratorische Folgen” der Kolonisation und “Flucht,Vertreibung, Deportation” im Zusammenhang mit den Kriegen, “Migration und Wachstum der Städte” bis zur “globalen Flüchtlingsfrage” des 21. Jahrhunderts. Wichtig bei solchen Übersichten. Die heutigen Probleme sind nicht neu, haben sich z.T. beschleunigt und globalisiert, doch hilft ein Blick in die Geschichte gegen das hysterische Geschnatter von Presse und bornierten Nationalisten und Rassisten.
Eines der Themen, die man nicht vergessen sollte:
Das nationalsozialistische <Dritte Reich> war nur deshalb in der Lage, den Zweiten Weltkrieg beinahe sechs Jahre lang zu führen, weil es ihn als Beutekrieg geplant hatte. Die mit Deutschland verbündeten Staaten sowie die von 1938 an erworbenen bzw. eroberten Länder und Landesteile hatten dabei die Aufgabe, mit Produktionskapazitäten, Rohstoffen und mit ihrer Bevölkerung der deutschen Kriegswirtschaft zu dienen. Im Laufe des Krieges stieg die Bedeutung der geraubten Güter und Menschen für die deutsche Kriegswirtschaft immens an: Im Oktober 1944 wurden fast 8 Millionen ausländische Zwangsarbeitskräfte in Deutschland gezählt, darunter knapp 6 Millionen Zivilisten und rund 2 Millionen Kriegsgefangene. Sie stammten aus insgesamt z6 verschiedenen Ländern. Die UdSSR dominierte als Herkunftsland der Zwangsarbeitskräfte mit einem Anteil von mehr als einem Drittel (2,8 Millionen) an ihrer Gesamtzahl, 47 Millionen kamen aus Polen und 1,2 Millionen aus Frankreich, jeweils mehrere Hunderttausend aus Italien, den Niederlanden, Belgien, der Tschechoslowakei und Jugoslawien.
Das enorme wirtschaftliche Gewicht der ausländischen Zwangsarbeitskräfte zeigt sich im Anteil an der Gesamtbeschäftigung: Insgesamt stellten sie im September 1944 etwa ein Drittel der Beschäftigten, sie fanden sich in allen Wirtschaftszweigen, in allen Betriebsgrößenkategorien über das ganze Reich verteilt. In einigen Wirtschaftszweigen bzw. Betrieben war ihre Bedeutung besonders hoch, etwa in der Landwirtschaft, die 1944 einen Anteil von 46 Prozent erreichte, oder für den Berg bau mit 36 Prozent. In manchen Betrieben mit einem hohen Anteil unqualifizierter Arbeit kamen vier Fünftel aller Beschäftigten aus dem Ausland. Ein Drittel der ausländischen Arbeitskräfte waren Frauen – ein Großteil jünger als 20 Jahre. Insgesamt lag das Durchschnittsalter bei 20 bis 24 Jahren.Deutschland wurde mit einem System von über 20000 Lagern für ausländische Zwangsarbeitskräfte überzogen. (…)In jener Form eines im großen Maßstab auf ausländischer Arbeitskraft basierenden Zwangsarbeitersystems blieb der nationalsozialistische <Ausländer-Einsatz> ohne Parallele.
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Michael Lüders: Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte
Michael Lüders lässt keinen Zweifel daran, dass das Assad-Regime verbrecherisch ist. Doch er fragt nach weiteren Ursachen für den Krieg in Syrien. Er sieht darin keinen Bürgerkrieg, sondern einen Stellvertreterkrieg mit einer kaum überschaubaren Zahl von Interessen. „Im Kontext von Geopolitik sind «Werte» wenig mehr als eine Chiffre, die der Eigenlegitimation militärischer Gewalt dient – zur Durchsetzung hegemonialer Macht.” Hier stellt er vor alem die US-Politik an den Pranger, die ohne Verständnis, ja, ohne Kenntnis regionaler sozialer Strukturen und zudem ohne Plan agiere.
Indem sei “der Westen” dschihadistische “Rebellen” gegen Assad verharmlose und sie ideologisch und militärisch unterstütze, habe “der Westen Syrien ins Chaos” gestürzt. In der Verantwortung sieht Lüders auch die Medien, die keine “kritische Fragen” stellen, sondern dem vorgegebenen Mainstream der jeweiligen Interessen folgten.
Lüders beleuchtet auch die Rolle der Türkei, Saudi-Arabiens, des Iran. Eigen Kapitel befassen sich mit Aleppo und der Berichterstattung über die Zerstörungen, den “Chemiewaffen in Syrien”, speziell dem Giftgas-Angriff auf Ghouta 2013.
Die Reaktionen darauf sind ein Lehrstück dafür, wie spielend leicht die Öffentlichkeit in einer so elementaren Frage wie Krieg und Frieden manipuliert werden kann – ohne auf nennenswerten Widerspruch zu stoßen. Wer wollte, konnte recht bald schon wissen, dass die Beweislage für Assads Täterschaft nicht eindeutig war, zumindest Zweifel angebracht erschienen. Trotzdem änderte sich nichts. Die Dinge zurechtzurücken, die der offiziellen Darstellung entgegenstehenden Fakten zu benennen, würde dem Wesen von Machtpolitik zuwiderlaufen – Washington hätte in dem Fall ja einräumen müssen, dass die vom Westen hofierten Dschihadisten für den schlimmsten Giftgas-Einsatz seit dem irakisch-iranischen Krieg in den 1980er Jahren verantwortlich sein könnten. Das damals eingesetzte Giftgas stammte übrigens wesentlich aus den USA, ergänzt um deutsche und französische Hersteller.
Lüders’ Informationen sind gut belegt, auch wenn man das als Leser nicht individuell nachprüfen kann. Als kritischer Kenner der Region und der geopolitischen Methoden wird er hin und wieder auch ins Fernsehen eingeladen (Markus Lanz, Anne Will u.a.), doch zeigen sich deutlich die Beschränkheit von Talkshows, die auf Statements setzen und für Erläuterungen keinen Platz einräumen. Wer sich über Syrien im Geflecht der Interessen informieren will, sollte – auch – Michael Lüders lesen.
Zur Debatte um die Seriosität von Lüders vgl. auch: ARD ttt
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Philipp Ther:
Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa
Detailliert zeigt Ther die Entwicklungen in den ost(mittel)europäischen staaten seit 1989. Er vergleicht die Metropolen – einschließlich Berlin – und belegt, dass ihr neuer Reichtum einer weiteren Verarmung des Landes gegenübersteht. Die Transformation teilt er in Phasen, die von der “Revolution” 1989 bis 1991 über die “Wellen” der Neoliberalisierung bis zu einem Ausblick auf Südeuropa als “neuer Osten und den “Konflikt um die Ukraine” reichen. So kleinteilig die neoliberalen Reformen aufgelistet sind, so unbestimmt bleiben die “Bilanz nach der Krise, der Blick auf die “Kotransformation” in Deutschland und die Gegenüberstellung von “genutzten und verpassten Chancen”. Ther stellt den Begriff des Neoliberalismus in den Titel und erläutert seine Auswirkungen, wertet aber nicht. Die neoliberalen Reformen bedeuten für ihn Fortschritt, aber auch eine Vertiefung der Ungleichheiten zwischen den sozialen Schichten und vor allem auch zwischen Boomtowns und verarmendem ländlichen Regionen. Diese Probleme werden benannt, aber nicht hervorgehoben. Philipp Ther kennt die beschriebenen Regionen aus eigenen Beobachtungen und flicht diese immer wieder in die zeithistorischen Betrachtungen ein. Für “breite Diskussionen” (Klappentext) wird das Buch nicht sorgen, denn Ther versäumt es, die Begriffe präzise und pointiert zu verwenden. “Ther geht es dabei nicht um eine „modische Fundamentalkritik“ der neoliberalen Theorie, sondern er analysiert vor allem die neoliberale Praxis.” (Achim Engelberg, Blätter für deutsche und internationale Politik)
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Oliver Nachtwey:
Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne
Oliver Nachtwey schreibt über den Wandel der Arbeitswelt und die daraus resultierenden Veränderungen der sozialen Verhältnisse und deren Auswirkungen auf den einzelnen Menschen und seine sozialen Beziehungen. Seit Mitte der 80-er Jahre sieht er einen sozialen Abstieg, eine Prekarisierung der Arbeit und daraus folgende Statusängste als zentrale Merkmale der kapitalistischen Klassengesellschaft. Eingebettet ist dieser Befund in die Geschichte der „sozialen Moderne“ seit dem zweiten Weltkrieg – mit Fokussierung auf Deutschland. Bis in die 70-er Jahre habe es einen „Fahrstuhleffekt“ sozialer Aufstiege gegeben, der auch für die unteren und mittleren Schichten eine Perspektive nach oben bot, seit der Durchsetzung des Neoliberalismus sei diese Perspektive durch das Bild der „Rolltreppe nach unten“ ersetzt worden, ein „Kapitalismus (fast) ohne Wachstum“ habe die Klassenverhältnisse neu gefestigt. Nachtwey bezeichnet dies als „regressive Modernisierung“.
Die Befunde sind nicht neu, Nachtweys Verdienst als Soziologe ist die Zusammenschau und die historische Einordnung, ein Plus ist auch die verständliche Darstellung, die auf unnötige Fachtermini verzichtet. IM letzten Kapitel befasst sich Nachwey mit dem „Aufbegehren“, von der geänderten Rolle der Gewerkschaften über neue, „postkonventionelle Proteste“ bis zur Radikalisierung von „Wutbürgern“ – Stichwort: Pegida. Nebenbei und teils in Fußnoten erklärt Nachtwey auch wichtige Begriffe, etwa „Neoliberalismus“, „Finanzialisierung“, „Individualisierung“, „Postdemokratie“, „Marktbürger“, „Künstlerkritik“, „Autoritarismus“ u.a. Ein wichtiges, anschaulich geschriebenes und aktuelles Buch über den Zustand unserer Gesellschaft.
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Jule Jakob Govrin: Sex, Gott und Kapital.
Houellebecqs Unterwerfung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken
»Nolens volens hat dieser Roman eindeutig eine politische Resonanz. […] Er markiert in der Geistesgeschichte das Datum, an dem die Ideen der extremen Rechten – wieder – in die hohe Literatur eingedrungen sind.«“ (Laurent Joffrin, Libération-Herausgeber) Joffrin zieht zunächst eine Verbindung zum bereits oben erwähnten Redakteur bei Le Figaro, Eric Zemmour, der schon vor Houellebecq den Feminismus und die Schwulen- und Lesbenbewegung als Wurzel der sexuellen Misere diagnostizierte, der wegen rassistischer Äußerungen verurteilt wurde und dessen letzte Publikation “Le Suicide Français” (2014) verkaufstüchtig skandalisierte.
Jule Jakob Govrin untersucht “diffuse, dynamische Wechselwirkungen“, die sich zwischen den Romanen Michel Houellebecqs, vor allem ”Plattform” (2001) und “Unterwerfung” (2015) , und der Aktualität der Theorie und den Aktionen der französischen Rechten zeigen. Antimuslimischer Rassismus und Homofeindlichkeit artikulieren sich auch in den reaktionär-katholischen Bewegung “Manif Pour Tous”, die vordergründig gegen die gleichgeschlechtliche Ehe demonstriert. “Die Entfremdung und Vereinzelung im Neoliberalismus wird als Konsequenz aus den sexuellen Emanzipationsbewegungen dargestellt. Plötzlich erscheint die heteronormative Kernfamilie als Fluchtpunkt aus den kapitalistischen Lebensverhältnissen. Ähnlich dazu beschreibt Unterwerfung eine Sehnsucht nach Sicherheit, die mit heteronormativem Streben einhergeht.”
“Schon das apokalyptische Szenario eines muslimisch dominierten Frankreichs, welches den Roman eröffnet, ist keine originäre Schöpfung Houellebecqs, denn es zitiert den Begriff des Grand Remplacement, des Großen Bevölkerungsaustauschs, welchen der Autor Renaud Camus 2011 prägte und der daraufhin massiv in den Medien zirkulierte.” Zu Recht werde er in Frankreich inzwischen “als Denker eines neoreaktionären Diskurses verstanden, zu dem auch Zemmour und die Neuen Philosophen, die schon seit den 1970er mit rechtsintellektuellen Positionen intervenieren, gerechnet werden.“ „Die intellektuelle Sogkraft, die von der Nouvelle Droite, den Nouveaux Philosophes, den Neo-Reacs hin zur Neuen Rechten ausstrahlt und sich in den Feuilletons breitmacht, manifestiert sich auch in der Kunst, wofür Houellebecq ein herausragendes Beispiel liefert.“
Die Situation in Deutschland streift Govrin nur am Rande, doch sieht sie “rechtsintellektuelle Netze (…), die sich zwischen Frankreich und Deutschland aufspannen”. “Inzwischen wird Unterwerfung auf Theaterbühnen in Berlin und Hamburg inszeniert, deren Vorstellungen ausverkauft sind. Das Publikum kann sich am Spektakel des Schreckens ergötzen und sich im bildungsbürgerlichen Sicherheitsabstand zu rechtsradikalem Gedankengut wähnen. (…) Der Schutzmantel postmoderner Ironie, in den sich reaktionäre Inhalte kleiden können, ebenso wie der Kampf für Meinungsfreiheit gegen die vermeintliche Diktatur der Poltischen Korrektheit tragen dazu bei. Houellebecqs Romane und die Pamphlete der Manif Pour Tous illustrieren, wie in rechter Rhetorik linke Kapitalismuskritik angeeignet wird.” Viele Begriffe der neuen Rechten tauchen auch in Deutschland auf, etwa bei der AfD: die “Umvolkung”, der “Selbstmord” Deutschlands, der antimuslimische Rassismus. „Im neuen Jahrtausend reiht sich der Parteiphilosoph der Alternative f’ürDeutschland (AfD) und Sloterdijk-Schüler Marc Jongen in diese Denklinie ein, der für eine gesteigerte Geburtenrate als politisches Mittel gegen die Immigrationspolitik plädiert und sich »ein männlich-heroisches Deutschland zurück[wünscht] – ein Deutschland, das dem >Thymos< (griechisch >für Stolz, Zorn<) huldigt«.“
2016 90 Seiten
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Danny Michelsen und Franz Walter: Unpolitische Demokratie.
Zur Krise der Repräsentation
Die Ursachen des Misstrauens gegen die repräsentative Demokratie sind vielfältig und unübersichtlich, sie liegen zudem nicht nur in inhaltlichen Themensetzungen, sondern in der sich beschleunigt veränderten Kommunikation. In einigen Stichworten: Dominanz der finanzgetriebenen Ökonomie, Zersplitterung sozialer Gruppen in „Torso-Individualitäten“, Fragmentierung von Lebens- und Sinnzusammenhängen und Perspektiven, Primat der Konsumorientierung, Versuche der Inklusion und Partizipation „quantitativ auch noch so geringfügig vertretene Meinungen und Interessen“, Zwang zur Beschleunigung der Entscheidungsfindung, Produktion von sich abkapselnden Gegenöffentlichkeiten, uvm.
Gestützt auf viel Literatur bearbeiten Danny Michelsen und Franz Walter ein breit sich auffächerndes Spektrum von Beschreibungen und Lösungsalternativen, kommen dabei aber letztlich zu keinem anderen Schluss: „It’s representation, stupid!“ Alle vorgeschlagenen Methode zeigen ihre deutlichen Schwächen und Risiken und halten einer eingehenden Betrachtung nicht stand. Weder die Verlagerung von politischen Entscheidungen in Expertengremien noch Ansätze zu mehr direkter Demokratie noch Versuche zu einer „digitalen/liquiden“ Demokratie hinterlassen mehr als verlängerte Ratlosigkeit und ändern wenig an der sich entpolitisierenden Gesellschaft und Politik.
Das Buch stammt von 2013, die Tendenzen haben sich seither verstärkt und werden in ihrer Wirkungsmacht immer stärker sichtbar. Ein Problem ist die Darstellung, Franz Walter stellt dazu in deeiner Nachbemerkung fest: „Ganz leicht dürfte ihnen die Lektüre nicht gefallen sein. Der [mehr als 30 Jahre] ältere der beiden Autoren des hier vorliegenden Buchs weiß, dass die Form der Darstellung in einem scharfen Kontrast steht zu allem, was er über Jahrzehnte zum Stil sozialwissenschaftlicher Veröffentlichungen geäußert hat. Doch sollte man zumindest einmal im Leben selbst durchmachen, was sonst nur aus der Distanz kritisch beschrieben wird. Der Autor, mitunter als Feuilleton-Politologe charakterisiert, hat die Virtuosität, mit der sein jüngerer Kollege den Stil des akademischen Theoriediskurses leichthändig beherrscht, zu bewundern gelernt. Aber sein Unbehagen daran ist nicht rundum gewichen.”
In der Forschung wurde oft darauf hingewiesen, dass governance-Verfahren, zumal in Mehrebenensystemen wie der EU, Formen der Legitimität erzeugen, die die traditionellen accountability-Kriterien demokratischen Regierens nur noch in prekärer Weise erfüllen . Da die Netzwerke in kaum formalisierten Strukturen agieren, arbeiten sie in einer von den parlamentarischen Arenen abgekoppelten Umgebung, die keine formale Legitimation besitzt. Im »selbststeuernden Kapitalismus«, für den die Vorstellung von »Governance ohne Government« zu einem ordnungsbildenden Paradigma geworden ist, werden Entscheidungskompetenzen »aus den politischen und politisierbaren Entscheidungsarenen der Nationalstaaten in internationale Exekutivorgane oder Regulierungsagenturen« verlagert.` Die Fragmentierung von Politik, die Diffusion politischer Verantwortlichkeit wird sich dadurch noch weiter fortsetzen. Parlamentarische Beratungen – nicht aber die unpolitische Administration – verlieren ihre Relevanz für die soziale Praxis und umgekehrt, sodass Bürger (und Politiker) immer häufiger mit juridischen, technischen oder ökonomischen Begründungen »alternativloser« Problemlösungen konfrontiert werden und zum Beispiel bestimmte Probleme der Finanzmarktregulierung vom Parlament zwar beraten, aber nicht direkt beeinflusst, weil durch nationale Gesetzgebung (allein) nicht mehr gelöst werden können, da zwingendes Recht zunehmend von einem reflexiven Recht abgelöst wird, das nur noch dazu dient, verschiedenen Interessengruppen einen Ordnungsrahmen zur Konsensfindung zur Verfügung zu stellen.
Good governance wird heute primär an der Fähigkeit der staatlichen Akteure zur Interdependenzbewältigung gemessen, also daran, inwieweit es ihnen gelingt, das »Management der teilsystemischen Interdependenz« möglichst ohne Rückgriff auf einen schwindenden Pool formaler Entscheidungskompetenzen in den Griff zu bekommen.`
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
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Didier Eribon: Rückkehr nach Reims
Didier Eribon wurde 1953 in Reims geboren. In seinem Buch beschreibt er die sozialen Bestimmungen seiner Herkunft und seine Ablösung von Region und Familie. Seine Vorfahren waren Arbeiter in der Schwerindustrie und verstanden sich als „Kommunisten“ „und zwar in dem Sinn, dass die Bindung an die Kommunistische Partei als eine Art politisches Ordnungsprinzip den Horizont des Verhältnisses zur Politik überhaupt bestimmte“. Eribon konnte als erster seiner Familie aufs Gymnasium gehen und später studieren, entfremdete sich damit aber seinen Eltern und auch Geschwistern. Sein Leben ist auch geprägt durch seine Homosexualität, die ihn nicht nur aus der Geburtsstadt drängte, sondern ihm in Paris auch neue intellektuelle Kreise erschloss, etwa die Freundschaft mit Foucault und Bourdieu. Die „Rückkehr nach Reims“ ist ein Versuch der „Selbstwahrnehmung“, wobei
das individuelle Gedächtnis vom kollektiven Gedächtnis der Gruppe bedingt ist, der man angehört oder mit der man sich identifiziert und zu deren Bestehen man dadurch beiträgt, dann muss man umgekehrt auch beachten (…), dass ein Individuum immer mehreren Gruppen angehört, sei es gleichzeitig oder nacheinander. Manchmal überschneiden sich diese Gruppen, sie entwickeln sich und sind permanent in Bewegung. Deshalb ist das »kollektive Gedächtnis« – und mit ihm die individuellen Gedächtnisse und Vergangenheiten – nicht nur plural verfasst, sondern auch historisch veränderlich. Beide entstehen aus multiplen, heterogenen Räumen und Temporalitäten, die sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner oder eine bestimmte innere Hierarchie reduzieren lassen, in der wichtige von unwichtigen Erinnerungsaspekten klar getrennt wären.
Eribon exemplifiziert das am Leben seiner Eltern und deren Weg von “Alltagsrassisten” zum Front National.
Mit etwas Abstand frage ich mich, ob der Rassismus meiner Mutter (der Tochter eines Immigranten!) und ihre ungehemmte Verachtung für eingewanderte Arbeiter (insbesondere »Araber«) nicht Mittel waren und bis heute sind, um sich gegenüber noch ärmeren und ohnmächtigeren Menschen in Überlegenheit zu wiegen. Sie gehörte von jeher einer sozialen Gruppe an, die permanent mit ihrer eigenen Unterlegenheit konfrontiert war. Vielleicht erfuhr sie in der Abwertung der anderen eine Aufwertung ihres Selbstbilds, vielleicht sah sie darin einen Weg, die eigene Existenz zu verteidigen. (…)”Das Viertel, in dem man lebt, ist für das Selbstverständnis und die Sicht auf die Welt nun wichtiger als der Arbeitsplatz und die Position im sozialen Gefüge.
Didier Eribon fragt sich, wie es dazu kommen konnte, „dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählte und dies sogar manchmal als die »natürliche« Wahl empfand?“ Er hat keinfache Antwort, gibt aber die Methode vor, die den grassierenden Populismus nicht nur verstehen, sondern auch eindämmen kann.
Wenn die Linke ihren eigenen Niedergang verstehen und aufhalten will, muss sie sich nicht nur von ihren neoliberalen Auswüchsen, sondern auch und gerade von den Mythologisierungen und Mystifizierungen lösen, für deren Aufrechterhaltung sich manche als Verfechter einer neuen Radikalität feiern lassen. Die Beherrschten haben kein »spontanes Wissen«, oder, genauer, ihr spontanes Wissen hat keine stabile Bedeutung oder politische Bindung. Die Stellung innerhalb des sozialen Gefüges und der Arbeitswelt bestimmt noch kein »Klasseninteresse« und sorgt auch nicht automatisch dafür, dass die Menschen dieses als das ihre wahrnehmen. Dazu bedarf es vermittelnder Theorien, mit denen Parteien und soziale Bewegungen eine bestimmte Sichtweise auf die Welt anbieten. Solche Theorien verleihen den gelebten Erfahrungen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Form und einen Sinn, und die selben Erfahrungen können ganz unterschiedlich interpretiert werden, je nachdem, welcher Theorie oder welchem Diskurs man sich gerade zuwendet, um in ihnen einen Halt zu finden.
Leseprobe beim Suhrkamp Verlag
„Wenn das Soziale national wird, wählt man eben rechts.“ – arte-Beitrag vom Juni 2016
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Patrick Schreiner:
Unterwerfung als Freiheit.
Leben im Neoliberalismus
Patrick Schreiner sagt auf seinen 110 Seiten nichts Neues, er fasst zusammen. Nach einer knappen Definition des Begriffs „Neoliberalismus“ spricht er an, welche Lebensbereiche heute vom Neoliberalismus geprägt sind. Bildung und Lernen, Positives Denken, Esoterik, Sport und fitte Körper, inszenierte Vorbilder, Reality TV und Seifenopern im Fernsehen, soziale Netzwerke im Internet, Lifestyle und Konsum sind die Kapitel der Untersuchung und überall findet Schreiner sein Fazit bestätigt:
Der Neoliberalismus treibt soziale Ungleichheit auf immer neue Höchstwerte, vernichtet Mechanismen der sozialen Absicherung, zerstört Gewissheiten und Verlässlichkeiten. Nicht Solidarität und sozialer Ausgleich, sondern Marktprinzipien und Vereinzelung bilden die Grundlage neoliberaler Gesellschaften. Mit der Privatisierung sozialer Sicherungssysteme und öffentlicher Unternehmen werden menschliche Schicksale privatisiert. Mit dem Abbau sozialer Rechte werden Schutzmechanismen für alle abgebaut. Mit der Schwächung von Gewerkschaften werden Arbeitnehmerinnen geschwächt. Die Menschen werden auf sich selbst zurückgeworfen. In neoliberalen Gesellschaften ist jeder und jede sich selbst der/die Nächste.
Ausgerechnet in neoliberalen Gesellschaften, die allesamt Individualismus und Autonomie predigen, ist die Unterordnung unter (angebliche oder tatsächliche) Anforderungen von Markt und Gesellschaft zur alltäglichen Normalität geworden. Die Menschen sollen nach außen ein authentisches, echtes Ich darstellen, das sich permanent für Markt und Gesellschaft optimiert. Dazu scheinen sie allerdings alleine nicht in der Lage zu sein – nicht zuletzt, weil Authentizität und Unterordnung sich widersprechen. Sie suchen sich deshalb ExpertInnen und Autoritäten, von denen sie sich über die Erwartungen von Markt und Gesellschaft aufklären lassen. Damit ordnen sie sich ein zweites Mal unter.
Spätestens hier wird deutlich, dass der neoliberale Individualismus letztlich auch nur eine besondere Form von Vergesellschaftung ist. Er ist ein Prozess, durch den Menschen lernen, sich den Vorgaben von Markt und neoliberaler Gesellschaft zu unterwerfen. Er ist mithin eine Form von Knechtschaft. (…)Eine Knechtschaft allerdings, die keineswegs nur auf Druck und Zwang setzt, sondern mindestens ebenso auf Autonomie und Selbststeuerung.
Schreiner bleibt beim Überblick, mehr nicht, seine Logik liegt in der Sache. Das Buch ist keine Ratgeberliteratur, wie man den knechtenden Neoliberalismus abstreifen kann.
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Gunter Gebauer:
Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs
Es ist das Manko des Philosophen, dass er viele Worte hat und sich mit ihnen über alles auslassen kann. Er geht den Dingen auf den Grund, will die Anthropologie in ihren je thematischen Ausprägungen umrunden, der Weg führt über die Evolution hin zu den menschlichen Kulturtechniken – und schon sind 300 Seiten über die Philosophie von irgendwas gefüllt und gedruckt. Weil gerade Europameisterschaften sind, hat Gunter Gebauer den Fußball in die Pflicht genommen, als Stand- und Spielbein der menschlichen Existenz.
Dass Fußball und Philosophie ohne einander nicht auskommen können, sieht man schon an den vielen fußballernden Freunde der Weisheit. Man muss hier nur Franz Beckenbauer nennen und schon fallen einem die anderen ein, die das Wesen und das Gewese des Fußballs auf einen Begriff gebracht haben. Wodurch sich Gebauer negativ von ihnen unterscheidet: Beckenbauer & Co. Gelingt es, die Weisheit in ein “Aperçu, auch Bonmot oder Sentenz genannt, zu verdichten, eine prägnante Bemerkung, die auf einen geistreichen oder scharfsinnigen Einfall zurückgeht. Wird es schriftlich festgehalten, kann das Aperçu mit seiner sprachlichen Prägnanz als literarischer Aphorismus fungieren. (wikipedia) Gebauer gebärdet sich als Dribbler, der das Thema wortreich umkreist, um es zu einem banalen Ende zu verbreiten. Er hätte sich vornehmen müssen, seine Philosophie auf 90 Seiten (+ Anmerkungen) einzudampfen.
Hier die Worte des Philosophen:
Mit der Aufrichtung und der Freisetzung der Hand von der Vorwärtsbewegung hat der Mensch selbst seine Situation noch um einige Grade fragiler gemacht. Diese einzigartige Entwicklung hat ihm die Chance zu neuen Errungenschaften gegeben, die seine Position insgesamt stärken. In dieser Perspektive lautet das Grundprinzip der menschlichen Evolution: Was die Fragilität des Menschen vorübergehend erhöht, macht ihn langfristig antifragil. Die Stärkung von antifragilen Kräften ermöglicht ihm, gemeinsam mit anderen Menschen geteilte Absichten zu erzeugen und so die Grundlagen einer gesellschaftlichen Praxis zu legen. Anstatt von einem Mängelwesen zu sprechen, kann man also mit Nietzsches Gedanken der großen Vernunft des Leibes darauf hinweisen, dass sich das »noch nichtfestgestellte Thier« in einer Handlungspraxis selbstgemacht hat. Im Gedächtnis der Menschheit scheint der Erfolg der Aufrichtung und Freisetzung der Hände aufbewahrt worden zu sein – als ein Prinzip ihrer Weiterentwicklung: Der Mensch geht das Risiko der Fragilisierung ein und erringt durch die Erfindung von neuen Handlungsmöglichkeiten einen antifragilen Zustand.
Der Ethnologe Claude Levi-Strauss unterscheidet die Zivilisationen danach, ob sie ihre Speisen roh oder gekocht essen. Wir leben seit Jahrtausenden in einer Kultur des Gekochten. Seit einiger Zeit gibt es bei uns jedoch den Wunsch, den echten Geschmack bestimmter Pflanzen und sorgfältig ausgewählter Fische und Fleischsorten zu erfahren. Man verzichtet auf den zivilisatorischen Akt des Kochens und erschließt sich, wie beim Sashimi oder Carpaccio, den Geschmack des Rohen. Er wird intensiver in einer Zivilisation, die das Kochen für eine unverzichtbare Zubereitung von Speisen hält.
Die Aufgabe einer lange geübten Gewohnheit muss kein Rückschritt sein; sie ist vielmehr die grundlegende Neuorientierung einer wesentlichen kulturellen Praxis. Als die Kunst gegen Ende des 19. Jahrhunderts die perspektivische Darstellung aufgab und nach dem Vorbild der japanischen Druckgrafik eine flächige Malerei ausbildete, erschloss sie dem Publikum ein neues Sehen, das nicht von der Illusion eines Raums und der Vorstellung eines dargestellten Geschehens abgelenkt wurde. Die neue Kunstpraxis sprach den Sehsinn stärker an und wirkte tiefer auf den Körper der Betrachter als die verfeinerte Salonkunst ihrer Zeit.
Ähnlich wie die moderne Malerei verzichtet der Fußball freiwillig auf hoch entwickelte Mittel – der Maler auf künstlerische, der Fußballer auf verbale Ausdrucksmöglichkeiten. In dieser Hinsicht ist er nicht weniger radikal als die moderne Kunst: Er setzt sich der experimentellen Situation einer artifiziell herbeigeführten Notlage aus. Das Spiel wird zum Drama eines Menschen, der seine gesteigerte Unsicherheit bewältigen muss. Es zwingt ihn dazu, neue Fähigkeiten und Techniken des virtuosen und kooperativen Spiels mit dem Fuß zu entwickeln. Fußball ist eine kommunikative Praxis, aber er verzichtet auf konventionelle Zeichen, die nur Stellvertreter der von ihnen bezeichneten Dinge sind. Die Hand produziert Zeichen, »Werke der Hand«, wie Heidegger sagt, um fortzufahren: »Die Hand zeichnet, vermutlich weil der Mensch ein Zeichen ist.« Der Fuß zeichnet nicht, aber er erzeugt »Werke des Fußes«. Der Mensch spielt Fußball, weil seine Füße gestalten können.
Der Zufall kann im Fußball alles unmöglich machen. Die besten Spieler vergeben die größten, die »todsicheren« Chancen: Messi trifft bei einem Elfmeter gegen Milan, der das Spiel entschieden hätte, den Pfosten, Barcelona verliert; Lewandowski findet gegen Marseille frei stehend das leere Tor nicht; Borussia Dortmund vergibt in der Hinrunde der Bundesligasaison 2014/15 eine unfassbare Menge »lupenreiner« Torchancen. An manchen Tagen »geht nichts« für die Torjäger. Aber ist es immer Zufall; oder wirken hier Selbstzweifel, Nervenschwäche, Unsicherheit? Fußball scheint ein Spiel des ewig wiederholten Misslingens zu sein (Martin Seel). Auf der anderen Seite trifft Balotelli, von den deutschen Abwehrspielern kaum gedeckt, im Halbfinale der Europameisterschaft 2012 gleich zwei Mal gegen Deutschland und vernichtet die Hoffnung der vermeintlich besten europäischen Nationalmannschaft auf den Titel. Eine scharfe Linie kann zwischen Zufall und Versagen ebenso wenig gezogen werden wie zwischen Glück und genialer Aktion. (…)Es genügt ein Schuss, um alles anders enden zu lassen als im Jahr zuvor. Einmal geht er an den Pfosten, ein Jahr später trifft er ins Ziel. Im Champions-League-Finale gegen Chelsea 2012 in der eigenen Arena versäumt es Bayern München trotz großer Überlegenheit, während der Spielzeit das entscheidende Tor zu erzielen. Im Elfmeterschießen muss Bastian Schweinsteiger für den Sieg der Bayern treffen: Schweinsteiger ist auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit; er hat ein erstklassiges Match gemacht. Niemand zweifelt daran, dass er den Ball ins Tor schießen wird. Er läuft an, zögert ein wenig, schießt hart ins Eck – der Ball trifft den Pfosten. Chelsea gewinnt den Pokal, eine weitere Tragödie für die Bayern. Ein Jahr später aber siegen sie im Finale gegen Borussia Dortmund mit 2:1 durch ein Tor Minuten vor dem Abpfiff. Diesmal sind die Dortmunder Spieler, die das ganze Match über mindestens ebenbürtig waren, in der Rolle der tragischen Helden.
Wie sentenziös, mit welchem Aperçu hätte Beckenbauer das ausdrücken können! (Eine sinnlose Auswahl an Fußballweisheiten findet sich hier.) Wir leben alle auf dieser Erde, aber eben auf verschiedenen Spielhälften – Klaus Augenthaler.
Wer Gebauer nicht lesen will, möge sich Monty Pythons Bericht über das Spiel der deutschen gegen die griechischen Philosophen ansehen. Hier wird zugleich der Mythos widerlegt, Ballbesitz sei eine Qualität sui generis. (Im deutschen Team: Beckenbauer (!) – Gedreht wurde übrigens im Grünwalder Stadion!)
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Gila Lustiger: Erschütterung
Gila Lustiger „muss die Welt verstehen“. In ihrem „persönlichen Essay“ will sie ihre Erschütterung angesichts der Attentate in Paris nicht in Wut, sondern in Verstehen umsetzen. Sie hat Montesqieu gelesen und Tucholsky und Kafka, um verstehen zu können. Sie interessiert sich für die Täter und die Opfer und macht sich Gedanken um mögliche Beziehungen. „Nicht jede Epoche bringt Dschihadisten hervor. Unsere aber schon. Und sie bringt sie in europa hervor, es sind Kinder der Republik.“ Die Attentäter stammen aus den Banlieus, die kein Interesse mehr an Integration haben. Sie lehnen Angebote des Staates ab, sie greifen Bibliotheken und Schulen an, sie zerstören, was für sie unerreichbar erscheint, was ihnen nicht hilft. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, Perspektiven sind nicht erkennbar.
Ich glaube, es lag auch daran, dass wir spätestens seit den Attentaten im Januar 2015 die immer wieder gleichen Lebensläufe der Terroristen nacherzählt bekommen hatten. Ich hatte einfach nichts mehr über Jugendliche hören wollen, die, statt einen Abschluss oder eine Lehre zu machen, in die Kleinkriminalität schlitterten. Die, statt sich zu verlieben und mit ihrer Freundin zusammenzuziehen, auf Hassprediger hereinfielen und nach Syrien fuhren, um dort eine Kalaschnikow zu bedienen.
So unterschiedlich die Träume und Wünsche dieser jungen Männer und Frauen in ihrer Jugend auch gewesen sein mochten: Einmal dem Terror verschrieben, waren sie nur noch dessen willige Vollstrecker. Ich glaube, wir waren ihrer alle müde.
Die Opfer der Attentate vom 13. November stammen aus 17 Ländern, fast alle „Wahl-Pariser“. Gila Lustiger hat nach ihnen und ihren Biografien gefragt. Und sie ist erschüttert, dass der Front National von vielen Erst-Wählern gewählt wurde, die von Europa profiterit haben. Sie hat keine Lösungen, wie könnte sie auch, am Ende bleibt ihr Appell: „Wir müssen immer wieder die Grundrechte verteidigen. „Keiner muss zu einer Kalschnikow greifen, weil er sich gedemütigt fühlt.“
P.S. Elfriede Jelinek arbeitet sich in ihrem neuen Text „Wut“ auch an den Attentätern ab. Zu Beginn der Aufführung an den Münchner Kamerspielen projizieren sie einen Satz von André Breton auf den Vorhang: „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen.“ Leider verliert sich diese Statement in den Jelinekschen Sprachkaskaden. Gila Lustiger besitzt den nötigen Ernst, sie stellt sich ihren Erschütterungen auch persönlich.
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Philipp Blom:
Die zerrissenen Jahre. 1918 – 1938
Ein Geschichtsbuch, geordnet nach Jahren, gebündelt nach Facetten der „Zerrissenheit“, die der Modernisierung ihre treibende und zerstörende Energie verdankt. Philipp Blom sammelt das auf, was die große Historie oft übersieht, was aber das Leben des Menschen ausmacht und sich in ihr Weltbild einprägt. Das sind natürlich auch die Kriege, die Wirtschaftskrisen, die Arbeitswelt, die Ideologien, es sind aber auch die Wissenschaft, die Kultur, auch die populäre.
Um diese Periode der nach innen gewendeten Kriege und der sich überlappenden Strömungen von Furcht und Hoffnung, Entfremdung, Flucht und Engagement zu fassen und zu beschreiben, habe ich beispielhafte Episoden aus dem Zeitgeschehen herausgegriffen, um so aus einzelnen Elementen die Umrisse eines Gesamtbilds der gefühlten Zeit zu gewinnen. Gefühlt ist die Zeit deswegen, weil mein Interesse mehr dem Selbstgefühl und der Weltsicht der damals lebenden Menschen gilt als den schon oft und gründlich analysierten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen.
Das Tempo der Entwicklungen und Umwälzungen ist so hoch, dass es die Menschen nicht nur mitreißt, sondern auch konfus macht, ihnen die großen Linien und Zusammenhänge vertrübt und sie anfällig werden lässt für scheinbar einfache Lösungen, für Schwarz-Weiß-Denken, Kommunismus oder Faschismus, wir gegen sie, man behilft sich damit, in der Masse auzugehen. Blom berichtet von Personen, von Johnny Scopes etwa, an dem sich der “Jahrhundertprozess” um die Evolutionslehre in den USA entzündete, beispielhaft für die mächtige Sehnsucht der “Eliten” nach Bewahrung und den zum Kampf gezwungenen Fortschrittlichkeit der Wissenschaft. Er erinnert an den ideologisch geplanten Ausbau der sowjetischen Industrie in der Musterstadt Magnitogorsk als Zeichen der Systemauseinandersetzung, der in den “zerrissenen Jahren” Millionen von Menschen zum Opfer fielen. In Spanien etwa, wo sich im Bürgerkrieg beide Seiten in ihrer Brutalität nichts nachstanden. Immer wieder ist von der Musik die Rede, in Wechselwirkung mit der Macht und den politischen auseinandersetzungen, vom Jazz bis Schostakowitsch.
Der Blues war die Anklage aller Enttäuschten und Misshandelten, doch unmittelbar danach zelebrierte ein neuer, furioser Song das Leben, den Tanz, Sex und Freiheit und bewegte die Füße und Gefühle derer, die sich zu jung fühlten, um schon völlig desillusioniert zu sein, und die noch an ihr Recht auf ein eigenes Leben glaubten. Das Jazz Age mit seinen Flappers in den USA, die Bright Young Things in Großbritannien, die Goldenen Zwanziger Jahre mit ihren exzessiven Partys in den Kellerbars von Berlin und Paris bis nach Barcelona waren auch eine Form des spontanen Protests gegen eine Zeit, die oft zu ernsthaft und verzweifelt schien, entweder ohne Hoffnung oder aufgeplustert von den utopischen Träumen von rechts und links.
Keine Diktatur hat dem Jazz jemals getraut – aus gutem Grund. Menschen, die miteinander trinken und auf der Tanzfläche die Bewegungen ihres Partners Körper an Körper spüren, tun sich schwer, einander noch zu hassen. Engumschlungenes Tanzen ist vielleicht die beste Immunisierung gegen Ideologie.
In Tuchatschewskis Fall betraf das auch den Komponisten Dmitri Schostakowitsch, den der kultivierte Marschall persönlich gefördert hatte. Zunächst hatte das dazu geführt, dass Schostakowitsch relativ ungestört arbeiten konnte, aber nach der Verurteilung seines Gönners wurde das Leben auch für den Komponisten schwer.
Schon bevor der Marschall festgenommen worden war, hatte Stalin Schostakowitsch seine Gnade entzogen, teilweise auch, um seinen Rivalen zu schwächen. Schostakowitsch wurde in der Presse öffentlich angegriffen und beschuldigt, bürgerliche Musik zu komponieren. Besonders seine Oper Lady Macbeth von Mzensk wurde harsch kritisiert. Der Komponist sah sich immer stärker isoliert, erhielt keine Aufträge mehr und stand zeitweise aus Angst um sich und seine Familie kurz vor dem Selbstmord. Er war gezwungen, sich auf die Komposition ideologisch unverdächtiger Filmmusik zu konzentrieren, und schrieb Kammermusik, die bei Freunden aufgeführt werden konnte, sowie Partituren, die für Jahrzehnte in der Schublade verschwanden. Doch trotz aller Vorsicht fielen mehrere Mitglieder seiner Familie dem Terror zum Opfer.
Ein Lesebuch zur Auffrischung von Wissen mit neuen Aus- und Einblicken und zur Erkenntnis geahnter Zusammenhänge. Blom schließt an seine Darstellung Europas von 1900 – 1914: “Der taumelnde Kontinent“ an und verweist auch auf die Gegenwart, etwa auf die Finanzkrise. Das Buch liest man gern, es ist anschaulich und spannend erzählt und es gibt auch eine Menge kleiner Bilder.
2014 500 Seiten (+ Anhang)
Homepage von Philipp Blom
mit vielen aktuellen Texten, Beiträgen, Interviews und mehr
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Constanze Kurz/Frank Rieger: Arbeitsfrei.
Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen
2013
Jede der über vier Millionen deutschen Milchkühe wird so umfangreich überwacht und verdatet, daß es Post-Privacy-Anhängern nur den grünen Neid ins Gesicht treiben kann: Ein Bewegungssensor am Fuß erfaßt jeden Schritt, ein oder sogar mehrere Funkchips und Marken im Ohr erlauben die Identifizierung. Befindet sie sich auf der Weide, gibt es bereits satellitengestützte Systeme, die den Standort und das Bewegungsmuster des Tieres auf dem Mobiltelefon des Landarbeiters anzeigen können. So sind auch die etwa 600 000 deutschen Fleischrinder überall erfaßt, die in der Regel im Frühjahr und Sommer auf der Weide gehalten und erst im Herbst eingestallt werden. Sind die Kühe tragend, werden die speziell dafür vorgesehenen, etwas großzügiger gebauten Ställe nicht selten videoüberwacht, um einen permanenten Blick auf die Tiere zu haben, bevor sie ihre ungefähr vierzig Kilogramm schweren Kälber bekommen.
Auch am Melkroboter, die Bauern bereits seit über zehn Jahren nutzen können, wird die Kuh anhand ihres individuellen Funkchips erkannt. Sie kann den Zeitpunkt, wann sie in den Roboter hineintritt, selbst wählen, die Maschine verzeichnet den Zutritt nur. Um die Motivation zu erhöhen, liegt im Roboter ein Schman kerl zur Belohnung bereit: individuelles Kraftfutter für jede Milchkuh. Je höher die Energiekonzentration dieses Futters ist, desto attraktiver ist es für das Tier. Verläßt die Kuh nach dem Melken und dem Genug des Leckerlis den Roboter nicht, geht nach einiger Zeit ein Alarm auf das Mobiltelefon des Wachhabenden. (…)Viele Kühe ziehen jedoch den Melkroboter dem menschlichen Melker vor. Die Melker sind ja nicht dauernd vor Ort, die Kühe müssen daher anstehen, um gemolken zu werden, was für sie zu sozial stressigen Situationen führen kann, etwa wenn sich eine höherrangige Kuh in der Schlange befindet. Beim Melkroboter können sie sich den Zeitpunkt aussuchen und solche Streßsituationen vermeiden.
Kurz und Rieger legen den Faden ihrer Reise durch den Stand der Automatisierung „vom Bauern zum Brot“. Anschaulich berichten sie davon, wie stark inzwischen in der Ernährungsindustrie die „Maschine“ den Platz von Menschen eingenommen hat, wobei man sich unter Maschine nicht mehr Mechanik, sondern Algorithmen vorzustellen hat. Vom GPS-gesteurten Mähdrescher über die vollautomatischen Mahlfabriken zu den individualisierten und menschenleeren „Bäckereien“ führt der Weg, parallel zeigen die Autoren, wie Voraussetzungen und Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Fabrikation von Agrarmaschinen, die Aufbereitung der Energie in den Raffinerien, die Lager- und Transportlogistik, die „Druckstraße“ für Werbung und Information.
Im zweiten Teil geht es um „die Zukunft der Arbeit“ und die überwältigenden Konsequenzen der Automatisierung in allen Bereichen von Tätigkeiten. Die „Telepräsenz“ etwa in der Medizin, die Dehumanisierung des Krieges durch selbststeuernde Drohnen, der Einsatz von Robotern in der Pflege, die „Automatisierung des Geistes“.
Man ist bei den Werksbesuchen vor Ort und doch angewiesen auf Bilder und Filme, da die Welt der Automatisierung so gegenwärtig ist und die Anschauung der Industrie doch noch stark von überholten Ikonen gesteuert ist. Präzise erläutern Kurz und Rieger die Probleme, mit denen die Automatiserung befasst ist, die Feinjustierung der Algorithmen, die Mensch-Automatik-Schnittstellen, die juristischen Fragen, etwa bei „Autos ohne Fahrer“, die rasanten Fortschritte bei der Verarbeitung von Datenvolumen und bei der Auflösung von Kameras und anderen Sensoren.
Im „Epilog“ skizzieren Kurz und Rieger Konsequenzen für die Gesellschaft und Forderungen an die Politik. Hauptsächlich die Bildungspolitik wird gefordert sein, aber auch für die generelle Arbeitsverteilung, die Steuer-, Sozial- und Rentenpolitik ergeben sich dringende Aufgaben.
Schaut man sich die Struktur der automatisierten, digitalisierten Wirtschaft an, so sind die größten kurzfristigen Gewinne an Effektivität und Produktivität aus der immer ausgefeilteren und immer schnelleren Auswertung der riesigen Datenberge zu erwarten, bei der Digitalisierung quasi wie nebenbei abgeworfen. Die dadurch entstehenden neuen Arbeitsplätze sind jedoch wenige, sie erfordern spezielles Wissen und Vorbildung, manchmal auch ausgeprägtes Talent, sei es als Softwareentwickler oder beim Entwurf neuer Ideen für Algorithmen. Wegrationalisiert werden dadurch nicht nur immer mehr Niedriglohnjobs, vor allem betroffen sind auch Aufgaben im Management, der Planung, Koordination, im Berichtswesen und in der Verwaltung der Unternehmen. Diese Tendenz zeigt einmal mehr den großen Irrtum der derzeitigen Bildungspolitik: Genau für diese geistigen Tätigkeiten auf unterem und mittlerem Niveau wird derzeit bevorzugt ausgebildet.
Wie wichtig die Bedeutung von Talent, Einfallsreichtum und solider Bildung ist, zeigt sich vor allem in dem Bereich, der mehr und mehr zum Kern der Innovationsentwicklung geworden ist: der Softwareentwicklung. Die Bandbreite von Produktivität bei Programmierern ist geradezu riesig: Ein sehr guter Programmierer schafft sowohl qualitativ als auch quantitativ bis zu zehnmal mehr als ein durchschnittlicher, Ausnahmetalente bringen es bis auf die hundertfache Leistung.
Gespräch mit Constanze Kurz in Deutschlandradio Kultur
Video von ttt bei youtube (6’)