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Jakob Nolte : Don Quijote
Tragikomödie nach Miguel de Cervantes Saavedra
Wir sollten uns Don Quijote als einen überschwänglichen Menschen vorstellen. Sprunghaft, sentimental, traurig. Überspielter Weltschmerz. Er findet keinen Ort in seiner Zeit und im Ort nicht seine Zeit. „Er ist unzufrieden mit der Gesamtsituation der Welt. Er liest Ritterbücher, verliert sich, verdenkt sich das Gehirn in diesen Büchern und zieht dann aus, um die Welt zu retten.“ (Wolfram Eillenberger) „Er ist rausgerissen aus seiner jetzigen Existenz“ (Fritz Breithaupt), kann nicht hineinfinden in eine andere.

Paul Wiesmann erstürmt die Bühne als Superman, im wehenden Umhang, zieht sich ein Redbull aus dem Automaten und ist da! Im Paralleluniversum des Hier und Jetzt, wo ich bin, ist das Leben, mein Leben darf darf nicht trist sein. Dulcinea imaginiert er sich ebenso als Geliebte wie die Schafherde als feindliches Heer. Sein Pferd, „das man Rosi nannte“, tritt auch in Gestalt von Hometrainer, Kuscheltier oder Klappfahrrad auf. Im fulminanten Trip durch Regensburg angelt er mit seinem Langschwert am Donaustrand nach fantastischen Fischen und entdeckt in Don Juan am Fischgässel einen angefochtenen Gegner. (Trailer)


Jonas Julian Niemann darf keinen Superman-tel tragen, Sancho Panza ist nicht die bauernschlaue Einfalt, er wird zum Vertrauten, weil er meist einen Schritt weiter denkt als sein „Herr“. Zusammen bringen sie die Bühne zum Tanzen, hotten zu „No More Heroes“ von den Stranglers, gemeinsam durchradeln sie die Gässchen Regensburgs, gemeinsam lauschen sie den Phantasmagorien Don Quijotes. Im Überschwang machen sie sich nackig und busseln sich gar – im Zwielicht. Sancho Panza nutzt die Vertrauens-Seligkeit Don Quijotes für eigene Vorteile, er weiß sich von seinem „Partner“ gut gefüttert und nächtlich behütet – im „Wäldchen“ als Running Gag. Als Bote für Quijotes Brief an Dulcinea nimmt er sich eine kleine Auszeit.

Im Spiel von Jakob Nolte geht es nicht um Spanien, nicht um historische Konditionen, nicht um soziale Unterschiede, sondern darum, wie man aus der schier ausweglosen Tragik der Personen die Komödie für die Zuschauer ziehen kann. Man soll ja nicht über den Ritter lachen, sondern in seiner traurigen Gestalt doch den Helden sehen, der die Welt so dringend retten möchte. Die Schauspieler tun ihr Bestes. Sie wechseln die Kleider im Eiltempo, sie singen mit und ohne Mikrophon, Jonas Julian Niemann ist auch für die Musik verantwortlich, sie vergessen nicht, wo sie die vielen Requisiten finden, Paul Wiesmann kämpft gegen die Windmühle im Schattenspiel, das Bühnenlicht flackert zwischen Tag und Nacht, auf ihren Fahrrädern bewegen sie sich einen halben Meter den Hügel hinan, wo Don Quijote im Stakkato die komplexen Namen der visionären Feldherren deklamiert. Sie sinnieren auch. Gelegentlich hakt sich das Geschehen ein wenig fest, scheint nicht aus den musikalischen Loops zu finden.

Am Ende wird es leise – und Don Quijote reift zur Weisheit. Mission completed. Stringenz: egal. Der Abend ist ja auch fortgeschritten und anhaltender Aktivismus hätte wohl überfordert. So fühlt sich das Publikum gut unterhalten und spendet den beiden Wirbelwinden reichlich Applaus und die beiden Jungs freuen sich darüber sichtlich.
Theater Regensburg – Aufführung am 22. Oktober 2022
Fotos: Tom Neumeier
Alice Zeniter:
Kurz vor dem Vergessen

Ein Schriftsteller hatte, in Francks Augen, die Aufgabe, seine Vorstellungskraft in den Dienst einer Vergrößerung der Welt zu stellen, statt sich darauf zu kaprizieren, sie zu verkleinern. Nun vermittelte ihm Donnell jedoch immer den Eindruck, eine Welt zu beschreiben, die er aus allzu großer Nähe gesehen hatte und ohne Liebe. Er schrieb wie ein kurzsichtiger Depressiver.
Der Roman spielt auf einer Insel auf den Hebriden, im Westen Schottlands, einsam im Atlantik. Dorthin hat sich der Dichter Galwin Donnell zurückgezogen, der aber als verschollen gilt. „Über zwanzig Jahre nach seinem Tod thronte Galwin Donnell noch immer an der Spitze der Welt der Kriminalliteratur und der Buchverkäufe, mit der gleichen Arroganz, dem gleichen unverschämten Vorsprung vor seinen Kollegen wie zu Lebzeiten. Tatsächlich hatte er gut daran getan zu sterben.“ Émilie hat zu ihm geforscht und organisiert dieses Jahr das Donnell-Kolloquium, zu dem sich Professoren und Studenten versammeln und das – selbstverständlich – auf dieser Insel stattfindet: Mirhalay.
Mirhalay war eine dunkle Schliere mitten im Wasser. Die Insel löste sich wie ein dicker grauer Pfannkuchen aus dem Meer, am höchsten Punkt von Gräsern überzuckert. Die Sonne brach an einigen Stellen schwach durch den Wolkenschleier, und das Licht zeichnete goldene Punkte auf die Kuppel, äußerst sanfte Fingerabdrücke, die sich im Wind bewegten.(…)
Wenn man von fern den Blick darüber schweifen ließ, zeigte sich die Insel zugleich bedrohlich und winzig, wie ein Modell ihrer selbst, das man für einen Piratenfilm gebaut und dann dort vergessen hatte. Ihre Geschichte war eine lange Abfolge des Vergessenwerdens.
Bewohner, die fortgegangen waren und vergessen hatten zurückzukehren.
Eine Insel ist wie ein geschlossener Raum, da der Zugang und auch das Verlassen durch die Klippen schwer möglich ist. Wer da ist, ist da und gerät gegebenenfalls sofort in Verdacht. Alice Zeniter entwirft damit den Raum und die Personen, die mit der Situation, mit sich selbst und mit dem mystifizierten Galwin Donnell ins Reine kommen müssen. auf der Gedenktafel an der Rückwand der Inselkapelle steht, er sei „Misanthrop, Eremit & Schriftsteller“ gewesen. Gerade sein in Vermutungen versunkenes Verschwinden macht einen Macho wie ihn zum umstrittenen und deshalb fesselnden Objekt der Investigationen. Was ist der Grund seines Verschwindens – Mord? Selbstmord? Identitätswechsel? – Und was lässt sich über seine Frauen sagen? Für Frauen habe Galwin Donnell nur ein „vollkommenes und beängstigendes Unverständnis“ resümiert Émilie in ihrem Vortrag. Dennoch scharten sich manche um ihn. Der Inselverwalter Jock könnte mehr wissen oder ahnen.
Immer mehr stellt sich heraus, dass das Fabelwesen Galwin Donnell zwar Anlass des Kolloquiums ist, dass es aber daneben bzw. davor eine Insel-Agenda gibt, dass sich auch in der Gegenwart ein Ambiente des Verschwindens bildet. Émilie findet außer an ihrer Doktorarbeit auch Interesse an Professor Stafford. Franck, vielleicht noch ihr Ex-Partner, ist ihr auf Mirhalay nachgereist. Seine Reminiszenzen stoßen aber nur ins Leere. „Dass just in dem Moment auch Franck, Émilies Lebenspartner, aus Paris anreist, passt schlecht und bringt die Paarbeziehung in Schieflage. Franck hat nur die Nähe zu Émilie im Kopf, diese hat als Organisatorin des Treffens den Kopf aber anderswo.“ (Joseph Hanimann, SZ)
Es war vorbei. Er sah es deutlich. Er konnte es formulieren. Nicht: Sie hat mich verlassen, sondern: Es ist vorbei. Denn er hatte sie ebenfalls verlassen, letzten Endes, indem er sich lieber versteckt, sich zu Jock geflüchtet hatte, statt mit ihr über das Vorgefallene zu sprechen.
Er hatte sie verlassen, indem er sie um ein Kind bat. Sie hatte ihn verlassen, indem sie antwortete: Doktorarbeit. Er hatte sie verlassen, indem er nicht zu ihrem Vortrag kam. Sie hatte ihn verlassen, indem sie die Stelle in Cambridge annahm. All ihre Momente in letzter Zeit waren eine Abfolge winziger Trennungen gewesen, die sie angeblich nicht hatten deuten können. Das machte die Dinge nicht einfacher. Vielleicht wurden sie dadurch sogar noch hässlicher. Doch ab jetzt konnte er sie benennen.
Sie kam an den Tisch zurück, stellte einen Teller vor ihn hin, und er begann, langsam zu essen, die Augen auf das Fleischragout geheftet, unfähig, die Frau anzusehen, die er liebte, von der er geglaubt hatte, sie für immer zu lieben, und die er bereits jetzt, in erstaunlichem Tempo, nicht mehr zu lieben begann.
Er hatte seine Mahlzeit noch nicht beendet, als sie die Schreie hörten. (…)
Die Liebesgeschichte ist höchst einseitig: Die rational praktische Émilie, die Frau, lässt Franck innerlich leer und hilf- und planlos zurück. Alice Zeniter spielt mit der eigenen Fiktion. Sie legt Franck philosophische Spekulationen in den Kopf, mit denen er das Vergessen zu fassen sucht und schließt damit die „Liebe“ kurz mit dem Taumel der Natur auf der abgeschiedenen Insel und dem undurchsichtigen Entschwinden des Dichters.
Die objektive Welt existiert nicht. Wir erproben dort lediglich eine Abfolge persönlicher Wahrnehmungen. Und wenn das Ich so stark angegriffen ist, dass es nicht länger wahrnehmen kann, dann ist es die Welt, die zusammenstürzt. Das ist kein Sinnbild. Es gibt nicht auf der einen Seite einen Menschen mit gebrochenem Herzen, der glaubt, nicht begreifen zu können, wie ihm geschieht, und auf der anderen Seite eine objektive, ganz wirkliche Welt, die darauf wartet, dass er wieder zur Ruhe kommt, um ihm zu zeigen, dass sie immer noch da ist, um zu flüstern: »Siehst du, alles ist gut. Ich bin’s, die Welt. Ich war während deines Taumels immerzu an deiner Seite.« Nein. Im Moment der Detonation verschwindet die gesamte Welt, weil es keine Instanzen gibt, die sie erfassen könnten.
Alice Zeniter zieht mit freundlicher Gelassenheit über den Literaturwissenschaftsbetrieb her. „Da war Solange Théveneau, Professorin der Komparatistik an der Sorbonne, die vor allem auf afrikanische Literaturen spezialisiert war, sich aber auch für die Thematik innerer Dämonen und für das Exorzismusvokabular bei Galwin Donnell interessierte. (…) Da war Judith Maroon, Professorin der Gender Studies, knallige Halbrandbrille und altersloses Gesicht, die ihrem Tischnachbarn, Markus Mann, vom Vormarsch der Transidentität und dem Rückzug des Feminismus erzählte. Mann war ein Kriminologe aus Berlin, den sein Bauch in einigem Abstand zum Tisch hielt.“ Und alle spüren sie einem verschollenen kauzigen Krimischreiber nach. Und vielleicht auch anderen Objekten. Eine Insel ist dafür der perfekte Schauplatz. „Eine von Humor und Witz durchblitzte sanfte Traurigkeit schwebt über diesem Buch.“ (Joseph Hanimann) Magie und Ironie stehen sich manchmal ein wenig im Weg.
2015 – 320 Seiten
Alice Zeniter – Juste avant l’oubli (4:30 – französisch)

Filed under: Theater
Anna Jelena Schulte : Zukunftsmusik
Inszenierung : Antje Thoms
Zukunftsmusik: „Etwas, dessen Realisierung noch in einer fernen Zukunft liegt, was noch als utopisch angesehen werden muss“ (Duden) – Aber das bringt hier auch nicht weiter.
Zukunft. Nein | Musik. Alt | |
Es kommt ein Komponist aus der „Zukunft“ (ein „Zeitreisender“). Was er im Hier und Jetzt will, erschließt sich nicht. Er wähnt, „unter uns“ zu sein und beschließt, „unter uns“ zu bleiben. Ohne ihn wären wir verloren. | Über die Phase der ihm zugestandenen „Inspiration“ kommt der Komponist nicht hinaus. Es wird viel gesungen, aber nicht aus der Zukunft, sondern aus der Jetztzeit, inspiriert von vergangenen Jahrhunderten. Schön, der Dreigesang. Dekorativ. Domhäher. |
„Regensburger Wahrheiten“ – titelt das Theaterprogramm – und liegt damit nicht nur geografisch völlig daneben. Das „Auftragswerk“ von Anna Jelena Schulte stellt sich universaler auf. Die Autorin hat sich in die Köpfe (von „Social-Media-Stars, Forscher*innen und Traditionsunternehmer*innen“) hineingefragt und ist auf „Liebe und Apokalypse, Erlösung und Zerfall“ gestoßen. Wenig Wahrheiten, beiläufiges Brimborium.
Chichi.

Regensburg ist überall und damit nirgends.
Nachdem sich der Erweckungskomponist (Thomas Mehlhorn) etwas albern auf die Bühne bemüht hat, können die DREI EINAKTER DES LEBENS ihren Ausgang nehmen. Hehrer Stoff: Beerdigung, Hochzeit, Taufe. Anna Jelena Schulte treibt’s immer wieder mit ihrer pseudoreligiösen Symbolik. Schon der Komponist ist ja von irgendwann und irgendwo zu uns gekommen, um uns – und sich – zu erlösen von den Übeln des Zeitgeists.

BEERDIGUNG. Die Info zum ersten Akt endet mit den Fragen: „Was ist passiert und was haben sich die Generationen zu sagen?“ Meine beiden Antworten: Wenig, wenn es aus dem Stück erschlossen werden soll. Die erste Szene zieht sich überdehnt durch den Wald. Drei „Regensburger Originale“ (Im Ernst? Wer hat das der Autorin eingeflüstert?) vergraben eine junge Frau, die sie meinen erschossen zu haben. Lokal: Michael Heuberger plappert bairisch.
Die HOCHZEIT könnte ein Fest sein, wenn sich die Akteur:innen nicht goldene (Gold ist das hippe Rosa.) Brillen aufgesetzt hätten. Hochaktuell, weiß Sascha Lobo (geht auf die 40 zu): „Was nach dem Smartphone kommt, ist: eine Brille“. Wo das virtuale Blendwerk überwuchert, ist die echte (?) Realität nicht mehr zu ertragen. Das Brautpaar und seine Zeugen sind deshalb mit den Füßen in Schistiefeln am Bühnenboden festgeschraubt und wiegen sich im Meta-Glück. Als die Energie ausfällt, reißen sie sich die Brillen ab und werden von der „Analogikerin“ Katharina Solzbacher mit einer Bußpredigt aus ihren verklärten Visionen gerissen. Ja, das soll auch in Regensburg geschehen. Als Beiwerk treten noch ein paar skurrile Hochzeitsgäste auf: Bienenköniginverehrer oder Ameisenmenschen?

TAUFE: Kinder dominieren die Bühne. Keine kleinen, sondern ein Mix aus den vorhandenen Spieler:innen. Kinder sind qua Alter der Zukunft zugewandt, die letzte Generation auffällig rigoros. Wer sich weigert, sich für eine – was auch immer – Zukunft zu engagieren, wird zwangsbekehrt, wird verpflichtet, in den „Chor“ der Kinder einzutreten und sich dafür taufen zu lassen. Auch das ist wieder schön anzusehen, wie die Alten als Kinder wuseln, murmeln, singen, sich echauffieren, alles unter Anleitung der Chorleiterin Natascha Weigang. Regensburg sehe ich hier als Rückprojektion, als Kamerafahrt über die Platzfolge, die im Wasser des Wehrs endet, also im Taufwasser. Der Täufling Guido Wachter taucht ein, wieder auf und lässt seinen ganzen Frust über die infantilen Zwangszeremonien in einer Suada auf die Segnungen des unregulierten Alltagslebens von der Seele. Aber ist das lustige Treiben nicht eine Veräppelung des „heiligen Ernstes“ der jugendlichen Engagements für Klima/Umwelt?
WAHRHEITEN verspricht das Theater programmatisch und ganz im wishy-washy-Slang der Zeit. Aus der „Zukunftsmusik“ kann man sich eine/seine „Wahrheit“ herauspicken, wenn man denn nach Haltepunkten sucht oder sich auf solche angewiesen fühlt. Weg mit den Schießern, weg mit den goldenen Brillenaffen, weg mit der penetranten Jugend. Alles aber auch andersrum und auch nicht ernst gemeint. Das Stück verspielt die Themen, die Inhalte fransen aus, die Absurditäten verlieren sich in mangelnder Treffsicherheit. Ich versteh‘ oft nicht die Biene. Manchmal sehne ich mich nach den Jelinekschen Textflächen.
Ein bemühtes und gewundenes Bühnenstück, eine stimmige und einfallsreiche Inszenierung von Antje Thoms, fantasievolle Kostümierung und Bühne von Florian Barth, madrigaler Dreigesang Arno Waschk. Mit Zukunft hat das wenig zu tun, mit Regensburg noch weniger. Ein Abend, „der experimentelles Tun mit unredigiertem, erratischem Verrätseln verwechselt, das wenig sendet und noch dazu wahnsinnig selbstverliebt daherkommt. Und in etwa so aufregend ist wie ein leergetrunkener Bierkasten.“ (Christian Muggenthaler, Die deutsche Bühne)
Nicht alle Besucher wollten die „Zukunftsmusik“ bis zum Ende hören. Dennoch lauter Applaus, einige hörten sich auch gern trampeln. Wenn man für das Ensemble klatscht, meint man nicht unbedingt das Stück mit. Weshalb gibt es beim Theaterbeifall keine A- und B-Note?
Theater Regensburg – Aufführung am 2. Oktober 2022
Fotos: Pawel Sosnowski
Filed under: Blicke aus dem Fenster

Engelstrompete –
trotz oder wegen des Namens:

Jan Costin Wagner:
Sommer bei Nacht

Ein Gedanke ist eingerastet. Der Gedanke ist schwarz gewesen.
Landmann hat gewartet. Auf irgendein Wort.
Jannis ist verschwunden, beim Flohmarkt der Schule. Die Überwachungskamera zeigt ihn an der Seite eines schemenhaften Mannes, in der Hand einen großen Teddybären. Ermittlungen werden eingeleitet: Ben und Christian, wir dürfen sie mit Vornamen kennenlernen, Landmann, schon im Ruhestand, Lederer. Bald wird auch der Entführer genannt, Marko, auch der Hausverwalter Holdner scheint beteiligt. Die Spannung geht vom Whodunit zum Howcatchem, den Methoden der Aufklärung. Die Spurensuche führt an erwartbare Orte: das Hochhaus, der Wald, ein ähnlicher Fall in Innsbruck. Das könnte ein Fernsehkrimi sein, Worte wirken jedoch eindringlicher, wenn man sie akribisch setzt. Jan Costin Wagner interessieren mehr die inneren Regungen der Ermittler, speziell die Erschütterungen von Ben und Christian, die auch von außerkriminalistischen Geschehnissen angestoßen werden. Das verlangsamt die Erzählung, jedes Wort, jede Geste wird reflektiert.
Christian fragt sich, was Ben geträumt hat. Ob es schön war oder nicht. Eine Frage der Perspektive. Traumlos, das hat er gelesen, sei in aller Regel nur der nächtliche Tiefschlaf. Das könnte dafürsprechen, dass man im Traum eine Anbindung an die Realität bewahrt. An das Leben. Während der Tiefschlaf Kontakt zum Tod aufbaut.
Gleich, wenn er in die Szene hineintreten wird, muss er in der Lage sein, seinen Text aufzusagen. Fehlerfrei.
Er läuft ein paar Schritte, behutsam, stellt sich vor, ein ermittelnder Beamter zu sein. In einem Vermisstenfall. Möglicherweise einem Entführungsfall. Ein Brennen ist hinter seinen Augen, ein stummes Lachen vibriert auf seinen Lippen. Einige Sekunden lang, dann zieht es sich zurück. Er läuft. Stellt sich vor, der leitende Ermittler zu sein, der er tatsächlich ist.
Das langsame bis zähe Voranschreiten der kriminalistischen Arbeit, von Gedanken über Worte bis zu deren Umsetzung, kompensiert Jan Costin Wagner durch den rasanten Wechsel der Perspektiven. (14 hat Peter Körte in der FAZ gezählt.) Kaum mehr als eine Seite bleibt er bei einer Person, zunehmend werden auch die – bekannten oder vermuteten – Täter einbezogen. Auch die Eltern der Opfer oder Familienmitglieder der Kommissare kommen zu Wort.
Die Art der Darstellung macht den Reiz dieser Kriminalgeschichte aus, sie wirkt feinsinnig, beobachtet genau und empathisch. In knappen, nüchternen Sätzen skizziert Wagner zum Pathos und dann daran vorbei. Der Stil kann aber auch affektiert wirken, vor allem, wenn sich manche Motive häufig wiederholen. Die Wirkung von Worten etwa:
Seine eigenen Worte klingen nach. Er ist selbst überrascht, von der Wucht, mit der er sie ausgesprochen hat. Und darüber, dass er jedes Wort genau so gemeint hat. (…) Die Worte klingen nach. Er gleicht sie mit seinen eigenen ab. Ähnlich hat er die Frage gestellt. Ungezählte Male. Er war Ermittler. Er hat Menschen befragt, denen Schlimmes widerfahren ist.
Was, denkt er.
Was. Ist. Passiert?
»Nein«, sagt er. (…)»Ja«, hat er entgegnet. Hat dem Wort nachgelauscht. (…) Dann hat der Polizist berichtet. Landmann hat zugehört. Worte, die im Raum schweben, ihren Platz finden, eine Aussage kristallisiert sich heraus, eine Nachricht.
Die Figuren sind einsam, müssen neben den Tätern auch sich selbst finden. „Wagner erzählt (…) nicht um der Sensation willen, sondern um die Abgründe der menschlichen Seelen zu erforschen.“ (Marcus Müntefering, SPIEGEL) Man kann Jan Costin Wagner natürlich auch Routine unterstellen. „Die Zusammenhänge zerfasern, lösen sich voneinander ab, bis sie in Fetzen herabhängen. Alles wird beliebig, beiläufig, weil sich etwas festgebissen hat, etwas, das er noch nicht benennen kann. „
Schattenhafte Bilder zucken auf, während er sich nähert, er fokussiert sich auf Marlenes Lächeln, die Bilder sind Erinnerungen. Ferne Erinnerungen. Eine ganze Nacht weit entfernt. (…) Ben schließt die Augen, jetzt ganz umschlossen von dem einen Gedanken, dem, den er nicht mehr zu Ende denken wird.
Mit „Am roten Strand“ hat Jan Costin Wagner 2022 eine Fortsetzung der „Ben-Neven-Krimireihe veröffentlicht.
2020 – 310 Seiten

Marie NDiaye:
Die Rache ist mein

Aber ich habe Monsieur Principaux nichts mehr zu sagen. Aber ich schäme mich vor ihm. Aber ich hasse ihn auch, was meine Scham noch steigert. Aber ich kann das alles nicht mehr entwirren. Aber er tut mir leid, aber ich hasse ihn, aber ich schäme mich vor ihm wie vor Gott.
Person A ist mit Person B verwandt, befreundet, verheiratet, steht mit ihr in einem Arbeitsverhältnis. Es reicht, dass man mit einer/einem anderen zu tun hat, dass man sich auf sie/ihn eingelassen hat. Was man auch tut oder bloß denkt, das Gegenüber greift ins eigene Leben ein, man wird unsicher, verliert die eingebildete Souveränität. Person A und Person B geraten in ein Abhängigkeitsverhältnis, jede(r) sieht sich veranlasst, eine Rolle zu spielen. Die Freiheit ist dahin. Man hasst den anderen, weil man sich selbst hasst und man hasst sich dafür, dass man aus dieser Schleife nicht herauskommt. Scham gebiert Rache.
In Marie NDiayes „Die Rache ist mein“ gibt es mehrere solcher „Paare“ Manche sind sich näher, manche existieren nur in der Projektion, es kann sein, dass man sich Gegenspieler:innen sucht, um sich in der Abgrenzung selbst zu finden. Maitre Susane, die Anrede gebührt der Rechtsanwältin und wird im Roman mit „Me“ abgekürzt, Me Susane ist ins Zentrum des Geflechts platziert. Ihre Kontrahenten sind: – ihre Eltern – der (frühere) Freund Rudy – die Zugehfrau Sharon – M. Principaux – Marlyne Principaux. Es gibt Querverbindungen: Sharon etwa putzt auch bei den Principaux‘, ohne dass das Me Susane zunächst weiß, Sharon nimmt Rudys Tochter Lila in Obhut. Herr und Frau Principaux verstehen sich nicht: Der Kindermord variiert das Medea-Motiv.
Me Susane „wusste auch, dass letztere eine paradoxe, aber gängige, fatale und daher verzeihliche Neigung haben, es dem kleinen Mädchen übelzunehmen, nicht hübsch zu sein, statt vielmehr ihren eigenen Mängeln die Schuld zu geben, die sich, durch den Fortpflanzungsprozess verstärkt, eklatant und beklagenswert im Gesicht und in der Gestalt des Kindes wiederfinden“. (…)
Denn sie wusste von klein auf, dass sie nicht hübsch war.
Sie wusste, ohne dass irgendwer je ein Wort darüber verloren hätte, dass der unabänderliche Mangel an Schönheit eines geliebten kleinen Mädchens dessen Eltern nur bitter enttäuschen konnte.
Sie wusste auch, dass letztere eine paradoxe, aber gängige, fatale und daher verzeihliche Neigung haben, es dem kleinen Mädchen übelzunehmen, nicht hübsch zu sein, statt vielmehr ihren eigenen Mängeln die Schuld zu geben, die sich, durch den Fortpflanzungsprozess verstärkt, eklatant und beklagenswert im Gesicht und in der Gestalt des Kindes wiederfinden.
Das wusste Me Susane seit jeher!
„Doch „ihre Eltern, Monsieur und Madame Susane, brachten Lila eine aberwitzige Liebe entgegen.“ Eine Rolle spielt dabei, wie immer bei Marie Ndiaye der soziale Status. Me Susane ist „proletarischer Herkunft“, die Mutter von Lila ist reich. Reich und einflussreich ist auch der Junge, der sich Me Susane als Zehnjährige ungebührlich angenähert haben soll. Ihre Eltern nehmen den Jungen in Schutz, Me Susane bildet sich ein, er sei der junge Principaux gewesen. Auch als Leser erhält man nur Andeutungen, was einen Reiz des Buches ausmacht, was aber die „Rache“ nur bedingt erklären kann. Als Rudy, der Freund und Kollege, „voller Bestürzung feststellte, dass er Me Susane nicht mehr mit der gleichen Leidenschaft liebte, als er erhebliche Fehler an ihr entdeckte und sich wahrscheinlich an der loyalen Zuneigung stieß, die sie ihm anstelle der hohen Liebe, die er ihr geschenkt hatte, entgegenbrachte, als Rudy ihr mit aller Vorsicht ankündigte, dass er daran gedacht hatte zu gehen, da belog sie ihn erneut durch ihre Tränen und ihre betroffenen Worte, um ihn zu schonen, wie sie meinte, denn er hatte die Rolle des sensibleren von ihnen beiden übernommen“.
Auch zu Sharon, der Putzfrau ohne Papiere, hat Me Susane ein ominös zwiespältiges Verhältnis. „Me Susane spürte von Anfang an, dass Sharon auf obskure Weise eine zutiefst verworfene Frau in ihr sah — einen Morast.
Und das hasste Me Susane an Sharon.
Me Susane fühlte sich dessen, was Sharons schlichte Intuition ihr unterstellte, so unschuldig, wie es die anmutigen, liebenswürdigen, erlesenen Kinder waren, auf deren Schultern Sharon demonstrativ ihren schützenden, puritanischen Arm gesenkt hatte.
Dieser Arm war es, so dachte Me Susane zornig, das erbauliche Gewicht dieses Armes war es, was das ehrliche Herz der Kinder verdarb.“ Der Kontrast lässt sich nicht auflösen, verworfen steht neben liebenswürdig, ehrlich neben verdorben. Me Susane wird ihren rivalisierenden Gefühlen nicht Herr, sie ist von ihnen abhängig.
„Sie fühlte sich stolz, auch wenn sie tief verletzt war. Da sie sich jedoch bewusst war, verletzt zu sein, verspürte sie darüber keine Scham.“
Eines Tages besucht Herr Principaux die Anwältin und bittet sie, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen. Marlyne Principaux hat ihre drei Kinder in der Badewanne ertränkt.
»Das hatte ich nicht vorhergesehen, ich wollte ihm doch nichts Böses tun, ich wollte niemandem etwas Böses tun, vor allem nicht meinem geliebten Kind!«, würde Marlyne voller Verzweiflung sagen, als sie sich an die Szene erinnerte.
Allen, die sie hörten, würde es unzweifelhaft erscheinen, dass sie sich bemüht hatte, diese drei Kinder, von denen sie versicherte, dass sie sie über alles liebte, nicht mehr leiden zu lassen als nötig (da für sie klar war, dass sie sterben mussten). (…)
Von welcher Natur war diese Tat?
Allein der Hass, sagte sich Me Susane, kann es jemandem erträglich machen, solche Gräuel zu begehen.
Denn Marlyne, das musste man sich klarmachen, hatte ihren drei Kindern Folterqualen zugefügt, nicht wahr?
Me Susane fühlte sich zutiefst aufgewühlt.
Me Susane besucht Marlyne Principaux im Gefängnis. Sie merkt, dass sie die Frau hasst und sich – gerade deshalb, weil sie in ihr eine gleich Bedauernswerte sieht, zu ihr hingezogen fühlt. Marlyne Principaux verliert sich in einem langen Monolog in ihren Gefühlen. „(Me Susane hatte die Hände in einer entschiedenen, freundschaftlichen Geste über den Tisch hinweg auf Marlynes Schultern gelegt, sie hatte durch den weichen Stoff des Sweatshirts hindurch die angespannten Muskeln dieser Frau gedrückt, die ihr Schrecken und Abscheu einflößte.“
Aber es ist Monsieur Principaux, den ich in seinem schmutzigen Badewasser hätte ertränken sollen. Stattdessen habe ich ihn von einer Last befreit, aber ja. Aber das ist nicht das, was ich wollte. Aber Monsieur Principaux ist zu einer tragischen Figur geworden, oder? Aber das ist nicht das, was ich wollte. Aber er sagt mir, dass wir danach wieder zusammen sein werden.
Me … Me Susane, Verzeihung, aber sagen Sie ihm bitte, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will, weder jetzt noch danach. Aber sagen Sie ihm, dass ich ihn hasse. Aber sagen ie ihm, dass …«
In Lëila Slimanis „Dann schlaf auch du“ tötet die Kinderfrau Louise die ihr anvertrauten Kinder. Auch hier geht es um den “erweiterten Suizid“, die „Tötung aus Liebe“. „Der erweiterte Suizid geschieht im Grunde genommen aus reiner Liebe. Dabei meine ich (…) vor allem Mütter, die ihre Kinder und sich selbst töten.“ (Andreas Marneros, ZEIT) Die Frau fühlt sich unterlegen, minderwertig, glaubt, den körperlichen und sozialen Ansprüchen nicht zu genügen.
Bei Slimani liegen die Gründe in den sozialen Verhältnissen, bei Ndiaye spielen diese auch eine Rolle, doch wird das übertüncht von den aus dem Ruder laufenden Emotionen. Der Roman verstrickt sich in den Obsessionen der Figuren und wird spätestens ab der Mitte für mich zäh, uninteressant. Das Erzählen verplempert sich in Wiederholungen, neu auftauchenden Figuren (wie das Kind Lila), Abschweifungen (wie die Reise Me Susanes nach Afrika, vorgeblich um Sharons Papiere zu besorgen). „Die Rache ist mein“ seziert nicht die Gesellschaft, er vertieft sich in subjektive Psychosen, die nicht durch den Arm-Reich-Gegensatz geschaffen werden, die aber ein Korrelat zu sozialen Problemen werden können. Eine „Krankengeschichte moderner Subjektivität“, einen „Psychoirrgarten“ liest Jörg Plath (Deutschlandfunk Kultur). Der Kindermord gerät immer wieder aus dem Blick, die Rache ist vielfach motiviert. „Keine der Figuren lädt zur Identifikation ein, alle sind voller Schatten und Geheimnisse, immer häufiger verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Halluzination und Wahn. So wie die äußere Welt von Nebel, Glatteis und arktischer Kälte bestimmt ist – Dunst, Nebel, Kälte, Eis sind die am häufigsten vorkommenden Wörter –, so sind die Beziehungen der Personen untereinander bestimmt von Heuchelei, Feindseligkeit und Hass. (…) Marie NDiaye ist eine Meisterin des Suspense, der Spannung, der Zweideutigkeit. Ihre Figuren sind ohne inneren Kompass, ihre äußeren Konturen zerfließen, der Leser bleibt ratlos zurück.“ (Barbara Machui, Der Standard) Auch die Erzählung selbst „zerfließt“. Mein letzter Roman von Marie Ndiaye.
2021 – 235 Seiten

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Anna Yeliz Schentke: Kangal

Koyun gibi. Ayla kann es sich leisten, ein Schaf zu sein. Wenn ich ihr erzähle, weswegen ich hier bin, wird ihr Bild von der Türkei, nach der sie sich sehnt, zerstört sein.
»Ich bin in Deutschland, weil ich sonst im Gefängnis säße.«
Ayla lächelt nicht mehr.
»Was hast du gemacht?«
Hier hat alles seine Ordnung. Ins Gefängnis gehören nur die, die eine Gefahr für andere sind. Ein Bürgersteig hat einen Bordstein, die Wege sind sauber, die Gärten sind gepflegt. Du kannst hier nicht einfach über Nacht ein Haus bauen und dann darin wohnen. Du brauchst eine Genehmigung. In diesem RegelDeutschland können sich die Menschen nicht vorstellen, dass alles außer Kraft gesetzt wird. Notstände kennen sie nur noch aus Geschichtsbüchern oder aus dem Fernsehen. Wenn sich unsere Mütter nicht zerstritten hätten, dann müsste ich Ayla jetzt nicht alles erklären, weil sie gesehen hätte, wie wir uns verändern mussten.
»Vor fünf Jahren gab es den Versuch, die Regierung zu stürzen. Du hast sicher Bilder davon im Fernsehen gesehen, auf der Brücke.«
Im Juli 2016 versuchten Teile der türkischen Militärs die Staatsführung zu stürzen. Der erfolglose Putsch hatte rigide Reaktionen der Regierung zur Folge. Überprüfung und Inhaftierung von Zehntausenden von Menschen, Verhängung des Ausnahmezustands, rücksichtslose Erklärung von Opponenten zu Terroristen. Viele der Maßnahmen dauern bis heute an.
Die Studentin Dilek (= Wunsch, Bitte, Begehren) betreibt ein Blog mit dem Codenamen „Kangal11012“ Kangal ist ein türkischer Hirtenhund, der als gefährlich eingestuft wird. Trotz ihrer Verbindung mit Tekin flüchtete sich Dilek nach Deutschland, um erwartbaren willkürlichen Repressalien zu entgehen.
In Frankfurt hängen Dileks Gedanken und Sorgen immer in der Türkei, ihren oppositionellen Freunden dort, an Tekin natürlich. Überlagert wird alles von ihrer ungewissen Situation. Was geschieht in der Türkei? Könnte sie dahin zurückkehren, wird Tekin nachkommen? Ist sie auch in Deutschland in Gefahr, eventuell, weil sie ihr Kangal-Blog verrät, obwohl sie diesen inzwischen gelöscht hat? Dilek weiß, dass die Türken, die in Deutschland leben, zu überwiegenden Teilen Erdoğan, (Ismi Lazim Degil, „der, der keinen Namen braucht“) gewählt haben. „Von Deutschland aus wählen sie die Parteien, die mein Land zu einem gemacht haben, in dem man nicht mehr bleiben kann.“ Tekin ist weit weg, Dilek hat als Gesprächspartnerin ihre Cousine Ayla, mit der sie in Frankfurt in einer Wohnung lebt. Was ihr Halt, Trost geben soll, treibt die beiden auseinander.
Ayla: „Weil vielleicht hat Melek schon ein bisschen recht, denke ich, und Dilek macht sich viel mehr Sorgen, als sie müsste.“
Die Gespräche, durchsetzt mit den dazugehörigen Gedanken und Emotionen, verteilt Anna Yeliz Schentke auf ein- bis zweiseitige Kapitel, immer in wechselnden Perspektiven. Auch die Partner, die Unterhaltungen geben keine Sicherheit, keine(r) kann Dileks Sorgen ganz verstehen. „Kangal“ unterscheidet sich von anderen Romanen über junge Türkinnen in Deutschland, da Schentke nicht den Clash der Zivilisationen in den Mittelpunkt stellt, die Traditionen der Familie, sondern eine Studentin, die politisch verfolgt wird bzw. sich verfolgt fühlt. Dennoch ist „Kangal“ keine politische Analyse, weder der Zustände in der Türkei noch derer in Deutschland. Es geht mehr um das subjektive Erleben und Fühlen. „Die Genauigkeit, mit der ihre Figuren auf deutsche und türkische Verhältnisse schauen, ist verblüffend“, schreibt Christoph Schröder in der ZEIT. Doch für Genauigkeit haben die Figuren nicht den Überblick oder Schröder ist von den „Verhältnissen“ überrascht.
Wenn einem das Gesicht heiß wird und die Traurigkeit den Hals hochklettert, schnell an etwas anderes denken. Mit allem, was man hat. Das ist die Gewalt, die ich mir antun muss, um weitergehen zu können, und in Deutschland habe ich das perfektioniert. So lange an etwas anderes denken, bis ich dort angekommen bin, wo ich atmen kann.
Der Roman bleibt hängen, nachdem Dileks Problem erklärt ist. Die Verhältnisse ändern sich nicht weiter, die persönlichen Risiken und Möglichkeiten werden hin und her gewälzt, man will sich gegen potenzielle Mithörer absichern, hegt Verdachte gegen Bekannte, wird hysterisch beim Gebrauch von Telefonen oder E-mails. „Mit Ayla und Melek am Tisch in einer vollen Kneipe werde ich das Smartphone nicht aus der Tasche holen.“ Verzweifelte Gespräche mit Müttern, Anwälten, Freunden. Es kann kein beständiges Ergebnis eintreten, solange sich die politische Situation in der Türkei nicht stabilisiert, zur Demokratie zurückfindet.
Unter dem Betonpavillon auf der Anlage sitzt Ayla im Schutz vor dem Regen. Sie kam gestern nicht nach Hause, ich lag auf meinem Bett, als sie sich meldete: »Können wir reden?«
Natürlich können wir, weil sie Ayla ist oder weil sonst niemand mehr geblieben ist, mit dem Reden geht. Und vielleicht weil sie der letzte Grund ist, warum ich noch hier bin.
»Warst du heute Nacht bei Melek?«
Ayla schüttelt den Kopf. »Ich habe mit Anne gesprochen.«
»Über mich?«
In meinem Kragen hat sich Regen gesammelt, er tropft mir in den Nacken.
»Sie sagt, du sollst zu uns nach Hause kommen, sie hat eine Anwältin für dich.«
Was für eine Anwältin? Ich habe Sinem. Selbst alle Sinems der Welt können mir nicht helfen, Sinems kommen in den Knast wie andere Leute auch, und eine Anwältin aus Deutschland weiß nicht mehr als ich. Eine Anwältin aus Deutschland, für was?
»Du solltest ihr nicht von mir erzählen.«
Aber Ayla ist eine, die sich nicht selbst glauben kann, dazu wurde sie erzogen. In der Türkei droht das Gefängnis, hier der Gedanke daran. In der Türkei ist es fast Zufall, ob es passiert. Hier bin ich verantwortlich.
»Sie will dir helfen. Warum nimmst du es nicht an?«
Anne heißt Mutter. Koyuk ist das Schaf.
Anna Yeliz Schentke ist 1990 in Frankfurt geboren. „Kangal“ steht 2022 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
2022 – 205 Seiten

Literaturforum im Brecht-Haus: Lesung, Gespräch, Buchpremiere Anna Yeliz Schentke »Kangal«
Moderation: Mascha Jacobs (1:25)
Hörprobe auf der Seite des Deutschen Buchpreises
Filed under: Blicke aus dem Fenster

Schlappseile sind inzwischen verboten,
um die Bäume zu schützen.
Der Hund bleibt davon ungerührt.
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: Frankreich, Geschichte, Holocaust, Jüdisches
Yasmina Reza: Serge
„Was soll das sein, die Judenrampe. Ihr geht mir auf den Sack mit eurer Judenrampe“

Die Geschwister Nana, Serge und Jean, der mittlere, alle um die 60. Nana ist unpassend verheiratet, Serge gibt sich als Griesgram, Jean ist der Erzähler und sollte als solcher ohne auffällige Eigenschaften bleiben. Dann sind da noch Kinder, Cousins, Ex-Partner, enge oder weitläufige Bekannte. „Mischpoke“ könnte man das im Jiddischen nennen, im Roman wird es zum „familiären Haufen“ erklärt.
Man kennt sich, weiß einiges voneinander, auch weniger Angenehmes. Man spricht miteinander, frei oder nicht ganz offen, gerne oder weil nichts anderes übrigbleibt. Man besucht sich, Anlässe gibt es – oft leider – genug. Familie halt, je umfangreicher, desto mehr Kommunikation, desto flacher oft auch das Gespräch. Krankheiten, Beziehungen, Kinder, Tod, Geburtstage. Yasmina Reza lässt mich am „Kuddelmuddel“ teilnehmen, obwohl mein Interesse an den Themen und Inhalten nicht größer ist als das des Familienhaufens aneinander. Die Familienverhältnisse sind unübersichtlich.
Dann kommt der Grund, weshalb Yasmina Rezas Roman von der Kritik begierig aufgegriffen und „vielgerühmt“ (Eigenwerbung) wurde. Josephine, die Tochter von Serge, kommt auf eine Idee: »Ich habe beschlossen, dieses Jahr nach Osvitz zu fahren.«
»Die haben leider zu.«
» AUSCHWITZ !«, schrie Serge auf. »Osvitz!! Wie die französischen Goys! … Lern erst mal, das richtig auszusprechen.
Auschwitz! Auschschschwitz! Schhhh…!«
»Papa …!«
»Alle können dich hören«, murmelte Nana.
»Ich kann doch nicht zulassen, dass meine Tochter Osvitz sagt! Wo hat sie das denn her?«
Auf Seite 83 treffen die Geschwister Nana, Jean, Serge und dessen Tochter Josephine in Auschwitz ein. Es scheint nicht so, dass Ausschwitz sich in den unterschiedlichen Betrachtungsweisen der vier Personen spiegelt, mehr geht es Yasmina Reza darum, angesichts des Konzentrationslagers die Personen und ihre Marotten vorzuführen. Der Holocaust stellt sich neben das „ziellose Geplänkel“ (Jörg Magenau, DLF), geht im Familientratsch unter. Serge, der selbstverliebte Nörgler, hält Erinnerung für schnöden Schein, für Fetischismus, die beiden Frauen fotografieren alles, naiv beflissen, Jean ist der zurückhaltende Vermittler.
Drinnen ist es sofort beklemmend. Jäh in eine dunkle Höhle versetzt, hauteng mit Leuten, die fast schon Strandkleidung tragen, ärmellose T-Shirts, bunte Turnschuhe, Shorts, Kombishorts, Blümchenkleider, schieben wir uns in Minischritten unter einer niedrigen Decke auf den makabren Ort zu. Durch das grobe Gitter einer Öffnung sehe ich, in einem dünnen Strahl aus Sonne und Staub, wie draußen Serge in seinem schwarzen Anzug auf und ab tigert, er schaut den sich hineinschiebenden Menschentrauben zu, stampft mit seinen Bergschuhen auf die trockene Erde. Die Frauen, vom Strom erfasst, habe ich aus den Augen verloren.
Wir durchqueren den Vergasungsraum, die Wände sind von Kratzspuren übersät, alle Kameras klicken, wir durchqueren den Verbrennungsraum, hinter einer Absperrung sehen wir die Ofen, die Gleise, die Metallwägelchen, aus Originalteilen nachgebaut (das habe ich beim Hinausgehen auf einem Schild gelesen), dann saugen uns das Licht und das Laub an den Bäumen ins Freie.
Mit aufgelöster Miene sagt Nana zu Serge, du solltest da reingehen.
»Ich halte das Gedränge nicht aus.«
»Die Kratzspuren der Fingernägel an den Wänden, unfassbar.«
Serge zündete sich eine Zigarette an, Josephine gesellte sich wieder zu uns.
»Die Spuren an den Wänden sind schrecklich, oder?«, sagte Nana.
»Schrecklich«, sagte Josephine und machte noch ein paar Außenaufnahmen vom Krematorium.
Werden sie jetzt bei jeder Gelegenheit schrecklich, unfassbar usw. sagen?, fragte ich mich. Ich beschloss, mich nicht zu schnell von ihnen wahnsinnig machen zu lassen. Wir betraten das eigentliche Lager.
Dabei spielt schon eine Rolle, in welcher Manier das KZ den touristischen Besuchern präsentiert wird und mit welchen Motiven die Besucher anreisen, welche Funktion für sie das späte Gedenken spielen kann. Man kann das Unermessliche in Fotos wegsperren, man darf sich weigern hinzuschauen, wenn einen schon die Regelung des eigenen Lebens voll beansprucht. Yasmina Reza zeigt ein paar Weisen an, mit dem Grauenvollsten umzugehen, sie stellt sich aber nicht der Diskussion um eine „angemessene“ Bewältigung. Doch „Serge“ ist ein Roman, da haben die Personen Vorrang, auch wenn sie keine hehren Sorgen quälen, auch wenn sie ihr verbrauchtes Geschwafel, ihre Lebensbanalitäten in den Text hineintragen. Allerdings gerät der Roman damit in die Nähe der Marginalie und Langeweile.
Wir wollten das Grab unserer ungarischen Verwandten besuchen. Menschen, die wir nie kennengelernt, von denen wir bislang nichts gehört hatten und deren Unglück das Leben meiner Mutter anscheinend nicht weiter erschüttert hatte. Aber das war unsere Familie, sie waren gestorben, weil sie Juden waren, sie hatten das Verhängnis dieses Volkes erlebt, dessen Vermächtnis wir trugen, und in einer Welt, die sich an dem Wort »Gedenken« berauschte, wirkte es ehrlos, nichts damit zu tun haben zu wollen. So verstand ich jedenfalls das fieberhafte Engagement meiner Nichte Josephine. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob sie irgendwelche Bande mit unserer Mutter geknüpft hatte. Unsere Mutter hatte auf keinen Fall ein Glied in einer Kette sein wollen, und Josephine mit ihrer Ananas-Frisur verspürte offenbar das entgegengesetzte Bedürfnis. Während wir an Block z4a vorbeiliefen — da hatten wir ihren aufklärerischen Furor noch nicht außer Gefecht gesetzt —, informierte sie uns, dass es sich hier um das Bordell handele, dann kommentierte sie das Infoschild über das Lagerorchester. Sag mal, falsche Wimpern, musste das sein, heute?, fragte ich sie. Die sind permanent, antwortete sie.
2021 – 205 Seiten

Gespräch im Literaturclub des SRF (17 Minuten)
Bei Dieter Wunderlich gibt es eine Übersichtsgrafik zum Personal des Romans.
„Man muss es wollen“ – Kritische Rezension bei amazon
Ilya Kaminsky:
Republik der Taubheit
WIR LEBTEN GLÜCKLICH WÄHREND DES KRIEGES
Und als sie die Häuser der anderen zerbombten
protestierten wir,
aber nicht genug, wir waren dagegen, aber nicht
genug. Ich lag
in meinem Bett, um mein Bett ging Amerika
zugrunde: unsichtbares Haus um unsichtbares Haus
um unsichtbares Haus —
Ich stellte einen Stuhl hinaus und betrachtete die Sonne.
Im sechsten Monat
dieser verhängnisvollen Herrschaft im Haus des Geldes
in der Straße des Geldes in der Stadt des Geldes im Land des Geldes,
unserem großartigen Land des Geldes, lebten wir (vergib uns)
glücklich während des Krieges.

Krieg – und Glück. Wie kann man zu Zeiten des Krieges glücklich sein? Weil er „die Häuser der anderen“ trifft? Weil die Häuser der anderen „unsichtbar“ sind? Weil man meint, sich davonstehlen zu können, wenn man die Sinne abwendet? Wenn man sich ins Bett verkriecht? Wenn man nicht zu den zerbombten Häusern schaut, sondern die Sonne „betrachtet“? Wenn man sich „taub“ stellt, sich alle taub stellen?
Taubheit ist keine Krankheit! Es ist eine Liebesstellung!
Man denkt 2022 unwillkürlich an die Ukraine, wird darin bestärkt, wenn man erfährt, dass Ilya Kaminsky 1977 in Odessa geboren wurde. Aber dann heißt es, dass „Amerika zugrunde“ ging. Amerika, das „Land des Geldes“. Geld – sechs Mal wiederholt! Und dazu – in Klammern: „vergib uns“. An wen ist die Bitte/der Appell gerichtet?
Das Gedicht weitet sich zur Erzählung, die Eindrücke bleiben lyrisch. Ilya Kaminsky teilt seinen Text in zwei Akte und stellt sein Personal als „Dramatis Personae“ vor. Was hält den Text, was hält die Menschen zusammen? – Es sind Liebe und Tod.
Im ersten Akt erzählt Alfonso Barabinski von sich und seiner Frau Sonya. Ihr Kind ist zunächst „in Sonya, seepferdchengroß“ und heißt als Mädchen Anuschka.
FRAGE
Was ist ein Kind?
Eine Stille zwischen zwei Bombardements.
Alonso uns Sonya werden getötet. Die Puppenspielerin Momma Galya Armolinskaya kümmert sich um Anuschka und übernimmt im zweiten Akt das Erzählen. Die Soldaten „werden nach Vasenka entsandt, um »unsere Freiheit zu verteidigen«, und sprechen eine Sprache, die niemand versteht“. Die Soldaten bringen den Krieg, wie Maschinen, bringen den Tod. Sie sind der Gegenpol zu Liebe und Mensch.
WAS WIR NICHT HÖREN KÖNNEN
Sie stoßen Sonya in den Armeejeep,
an einem Morgen, einem Morgen, einem Morgen im Mai — ein
münzheller Morgen —sie stoßen sie,
und sie fliegt hin und her und windet sich und kullert in einer Stilledie das Geräusch der Seele ist.

Was ist Stille? Etwas vom Himmel in uns.
Ilya Kaminsky findet eine schöne Form für seine Poesie. Kurze Erzählungen machen Halt in Gedichten, die den Blick auf die Episoden von Krieg und Glück richten, die den Leser mit frechen Bildern überraschen, ihn zum Mit- und Weiterdenken anregen, die das Thema variieren und subjektiv gefärbten Zusammenhalt erzeugen. Die Komposition macht den eigenen Reiz der „Republik der Taubheit“ aus, wobei Republik hier weniger politisch zu verstehen ist. Es ist der Chor der Menschen, der Puppenspieler, die für die Hoffnung einstehen. Und ab und zu schaut Gott vorbei.
In einer Nacht wie dieser hat Gott ein Auge auf sie,
doch sie ist kein Spatz.
In Zeiten des Kriegeszeigt sie uns, wie man die Tür
öffnet und
hindurchgeht,
der wahre Lehrplan aller Schulen.
—
Gespräch im Literaturclub des SRF (17 Minuten)
„Wir lebten glücklich während des Krieges“ – Beitrag in ttt (7 Minuten)
Ilya Kaminsky reads “We Lived Happily During the War“
Eckhart Nickel: Spitzweg

Vielleicht ist es ja das, was Tieck meinte, als er schrieb, dass der Künstler in seinem schönen Wahn die ganze Welt und jede Empfindung seines Herzens in seine Kunst ‚verflicht< und sein Leben nur für die Kunst führt.«
Im Juli/August 2022 steht Eckhart Nickels „Spitzweg“ auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, einer Chart-List, an der alle wichtigen deutschsprachigen Literaturkritiker:innen mitjurieren. Die Begründung: Ein Kunstdiebstahl der besonderen Art. Und der Auftakt für einen Roman, in dem der trickreich verborgene Plot zunächst in den Hintergrund tritt und die Ausstellung von Artifizialität alles ist.
Jetzt hab ich nachgeguckt, was „Artifizialität“ bedeutet, weiß aber doch nicht, ob das was Gutes oder was Schlechtes ist. Meint es eher „künstlerisch“ oder ehr „gekünstelt“? Oder wird das jeweils eine durch das jeweils andere unterwandert, außer Kraft gesetzt? Auf jeden Fall soll diese A. ausgestellt worden sein. Mein lieber Nickel!
So malt Nickel seine Heldin Kirsten: „Kirsten trug wieder ihren Dufflecoat, diesmal mit ausgestellten Twill-Hosen und Collegeschuhen dazu, eine Variante ihrer selbst gewählten Schuluniform, die ich noch nicht kannte. Ich hatte den Eindruck, dass sie uneingedenk der Befürchtungen, was an diesem Tag alles schieflaufen könnte, in einer heiteren Grundverfassung war, als sei sie durch das, was wir vorhatten, aus einer lange andauernden Lethargie gerissen worden und atme nun den Geist einer von unsichtbaren Fesseln befreiten Gefangenen. »Für mich kann die Welt allein zwischen Tag und Nacht enden, so wie jeder Tag.«
Kirsten lachte auf. »Du machst es dir viel zu einfach, mein Lieber.“
Das „Du“ ist der Erzähler, und was er sagt, klingt ganz einfach für einen, der in die 11. Klasse geht. Der eher Kunstaffine ist auch sein Mitschüler Carl und sein Faible ist es, Kunstwerke zu explizieren, speziell solche von Spitzweg, der sich wie er mit C schreibt. Der „Hagestolz“:

Der Hagestolz, wie Spitzweg ihn malt, ist ja nur eine tragische Existenz, wenn man ihn vom Stammbuch aus denkt. Er ist ein wenig wie der kleine Hanno Buddenbrook, als er einen Strich unter seinen Namen in der Familienchronik setzt, weil er dachte, es käme nichts mehr. Oder Morrissey, wenn er singt, er sei the end of the family line: with no complications/fifteen generations (of mine)/all honoring nature/until I arrive (with incredible style). Damit ist eigentlich alles gesagt, denn die Unabhängigkeit des Hagestolzes zeigt sich in seiner umso stärkeren Haltung, angedeutet durch das »Stolz« im Wort, das nicht vom überkandidelten Gefühl herrührt, sondern vom altdeutschen Verb stellen, der Vergangenheitsform stake. Also geht es eher darum, wie sich jemand auf einer Stelle platziert, dasteht, sich entwickelt oder verhält, was für eine Einstellung der Hagestolz hat, von welcher Gestalt oder Beschaffenheit er ist. Und schau nur, wie er zwar auf den ersten Blick bemitleidenswert allein in der Mitte des Gemäldes steht, doch im selben Moment das Zentrum des Orbits darstellt, um den all die vermeintlich glücklichen Pärchen kreisen, weil er natürlich in sich all die Gedanken und Sehnsüchte vereint, die unausgesprochen in den Köpfen der ja vielleicht insgeheim in hoffnungslosem Liebeskummer versinkenden Gestalten im Bild umhergeistern.«
Ich sah ihn erstaunt an. »Du meinst also, sie würden sich stillschweigend nach der überblickenden Souveränität seines Ungebunden-Seins sehnen, weil sie unglücklich sind und ahnen, dass sich das nicht ändern wird, weil sie gefangen bleiben werden im Teufelskreis ihres irdischen Gefühlsreigens, gegen den er durch seine unabhängige Einsamkeit gefeit ist? Das Bild ist also eine versteckte Feier seiner Stellung in der Welt?«
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ganz genau so, praktisch philosophisch sozusagen: mein Schüler, mein Geschöpf!«
Artifizielle Schüler. „With incredible style.“ „An diesem Tag trug [Carl] ein mattgrasgrünes Hemd mit passender Krawatte, darüber einen Fair-Isle-Pullunder mit Rauten in Sand und Moos zu einer beigen Chino-Hose und Chelsea-Boots aus dunkelbraunem Wildleder.“ – Die Freunde der verbalen Artifizialität könnten sich an solchen poetischen Schwallen erfreuen. Freundinnen wird das eher kalt lassen – etwa Insa Wilke im „Lesenswert-Quartett“. Für solch gefinkelte Kunstkritik brauchts aber keinen Roman, der Roman braucht Handlung, und die wird von Nickel an den Rand gedrängt. Dabei beginnt’s originell.
Frau Hügel, die Kunstlehrerin lässt ihre Schüler ein Selbstporträt malen. Alle stümpern vor sich hin, nur Kirsten hat Talent. Frau Hügel beugt sich über die Schulter und wertet: „‘Ausgesprochen gelungen, Respekt: Mut zur Hässlichkeit!‘ Kirsten schluckte in die unmittelbar eingetretene Stille hinein. Nach einer ins Unerträgliche gedehnten Pause, in der alle wie gelähmt auf sie starrten, stand sie auf und rannte mit vor die Augen geschlagenen Händen nach hinten aus dem Kunstraum in das steinerne Treppenhaus.“ – Das steht auf der zweiten Seite des Romans. Kirsten ist weg, Carl nimmt Kirstens Bild an sich, sinnt für Kirsten auf Rache an Frau Hügel, Kirsten soll sich in Millais‘ Ophelia einmalen, um die Lehrer an einen Suizid des Mädchens denken zu lassen. Kirsten wird in Carls Kabäuschen versteckt. Es gibt einen möglichen Kunstraub, der Erzähler besucht seinen Lehrer, einen dollen Showdown. Vieleviele Gelegenheiten für Carl/Eckhart zu Artifizialitäten, „exzentrischen Manierismen“ (Ijoma Mangold), selbstverliebten Präpotenzen, spitzwegschen Abgründen, Versatzstücken aus allen möglichen Kulturen und mehr Mitteln der Pop-Literatur. Ich hab den Überblick und angesichts der angetäuschten tiefen Oberflächlichkeit auch das Interesse verloren. Der Autor genügt sich eigentlich selbst.
Das Verschwinden im Roman ist allgegenwärtig, überhaupt ist der Roman eine Geschichte über das „Zeigen und Verbergen“ (Paul Jandl, NZZ) „Ein Hauch Romanze, ein bisschen Abenteuer um einen vermeintlichen Kunstraub, viel Gelehrten-Expertise über die Kunst, ein Tulpenroman quasi, ein für sich selbst plädierendes Kunststück.“ (Wolfgang Schütz, Augsburger Allgemeine)
2021 – 255 Seiten – dickes Papier
Gespräch im Lesenswert-Quartett (ab 0:35)

Filed under: - Sachbuch
Marshall Sahlins:
Das Menschenbild des Westens – Ein Missverständnis ?

Marshall Sahlins beginnt – wo sonst? – im antiken Griechenland. Da ist, anders als bei „Naturvölkern, einiges an Geschichtsschreibung überliefert. Der Diskurs startet im Krieg – hier: im Bürgerkrieg – von Kerkyra – und es geht um nicht weniger als um die Stellung des Menschen in und zu der Natur. Darum, ob der Mensch ein Natur- oder ein Kulturwesen ist.
Was bestimmte Philosophen des 5. Jahrhunderts v. Chr. versuchten, war seiner Meinung nach deren Trennung. Genauer gesagt wurden Gesellschaft und Natur als Gegensätze definiert, »ein Ergebnis bestimmter Kontroversen im 5. Jahrhundert über die physis (Natur)und den nómos (Übereinkunft)«. Dort wurzelt der Dualismus, der die natürliche Grundlagefür unser metaphysisches Dreieck darstellt: die vorgesellschaftliche, antisoziale Natur, die dikulturellen Systeme der Gleichheit und Hierarchie zu kontrollieren versuchen.
Politisch war die Frage, ob sich die Gesellschaft als Verbundene selbst organsiert oder ob die ungezügelte Selbstsinnigkeit des Menschen eines Herrschers (König, Tyrann, Diktator, …) bedarf, um gemeinsam überlebens- und handlungsfähig zu bleiben.
„Die alten Königreiche, die von einem Palast aus von oben herab, privat, mit Zwang und auf mythische Weise legitimiert regiert wurden, wandelten sich schließlich zur Polis, in der die Regierungsmacht kollektiv, gleichberechtigt und öffentlich den Bürgern übertragen war. Sie versammelten sich öffentlich im Zentrum der Stadt (auf der Agora) und bestimmten in vernünftigen Diskussionen die politische Linie, die ihren Eigeninteressen ebenso wie dem Staat zugutekam — wenigstens dem Prinzip nach war es so.“
Später sieht es Hobbes so: „Angeleitet von Vernunft und getrieben von Furcht beschließen die Menschen letztendlich, ihr persönliches Recht auf Gewaltanwendung an eine souveräne Macht abzutreten, die dieses zugunsten des kollektiven Friedens und der Verteidigung ihrer Interessen vertritt. Auch wenn diese souveräne Macht eine Volksversammlung sein könnte, stand für Hobbes doch fest, dass nach der Erfahrung der parlamentarischen Selbstüberhöhung »ein König sinnvoller ist«.“
Sahlins verfolgt das Dilemma dann durch die Jahrhunderte: Er reflektiert „Die Monarchie des Mittelalters“ und „Die Republiken der Renaissance“, wühlt sich ein in die „Gründerväter“ des jungen Amerika und in den libertären „Egoismus“ vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute. „Koryphäen wie Samuel Johnson, Jonathan Swift, Bernard Mandeville und zahlreiche weniger große Denker hatten als Ego-Systematiker in der Tat die radikal-sophistischen Vorstellungen erneuert, denen zufolge hinter allen sozialen Handlungen, auch hinter den scheinbar tugendhaften und mildtätigen, natürliche Begehrlichkeiten nach Macht und Besitz stecken. »Unsere Tugenden sind meist nur verkappte Laster«, lautet das Motto von La Rochefoucaulds viel gelesenen Maximen. „Der Egoismus kommt moralisch wieder auf die Beine.“ Sahlins will das nicht stehen lassen und sucht nach „Andere[n] Welten des Menschen“. Die Natur als ebenbürtiger Partner des Menschen, so wird das Über-Gewicht des Menschen reduziert bzw. relativiert und damit die Vorrangstellung des „Westens“ korrigiert. Sahlins zitiert eine Vielzahl anthropologischer Befunde aus allen Teilen der Welt. Nicht nur der Mensch ist Maßgröße, auch Tiere, auch Pflanzen, auch Wetterphänomene bestimmen die Vorstellungen vom Leben und von Gesellschaftlichkeit.
Marshall Sahlins findet seine Ruhe in der Synthese. Nicht mehr physis contra nómos, nicht mehr die Natur als latent Böses, das beherrscht werden muss, sondern der „Mensch als kulturelles Wesen von Anfang an: „Die menschliche Natur ist die Kultur.“ Nun, dann müssen auch Vernunft, Vorstellung, Berechnung, Kunst und Gesetz ursprünglicher sein als Hartes und Weiches und Schweres und Leichtes, und ebenso werden dann auch die großen und ursprünglichen Schöpfungen eben als solche Werke der Kunst, was jene Leute aber Werke der Natur und die Natur selbst, die sie (eben) hiernach fälschlich mit diesem Namen nennen, werden etwas Späteres und von der Kunst und Vernunft Abhängiges sein.“ Marshall Sahlins führt ausführlich durch die Entwürfe eines „Menschenbilds des Westens“, das sich in abwechselnden Phasen von gesellschaftlicher Herrschaft durch Macht von oben zur Einhegung der eigensinnigen Gewaltbereitschaft des Menschen (Hobbes) und der Gegenthese von einer genuinen Solidarität, die sich in einem republikanischen oder demokratischen Gesellschaftsvertrag realisiert. Gegenmodelle zum westlichen Menschenbild werden in einem Kapitel eher knapp dargelegt, sie zeigen einen Kontrast, aber keine begründete Einschränkung oder Widerlegung. Das Fragezeichen nach dem „Missverständnis“ ist eher plakativ, die erwartete Antwort wird nicht eingelöst.
Der Verlag Matthes & Seitz publiziert das Buch in der Reihe »Fröhliche Wissenschaft«. Ein Missverständnis?
–
Anne Applebaum:
Die Verlockung des Autoritären.
Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist
Anne Applebaum verspricht im Untertitel die Antwort auf die Frage, „warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“. Die Antwort finde ich nicht. Ja, es gibt einige gut gemeinte Gemeinplätze, die sie, wie fast immer, an Personen festmacht.
Es gibt Apokalyptiker, die überzeugt sind, dass ihre Gesellschaft dem Untergang geweiht ist und gerettet werden muss. Einige sind zutiefst religiös. Manche genießen das Chaos und wollen es herbeiführen, um der Gesellschaft eine neue Ordnung aufzuzwingen. Sie alle versuchen ihre Nationen umzudefinieren, Sozialverträge umzuschreiben und manchmal auch die demokratischen Regeln zu ändern. Alexander Hamilton warnte vor ihnen, Cicero bekämpfte sie. Einige dieser Menschen waren einmal meine Freunde.
Von vielen dieser Freunde erzählt sie und stellt – erstaunt? – fest, dass sie sich geändert hätten, zu Reaktionären geworden seien, während sie, Applebaum, eine liberal-konservative Demokratie verteidigt. Weshalb aber war sie früher mit so vielen Rechten befreundet?
Im August 2019 luden wir zu einer Party ein. Diesmal war es ein Sommerfest, und die Gäste unternahmen keine Schneewanderungen und Schlittenfahrten, sondern sonnten sich auf der Wiese und schwammen im Pool. Statt eines Feuerwerks hatten wir ein Lagerfeuer.
Menschen, die in einem abgelegenen Winkel Polens lebten, unterhielten sich prächtig mit Menschen, die anderswoher kamen. Wie sich herausstellte, können Menschen mit grundverschiedener Herkunft ausgezeichnet miteinander auskommen, denn die »Identität« der meisten Menschen geht weit über diese einfachen Gegensatzpaare hinaus. Es ist möglich, an einem Ort verwurzelt und dennoch weltoffen zu sein. Es ist möglich, gleichzeitig regional und global zu denken.
Anne Applebaums Begriffe von Politik und Ideologie sind unpräzise. Was ist „Demokratie“? Was ist die „Größe“ einer Demokratie? Was kann am Konservatismus „großzügig“ sein? Wasv ersteht man unter „bürgerlich“? Was ist rechts und links?
„Mancherorts wurde die Angst vor der Krankheit und anderen Aspekten der Moderne zur Inspiration für eine neue Generation autoritärer Nationalisten. (…) In den letzten Jahren gingen einige Haltungen der alten marxistischen Linken, allen voran ihr Hass auf bürgerliche Politik und ihre Umsturzfantasien, eine sonderbare Verbindung mit der Verzweiflung der christlichen Rechten angesichts der Zukunft der amerikanischen Demokratie ein. (…) „Im besten Falle war dieser Konservatismus dynamisch, reformfreudig und großzügig, er gründete auf einem Vertrauen in die Vereinigten Staaten, in die Größe der amerikanischen Demokratie und auf dem Ehrgeiz, diese Demokratie mit dem Rest der Welt zu teilen. (…) In den letzten Jahren gingen einige Haltungen der alten marxistischen Linken, allen voran ihr Hass auf bürgerliche Politik und ihre Umsturzfantasien, eine sonderbare Verbindung mit der Verzweiflung der christlichen Rechten angesichts der Zukunft der amerikanischen Demokratie ein.“
Zum antidemokratischen Populismus wird man verführt durch Geld, Ruhm und Macht, es gibt in Ländern, die jahrzehntelang von einer fremden Macht unterdrückt worden waren, offenbar eine tiefverwurzelte Sehnsucht nach nationaler Identität, zugrunde liegt meist die „autoritäre Veranlagung“.
Anne Applebaum belegt ihre Erzählungen mit Gedanken von Theoretiker der Geschichte, auch Hannah Arendt taucht auf. Viele zeitgenössische Intellektuelle, Schriftsteller, Politiker kennt sie selbst, vor allem aus Polen und den USA.
„Meines Erachtens ist der nach der Lektüre gewonnene Eindruck, Applebaum betrachte die politischen Umbrüche lediglich anekdotisch statt analytisch, weitaus kritikwürdiger. Sie bietet keine Begriffserklärungen und ihren Ausführungen fehlt die argumentative Stringenz. Zweifellos kamen die Rechtspopulisten durch die Unterstützung etablierter konservativer Kräfte an die Macht. Doch wann genau haben Politik- und Demokratieverachtung begonnen und was sind die spezifischen Gründe für die sich weiter radikalisierende autoritäre Entwicklung, die wir ausgerechnet in den letzten Jahr(zehn)ten beobachten können? Nicht nur kann die Autorin auf diese Fragen keine neuen Perspektiven oder Überlegungen, geschweige denn überzeugende Antworten liefern, auch der Ausblick, Demokratie müsse im digitalen Zeitalter neu gedacht werden, bleibt unbefriedigend und schwammig.“ (Frauke Hamann: Eine Milieustudie des eigenen Umfelds – Soziopolis)
—
Julia Friedrichs:
Working Class.
Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können
Für die Arbeiterklasse heißt Wandel meist, dass du gefeuert wirst.«

Julia Friedrichs fährt durchs Land und spricht mit Menschen. Sie hört genau zu, schreibt die Antworten zusammen und bündelt sie. Sie ist empathisch. Ihre Erkenntnisse vergleicht sie mit Statistiken und Auskünften von „Experten“. Ihre Themen sind: ARBEIT – wie ist sie organisiert, wie wird sie entlohnt, welche Perspektiven bieten sich? GELD – Wie hoch und regelmäßig sind die Löhne, welches Leben kann man sich vom Einkommen leisten, wie sind die Aussichten auf die Zukunft? LEBEN – Kann man zufrieden sein?
Julia Friedrichs‘ Stationen auf den Erkundungen: Alexandra und Richard, zwei überwiegend freiberufliche Musiklehrer. Sait, Putzmann bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Reza Eskats, Pächter des „Zapfhahns“ im Untergeschoss eines Karstadt-Warenhauses. Man trifft sie immer wieder, begleitet sie durch die Zeiten.
Alle Arbeitsverhältnisse ähneln sich: Das Geld reicht gerade mal so aus, „Luxus“ ist nicht drin, Zurücklegen kann man nichts, auch wenn Krisen absehbar sind, die Arbeit wird zunehmend verdichtet, auch durch Privatisierung und Outsourcing, Zugehörigkeiten (zum Betrieb, zu Kollegen) schwinden. Man vereinzelt, auch der Einfluss von Gewerkschaften geht verloren. Julia Friedrichs referiert wichtige Studien zur polit-ökonomischen Entwicklung, sie ist kritisch, bezichtigt sich der „chronischen Zuversicht“,
Der Blick geht zurück in die 1980er Jahre, fast nostalgisch, bis in die Corona-Zeiten. Julia Friedrichs erinnert sich an Familienserien von damals, als die Arbeiter nach Karstädter oder Siemensianer sein wollten, als man noch an eine bessere Zukunft für die Kinder glaubte, als man nach vorne schaute, ohne zu heulen. Die Pandemie hat die prekäre Lage nicht erschaffen, aber beschleunigt und verschlimmert. Und die Politik? Julia Friedrichs trifft Wolfgang Schmidt, 2021 noch Staatssekretär im Finanzministerium (ab Herbst 2021 Bundesminister für besondere Aufgaben/Chef des Bundeskanzleramtes, engster Vertrauter von Olaf Scholz). Sie erzählt ihm von Alexandra, Sait, Reza und den anderen aus der working class.
Julia Friedrichs „machte es schon damals kirre, weil er die ökonomische Unwucht zugunsten der Vermögen und zuungunsten der working class zuvor detailliert beschrieben hatte, aber bei der Frage nach den Gegenmaßnahmen das ganz kleine Karo wählte. Politik, sagte er schon da, hieße, Probleme Stück für Stück zu verbessern, Meter für Meter, meist Zentimeter für Zentimeter. Aber reicht das? Verlangt der Umbruch der letzten Jahrzehnte nicht entschiedeneres Dagegenhalten? Lässt sich die Kluft in den Vermögen, die Ungleichheit im Bildungssystem, die Unwucht zugunsten wohlhabender Älterer wirklich mit dem Verstellen von ein paar Schräubchen beseitigen? Deutschland ist in den vergangenen Jahren von seiner politischen Klasse gut und vernünftig verwaltet worden, besser als viele andere Länder.
Aber lässt sich eine Gesellschaft wirklich in eine bessere Zukunft steuern, wenn vor allem dafür gesorgt wird, dass die nächste Tagesetappe gut verläuft? Müsste man nicht viel mehr darüber reden, wo man am Ende hinwill?“
Das Buch kommt mir vor wie ein TV-Feature, bildhaft, lebensnah, kritische Fragen, mehr Zeit für die Menschen und den Leser zum Mitdenken und sich gedanklich einmischen.
Und wenn die Welt sich wieder dreht, hoffe ich, mit möglichst vielen von euch bei Reza Eskafi im »Zapfhahn« anstoßen zu können.
2021 – 315 Seiten
Thomas Hüetlin:
Berlin, 24. Juni 1922.
Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland

Am 24. Juni 1922 wurde in Berlin der Außenminister der Weimarer Republik ermordet. 100 Jahre ist das her und doch – wieder – aktuell, denn 2022 gibt es Mordpläne (‚Todeslisten‘) gegen Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens.
1922 operierten die Täter in „geheimen“ Gruppen wie der „Organisation Consul“, die sich aus ehemaligen Kriegskämpfern, Protofaschisten und weiteren Gesindel rekrutierte. Das Reichswehrministerium unter Gustav Noske (SPD!) alimentierte die „Freikorps“ in ihrem Hasskampf gegen die Demokratie.
2022 organisieren sich potenzielle Attentäter über verschwiegen-öffentliche Medien und breiten ihre Pläne in Hass-Postings aus. Die Lage der Demokratie wird kritischer, seit wutbesoffene Bürger sich ihre Frust-Rationen auf den Straßen von der Seele brüllen und Demokratie als totale Herrschaftsform verdammen. Es gab schon Tote, doch lässt sich der Aufruhr noch einhegen, zumindest wenn die Verwaltung auf der Hut ist.
1922 sahen die „Freikorps“ Gleichgesinnte in Politik und Justiz, die über- und verkommenen Reste von Adel und illiberalem Bürgertum betreiben das Geschäft der Restauration.
Thomas Hüetlin erzählt nicht nur die historischen Abläufe, er beschäftigt sich auch mit Struktur, Gedankengut und Aktionen der „Geheimbünde“.
Man musste glauben. Vor allem Kern. Er hatte das Charisma. Er hatte via Hoffmann, dem Stellvertreter Ehrhardts in der Organisation Consul, grünes Licht erhalten, Politiker wie Scheidemann und Rathenau zu ermorden, um einen Umsturz von links zu provozieren.
Was zählte, war nicht die Ratio, was zählte, war die Tat.
Das nackte knallharte Tun — das war es, was Kern glorifizierte. Die gewalttätige Tat, die ruhig auch böse sein durfte.
Denn diese Tat gehorchte gewissermaßen höheren Mächten. Diese Taten flossen aus den Attentätern heraus. Durch sie hindurch. Die Attentäter waren laut Kern nur die Vollstrecker eines höheren Gesetzes. Einer Art altgermanischer Sendung. Oder, wie von Salomon es ausdrückte, die Gewalt, die sie trieb, war »Ausfluß mythischer Mächte, die zu erkennen der reine Intellekt mit all seinen Methoden nicht ausreichen konnte«.
So gesehen war alles möglich — und auch alles erlaubt, wenn nur Kern es befahl.
Die Demokraten, das waren für Kern nichts als Leute, die mit »wirrem Gelärm«, wie er von Salomon in der Pension »Am Zirkus« erklärt hatte, Räume füllen. Irgendwelche unwichtigen Räume. Nicht die »Felder der Entscheidung«. Die lägen »hinter dem breiten Gürtel des Dickichts, durch das wir uns mit harten Schlägen hauen. Da werden wirdann stehen«. (…)
Es waren raunende Worte. Gewalt. Pathos.
Weshalb Rathenau? »Ich habe die Absicht, den Mann zu erschießen, der größer ist als alle, die um ihn stehen«, sagte Kern. »Das Blut dieses Mannes soll unversöhnlich trennen, was auf ewig getrennt werden muss.« Rathenau habe die bitterste Kritik der Menschen und der Mächte seiner Zeit geschrieben, meinte Kern. »Und doch ist er Mensch dieser Zeit und hingegeben diesen Mächten. Er ist ihre reifste, letzte Frucht, in sich vereinigend, was seine Zeit an Wert und an Gedanken, an Ethos und an Pathos, an Würde und an Glaube in sich barg.«
Es war das übliche schwülstige Wortgeschiebe, das Kern wie Weihrauch produzieren konnte. Dem Mordanschlag einen Heiligenschein verpassen. (…)
Rathenau verkörpere für viele Deutsche die Hoffnung auf Frieden, auf Kooperation mit den Siegermächten, auf den Wiederaufstieg des Reichs in einer marktwirtschaftlichen Ordnung. „Der linkskatholische Reichskanzler Joseph Wirth machte ihn 1921 zum Wiederaufbauminister und einige Monate später zum Außenminister. In dieser Funktion ist sein Name vor allem mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag von Rapallo verbunden. Wichtiger war für Rathenau selbst das Ziel, sich mit den westlichen Siegermächten zu verständigen und so gemeinsam das vom Weltkrieg gezeichnete Europa wiederaufzubauen.“
In Rathenau wirkte ein geradezu preußisches Pflichtgefühl samt einem stählernen Ehrgeiz. Im Krieg zuständig für die Rohstoffversorgung des Landes, hatte er aber nie einem Regierungskabinett angehört und das ersehnte Licht der allerersten Reihe im Staat genossen.
Rathenau verkörperte in Perfektion all das, was von Salomon und Kern ablehnten, hassten und bekämpften.
Ausgleich.
Frieden.
Demokratie.
Gekonnte Ökonomie.
Verbindliche Bindung an den Westen.Es war jedenfalls ganz und gar nichts Religiöses. Im Leben der Familie Rathenau spielte die prachtvolle 1866 fertiggestellte Synagoge in der Oranienburger Straße keine nennenswerte Rolle, weder für Erich noch für Walther wurde eine Bar-Mizwa gefeiert, Walthers Hebräisch war bestenfalls rudimentär und fehlerhaft.
Emil galt als »liberaler Jude«, und die Verfassung des Reichs von 1871 hatte die Juden formal gleichgestellt. Trotzdem konnte von Gleichstellung, wenn es um wichtige Ämter innerhalb des Staates ging, nicht die Rede sein. Eine Karriere als Offizier oder Reserveoffizier der Armee war einem Juden versperrt, ebenso eine Laufbahn im höheren Beamtentum. Verglichen mit Ländern wie Frankreich oder Russland, fühlten sich die meisten Juden in Deutschland jedoch trotzdem einigermaßen sicher und so gut aufgehoben, dass sie Vertrauen in ihre Zukunft und die ihrer Kinder hatten.
Trotz dieser formalen Gleichberechtigung war der Antisemitismus im Deutschen Reich nie weg — und das Tempo der zweiten industriellen Revolution ließ ihn sogar stärker werden. »Der jüdische Geist« wurde für viele Zumutungen der kapitalistischen Modernisierung und Ausbeutung verantwortlich gemacht, ein böses Phantom, das angeblich auch hinter den Gegenprogrammen zum Kapitalismus stand, hinter Sozialismus und Marxismus.
Eine Geschichte von unerwidertem Patriotismus und Sehnsucht nach Zugehörigkeit, von verstecktem Stolz und aristokratischer Eitelkeit, von der Überzeugung, dass die alten preußischen Eliten unfähig seien, die neuen Kader aus der Arbeiterbewegung überfordert.
Eine Geschichte, die auf ihn zulief, auf ihn, Rathenau.
Im Jüdischsein potenzierte sich Walthers Entfremdung. Eine Karriere, wie sie seine Klassenkameraden anstrebten, an die Schalthebel der politischen, exekutiven und militärischen Macht, blieb ihm als Juden verstellt, und diese Apartheid deutscher Prägung brannte sich dem begütert Heranwachsenden fest ein. Das Geld war sein Schicksal, es war Sicherheitsrelais und Garant einer gewissen bürgerlichen Freiheit. Aber als Jude stigmatisierte einen Geld auch. Er war gefangen in einem gut ausgestatteten Käfig.

Hüetlins Buch erzählt nichts Neues. Er erinnert zum 100. Jahrestag an eine Zeit, die geprägt war von den überkommenen deutschnationalen „Eliten“, die mit der Demokratie nichts anzufangen wusste, die, auch über nicht beigelegten transnationalen Konflikten, tief gespalten war und keine Strukturen und kein Wissen besaß, wie mit den Antagonismen umzugehen war. Die Rechten waren die irrational raunenden Generalverlierer, die Linken hatten zu wenig Basis und keine Verbündeten in Gesellschaft und Regierung. Rathenau sollte nach außen vermitteln, die Verluste des Krieges neu verhandeln, er war integer, aber kein Mann des Volkes, ein Jude, der deutsch-patriotisch dachte, der Juden verachtete, ein Politiker, der aus der Wirtschaft kam und für die Wirtschaft arbeitete. „Ein komplizierter Mann!“
Der Welthandel liege darnieder, so Rathenau, der Versailler Vertrag habe dessen Organismus zerschlagen. In Amerika wüte die Arbeitslosigkeit, Kohle, Baumwolle, Kupfer lagerten dort im Überfluss. In Russland herrschten Hunger und ein Verlangen nach Produkten, die andere nicht loswürden. Dabei seien die Völker voneinander abhängig, gefesselt durch eine »Kette materieller Verschuldung« und die allgemeine Entwertung des Geldes. Dieser Zustand, so Rathenau, müsse überwunden werden durch eine planmäßige Wiederherstellung des wirtschaftlichen Weltorganismus.
Hüetlin stellt Rathenaus Herkunft, sein Denken und seine politischen Ansichten anschaulich dar und mahnt auch die heutige Gesellschaft vor einem Neu-„Beginn des rechten Terrors“.
Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
Durs Grünbein:
Jenseits der Literatur
(Oxford Lectures)

„Jenseits der Literatur“ räumt ein, dass es hinter/zeitlich vor der Literatur Phänomene gibt, die sich nicht als Fiktion verstehen lassen, die eigene „Wahrheiten“ generieren, bei denen es aber helfen kann, sie mit Mitteln der Literatur zu betrachten, zu beschreiben. „Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt. (…) Fragt man mich heute nach einer Poetik, würde ich antworten: Wir bemühen uns um eine Photosynthese der Worte und der Bilder. Die Worte arbeiten an der Überlieferung, die Bilder erreichen uns immer aus einer kleinen Zukunft, die schnell Vergangenheit wird. Gemeint sind die Bilder aus allen Medien, die uns täglich als Schockerfahrung des Realen überrollen und bis in die Träume hinein wirken.“
Die renommierten Lord Weidenfeld Lectures sind seit fast 30 Jahren einer der Höhepunkte im akademischen Jahr der Universität Oxford. Dazu eingeladen werden bedeutende Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und Dichter. 2019 war Durs Grünbein an der Reihe. Er befasste sich in 4 Vorträgen mit dem Wechselspiel zwischen (deutscher) Geschichte und den Personen, die diese im Land erfahren, ob als Individuum oder im Plural: als „Volk“. Als Beispiele griff er griff er Inszenierungen des Völkischen heraus: „Die violette Briefmarke“ – das Wertzeichen zum Aufkleben auf Briefe mit dem Kopf des „Führers“. Die „Landschaft in Banden“ – Das Mega-Bauwerk der Autobahnen als Symbol der völkischen Fahigkeiten. „Im Luftkrieg der Bilder“ – das Betrachten der Todeserfahrung einer Nation, u.a. mit den augen von Hannah Arendt. Der 4. Teil stellt sich die Frage, ob die Geschichte mit Literatur erfasst werden kann, speziell in Zeiten umfassender Überwältigung: „Für die sterbenden Kälber“ (Karl Philipp Moritz). In allen Betrachtungen ist das Subjekt enthalten, der Literat, Durs Grünbein als aufgeschrecktes Kind und als spät geborenes „Kalb“, welches der Geschichte keine Ruhe lassen darf, damit sie nicht mit Vergessen erledigt wird. Durs Grünbein wendet sich „unverhohlen gegen die regressiven bis revanchistischen Tendenzen der deutschen Gegenwart“. (Kai Sina, FAZ)
An Flucht aus der Zeit ist nicht zu denken, auch nicht an eine Flucht nach innen, denn auch dort holt Geschichte noch jeden zuverlässig ein. Vielmehr, sie geht als Gewaltgeschichte durch ihn hindurch und prägt sich mit ihren Daten den Körpern ein. Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt, die Literatur als »Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem«.
Der totalitäre Staat ist total im Kleinen wie im Größten, total im Schaffen wie im Zerstören.
„Die violette Briefmarke, längst entrückt, plötzlich war sie wieder da, wurde größer und kleiner und oszillierte zwischen einer brutalen Nähe und einer schwindelerregenden Ferne. In dem Fetzen zähnchenumrandeten Papiers war sie greifbar geworden, die Formel vom Einzelnen und der Masse. Die violette Marke mit dem Profilbild des »Führers« war ein Abgrund, der jederzeit aufbrechen konnte. Hier der Einzelne als serielle, graphische Nummer, der Mann aus dem Wiener Männerheim, die inferiore Gestalt, ein Namenloser, einer unter acht Millionen, wie er sich selber in seinem Kampfbuch beschrieben hatte, und da ein Volk aus lauter Habenichtsen und Enttäuschten, die ihn, die gescheiterte Existenz, als einen aus ihrer Mitte an die Spitze gehoben hatten — eine Masse, die ihrerseits aus lauter Millionen Namenloser bestand. Die Briefmarke stand für den zufälligen Einen, den Einzelnen, der sich zum Medium der Vielen gemacht hatte, die ihn schließlich, auf dem Höhepunkt seines kometenhaften Aufstiegs, als Musterfall charismatischer Herrschaft.“
Tausende Kilometer baulich integrierter Natur, Einbeziehung der heimatlichen Landschaften von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt — ein raumumspannendes Werk, das für sich selber sprach. Selten ist die Saat nationalsozialistischer Propaganda so überwältigend aufgegangen wie beim Autobahnbau. Der neue Staat rief, und das arbeitsuchende Volk, das eben noch stempeln ging, war nun erfaßt in der »Deutschen Arbeitsfront«, strömte herbei zu den Baustellen des Landes von der Nordsee bis zu den Bayerischen Alpen. Die Autobahn war das Werk vieler Tausender williger Helfer, ein Traumprojekt totalitärer Planung. Was galt es schon, daß keiner der in den Wirbel Hineingerissenen sich jemals frei fühlen konnte, daß alles nur Aufschub war,Vorbereitung zum nächsten geplanten Revanchekrieg, für den es die Autobahnen brauchte als Mittelzur raschen Truppenverlegung. Wozu es dann aber doch nicht kam, weil die Deutsche Reichsbahn, anders als heute, diese Aufgabe viel reibungsloser erfüllte.“
„Auf ihrer Reise durch Süddeutschland sieht Hannah Arendt die zerstörten Städte, sammelt Impressionen und spricht mit den Leuten, wie eine gute Reporterin es tun würde. Sie trifft auf Karl Jaspers und Martin Heidegger, ihre Lehrer und Weggefährten, aber nicht davon handelt der Bericht. Sie konzentriert sich auf die Stimmung der Überlebenden, das verschüttete Innenleben der Ausgebombten, die durch die Trümmerlandschaft ameisengleich ihrer Wege gehen. Sie bemerkt den Schatten tiefer Niedergeschlagenheit, der über diesem Volk liegt, fragt nach den Auswirkungen des Krieges und versucht, den Alptraum, den ein physisch, moralisch und politisch ruiniertes Deutschland dem Rest der Welt hinterließ, zu deuten. Von heute aus scheint es, als habe es in diesen Tagen nur diese eine gegeben, die sich den Verstand einer modernen Pallas Athene bewahrt hatte. Da ist ein Ton, den man in solcher Klarheit bei keinem ihrer akademischen Kollegen seinerzeit findet, mit Ausnahme der Vertreter der Frankfurter Schule, die vieles davon vorausgedacht hatten.“
„Der Ton ist dabei über weite Strecken nüchtern und sachlich, zum Teil auch sehr persönlich und immer wieder thetisch zugespitzt, weshalb einige Aussagen unvermeidlich Rückfragen, möglicherweise auch Widerspruch provozieren werden – fair enough. Mit seinen im besten Sinne engagierten Lectures leistet Durs Grünbein seinen Teil gegen die fatale Sehnsucht nach der geschlossenen Gesellschaft.“ (Kai Sina)
Ulf Erdmann Ziegler:
Eine andere Epoche

»Glaubst du, Bibi, dass wir in einer Zeit des Endes oder einer des Anfangs leben?«
»Da es Weihnachten wird und du mich nach dem Glauben fragst: Ich glaube, dass eine Epoche zu Ende geht. Ohne Vorwarnung beginnt eine neue. Du musst dich rüsten, Wegman, deinen Blick schärfen für die Zeichen der Zeit.«
»Die Zeichen der Zeit?«
Bibi sah ihm ruhig in die Augen. Der Anflug eines Lächelns, aber sie sagte nichts.
Wo – bitte – soll da eine „andere Epoche“ sein, gewesen sein? 2011/14 in Deutschland? Politische Schütteleien gab es immer, im Roman-Zeitraum auch, doch nichts, das Deutschland erschüttert hätte. Die „Zeichen der Zeit“ als Glaubensinhalt? Da erklärt auch Weihnachten wenig: Der Titel scheint vermessen, Käufer scheffelnd, egal, ob ihn Autor oder Verlag ersonnen haben. Anmaßend ist zudem die Kopplung von politischem Personal und zeitgeschichtlicher Relevanz. Im „Literatur im Römer“-Gespräch versucht Ziegler die Epoche(n) zu begründen und geht dabei über das hinaus, was ich im Roman gelesen habe. (ab 1:09)
2011/14 musste Bundespräsident Wulff wegen Gründen, die vergleichsweise gaga waren, zurücktreten. Sein Nachfolger war der Gaga-Pastor Gauck. Das weiß man oder kann man nachlesen. 2011/14 wurde Peer Steinbrück nicht Bundeskanzler, Philipp Rösler war Vizekanzler. Keine Zeitenwende. 2011/14 wurde endlich ruchbar, was Nazis unter dem Namen NSU unter den Augen des Verfassungsschutzes treiben konnten. Das weiß man heute oder kann es, wenn man will, nachlesen. Ulf Erdmann Ziegler liefern diese „Affären“ den Hintergrund seines Romans. Bisher unterdrückte Aufklärung ist nicht zu erwarten, muss auch nicht sein, denn Ziegler schreibt kein Sachbuch. Er braucht handelnde Akteure.
Der SPD-Abgeordnete Andi Nair leitet den NSU-Untersuchungsausschuss, Florian Janssen ist FDP-Abgeordneter und Vizekanzler geworden, Wulff bleibt Wulff. Erfunden hat Ziegler Wegmann Frost, Jugendfreund von Janssen und Büroleiter von Nair. Frost hat eine eigene Biografie: Er stammt aus einer Reservation in Idaho, wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Jetzt ist er Sozialdemokrat, in dritter Reihe, ein bisschen wichtig, ein bisschen Mitläufer, ein bisschen „Zaungast“. Er darf Reden schreiben, protokolliert Nairs Arbeit im Ausschuss. Wegman hat den Vorteil, Protagonist geworden zu sein, sein Leben und sein Sein stehen so im Mittelpunkt.
Okay, fand Wegman, der sich die Haare mit Papierservietten hatte trocknen wollen und vom Pizzachef wortlos Küchenkrepp gereicht bekam und nun auch schon fast satt und ein bisschen stolz war, dass er nicht nachgegeben hatte, kein Alkohol, mit der Wirkung, dass er sich nicht mehr vorkam wie ein treibendes Partikel in der urbanen Maschine. Es war einfach Wegman in einer Stehpizzeria am Fuße des Bergs, ohne Mütze, aber nicht ohne Kopf, und nun fiel ihm ein, was er wiederlesen sollte, nämlich Hannah Arendt. Wie würde man ihren Zugang zur Welt nennen: warmherzige Erbarmungslosigkeit? Er wollte nicht kalt werden, kalkulierend und zynisch, wissend, dass ihm das noch schlechter stehen würde als zugänglich und im äußersten Fall sogar naiv. Es musste doch irgendjemanden geben, der an das Gute glaubte, oder nicht wirklich das Gute, aber jedenfalls daran, dass das Böse nicht einsickern durfte ins Gemeinwesen, ein schleichendes Gift in der politischen Disziplin.
Wegman lebt zusammen mit seiner Lebensgefährtin Marion, einer erfolgreichen Immobilienmanagerin, und deren 11-jähriger Ziehtochter Ellie, beide unsichere, weil pragmatische und weltverlorene Partner. Der Roman verlagert sich vom politischen Berlin immer mehr zu den privaten Problemen Wegmans. Wegman hadert mit den beschränkten Möglichkeiten der Politik, seiner ermüdenden Suche nach einem Sinn des Lebens, er kann – sich – erst entspannen, als sein Mentor Nair nach einer Affäre aus dem Bundestag ausscheidet. Auch die Sprache des Romans kann der Autor erst aus der politbürokratischen Verkrampfung lösen, als Wegman zu sich findet.
Ausgerechnet gegenüber einem Abgeordneten, der im Bauausschuss saß, hatte er geäußert, es könne nicht weiter schwer sein, Wohnungen für Genossen zu finden — »Es gibt ja auch Wohnungsbaugenossenschaften«, hatte er gescherzt —, und so war die Aufgabe irgendwie an ihm hängengeblieben. Rasch zeigte sich, dass die Gilde der Makler den Markt tatsächlich nicht im Griff hatte. Es gab die Wohnungsbaugesellschaft Gewobag und private Bauinitiativen, Investoren, Architekten, Spekulanten, und während er die Stimmen am Telefon hörte, klickte er sich durch die Bildschirmseiten; jemand musste doch — wie sagt man — den Schlüssel dazu haben? Die Makler waren auf die Sozialdemokratie am schlechtesten zu sprechen. Natürlich versuchte Wegman es neutral, »Ich suche Wohnungen für Abgeordnete des Bundestags«, aber spätestens beim Buchstabieren der E-Mail-Adresse merkten sie, dass sie bei der SPD waren. Dann die Debatten, ob es stimme, dass die SPD vorhabe, den Maklern den Garaus zu machen — »Nein, wir wollen nur das Prozedere ändern, indem der Auftraggeber die Provisionen entrichten muss« —, aber das war es eben, was sie fürchteten. Die Stimmung war schlecht und Hilfe nicht zu erwarten.
Ein „sozialdemokratischer Roman“, Grundlegende Ideale, pragmatische Verschlingungen, Absturz durch Überforderung oder persönliches Versagen. Ulf Erdmann Ziegler positioniert sich auf der Seite der (halb)linken Ideale, macht die Verschlingungen zum Roman und gönnt dem Personal den „Erfolg“ im Kleinen, der im beruflichen Fiasko endet. Das Leben Wegman Frosts darf weitergehen – den Frauen sei Dank. „Wirklich interessant wird die Sache nicht als Schlüsselroman, sondern erst wenn man die Frage umdreht: Also nicht herauszufinden versucht, wer im Roman wer aus der Wirklichkeit ist, sondern ganz grundsätzlich überlegt, was das eigentlich soll oder bringt, die Wirklichkeit nun noch einmal in der Fiktion nachzuerzählen und um rein der Fantasie Entsprungenes – Figuren, Plot, Liebesgeschichte – zu ergänzen.“ (Ekkehard Knörer, taz) Für mich geht das nicht so leicht zusammen, wenngleich man auch subtil Ironisches im Wegman/Ziegler-Denken herausfinden kann. „Eine Relektüre des kaum Vergangenen in einem etwas anderen Licht.“, nennt es Knörer. Ohne eindeutige und erhellende Antworten, aber zum Rumdröseln gibt es ja den Leser.
Es war ein Mittwoch, als er ein wenig verschlief und in der Lounge Marion und Ellie in bester Laune fand, ein Lied für ihn schmetternd, zweistimmig. In einen hellgrün glänzenden Kuchen waren zweiundvierzig winzige, lavendelfarbige Kerzen gepflanzt. Sie brannten.
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Eine Befragung mit Missverständnissen: Literatur im Römer | Lesungen und Gespräche zur Buchmesse (1:05 – 1:26)
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: Biographie, Frankreich, Frau, Jugend
Simone de Beauvoir:
Die Unzertrennlichen

Alles wäre einfacher gewesen, wenn sie, so wie ich, ihren Glauben verloren hätte, sobald der Glaube seine Naivität verloren hatte.
Da sind die zwei Freundinnen, zuerst 9, dann 20 Jahre alt. „Neben die neunjährige Simone de Beauvoir, Schülerin am katholischen Institut Adeline Desir, setzt sich ein Mädchen mit dunklem Bubikopf, Elisabeth Lacoin, genannt Zaza, die nur wenige Tage älter ist als sie. Natürlich, witzig, unverfroren, hebt sie sich von dem herrschenden Konformismus ab.“, schreibt Sylvie Le Bon de Beauvoir, die Adoptivtochter von Simone de Beauvoir, im Vorwort. Sie hat das Manuskript 2020 veröffentlicht, das an andere Erinnerungen der Schriftstellerin anschließt. Die beiden Mädchen sind „unzertrennlich“, weil sie sich so ähnlich und doch so verschieden sind. In der Erzählung Simone de Beauvoirs heißt sie selbst Sylvie, ihre Freundin Zaza wird zu Andrée.
Sylvie blickt Andrée genau an und versucht sich in diesem Blick zu spiegeln.
Andrées Blick wanderte durchs Zimmer; als würde sie Hilfe suchen; die strengen Bücher, die Porträts der Ahnen waren nicht dazu geeignet, sie zu beruhigen.
«Wirkte sie sehr verärgert? Wann werden Sie erfahren, was sie entschieden hat?»
«Ich habe nicht die leiseste Ahnung», sagte Andree. «Sie hat keinen Kommentar abgegeben, nur Fragen gestellt. Und dann hat sie in scharfem Ton gesagt, sie müsse nachdenken.»
«Es gibt keinen Grund, warum sie etwas gegen Pascal haben sollte», sagte ich sanft. «Selbst nach ihren Maßstäben ist er keine schlechte Partie.»
«Ich weiß nicht. In unseren Kreisen kommen Hochzeiten nicht auf diese Weise zustande», sagte Andrée und fügte bitter hinzu: «Eine Liebesheirat ist suspekt.»
«Trotzdem wird man Ihnen wohl nicht verbieten, Pascal zu heiraten, nur weil Sie ihn lieben!»
«Ich weiß nicht», wiederholte Andrée zerstreut; sie warf mir einen raschen Blick zu und wandte sich dann ab.
«Ich weiß nicht einmal, ob Pascal daran denkt, mich zu heiraten», sagte sie.
Das Auffällige ist nicht nur, dass sich die Mädchen siezen, auch die Vorgaben fürs Leben kommen einem so seltsam überholt an, als sei bis heute eine andere Welt entstanden. Sylvie weiß natürlich nicht, dass ihre Gedanken, ihr Verlust der „Naivität“, ihr Zweifel an Glauben und Familie die neue Welt mit entstehen half. Andrée ist Studienobjekt für Sylvie, sie schwankt zwischen Staunen, Bewunderung, Mitgefühl und Hilfsversuchen, von denen sie weiß, dass sie in Andrées Welt-Kreisen nicht zu verwirklichen sein werden und die auch zu theoretisch sind. Sylvie fehlt in vielen Dingen die praktische Erfahrung, nicht zuletzt in der Liebe. „Was dem nunmehr zehnjährigen Mädchen da widerfährt, ist eine erste Liebe: Sie verehrt Zaza leidenschaftlich, fürchtet, ihr zu missfallen. Sie selbst in ihrer rührenden kindlichen Verletzlichkeit erkennt die frühzeitige Offenbarung natürlich nicht, nur für uns, ihre Zeugen, ist sie so ergreifend. (Vorwort)

Die Familien der beiden Mädchen sind verschieden in Herkunft, Klasse, Bürgerlichkeit, Reichtum, Distinktionsmöglichkeiten, Verlustängsten, Teilhabechancen. Sylvie braucht Andrée, die einerseits offener ist, zielstrebiger, die Sylvie einladen kann, die aber ihre Lebenslust erkauft mit harten Beschränkungen. Ihre militant katholische Familie verlangt, dass sie sich absolut einzuordnen hat. „In ihrer an starren Traditionen festhaltenden Familie, bestand die Pflicht eines Mädchens darin, sich zu vergessen, sich selbst zu entsagen, sich anzupassen.“ (Vorwort) Das Interessante ist die Faszination der jungen Sylvie, ihr nüchtern beseeltes Herantasten an die Freundin, der Wunsch, sie zu verstehen, auch im Ahnen, dass sie nicht zusammenfinden werden. „Alles, was sie sagte, war interessant oder amüsant“, erinnerte sich Beauvoir in ihren Memoiren. Andreé verliebt sich. Liebe spielt in ihrer Familie keine Rolle. Ihre Mutter verkörpert einzig die rigorose Tradition, Andrée fügt sich.
«Man muss sie verstehen», sagte sie. «Sie trägt die Verantwortung für meine Seele; auch sie weiß sicher nicht immer, was Gott von ihr will. Es ist für niemanden leicht.»
«Nein, es ist nicht leicht», antwortete ich vage.
Ich war wütend. Madame Gallard quälte Andrée, und nun war sie selbst das Opfer!
«Es hat mich aufgewühlt, wie Mama mit mir gesprochen hat», gestand Andrée mit bewegter Stimme. «Wissen Sie, auch sie hatte es manchmal schwer, als sie jung war.»
Andrée sah sich um.
«Genau hier, auf diesen Wegen, hatte sie es schwer.»
«War Ihre Großmutter sehr streng?»
«Ja..»
Andrée hing einen Moment ihren Gedanken nach.
«Mama sagt, Gott ist gnädig, er wägt ab, welche Prüfungen er uns auferlegt, er wird Bernard helfen, und er wird mir helfen, so wie er ihr geholfen hat.»
Sie suchte meinen Blick.
«Sylvie, wenn Sie nicht an Gott glauben, wie können Sie das Leben dann ertragen?»
«Aber ich liebe das Leben», sagte ich.
«Ich auch. Nur wenn ich mir vorstelle, die Menschen, die ich liebe, würden allesamt sterben, dann würde ich mich sofort umbringen. »
«Ich habe keine Lust, mich umzubringen», sagte ich.
Zaza/Andrée stirbt mit 22 an Enzephalitis. Simone/Sylvie hat eine eigene Erklärung für ihren Tod.
Das Grab war mit weißen Blumen bedeckt.
Ich begriff dunkel, dass Andrée gestorben war, weil all dieses Weiß sie erstickt hatte. Bevor ich meinen Zug nahm, legte ich auf die makellosen Sträuße drei rote Rosen.
1954 – veröffentlicht 2020 – 145 Seiten plus dokumentarischer Anhang
Lesung und Diskussion zur SWR-Bestenliste 12/2022 (Audio – 16 Minuten)
Svenja Flaßpöhler stellt das Buch im lesenswert-Quartett zur Diskussion (Video – 13 Minuten) Es geht auch um die innere Zerrissenheit Andrées und um die Natur.