Nachrichten vom Höllenhund


Strout
5. Januar 2021, 17:21
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Elizabeth Strout:
Die langen Abende

500 Kilometer sind es von Portland bis New York City. Es ist die Distanz zwischen Provinz und Welt, die Distanz zwischen Jung und Alt, zwischen Leben und Sterben. Maine ist der Bundesstaat ganz rechts oben in den USA, viel Wald und Meer, wenig Menschen, überwiegend katholisch und liberal.

In Bob schwoll eine Traurigkeit an, die er seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. Er hatte seinen Bruder vermisst – seinen Bruder! -, und sein Bruder vermisste Maine. Aber sein Bruder war mit einer Frau verheiratet, die Maine hasste, und Bob machte sich nichts vor: Sie würden nie mehr hierherkommen. Jim würde den Rest seines Lebens im Exil in New York City verbringen. Und Bob den Rest seines Lebens im Exil in Maine. Er würde nicht aufhören, Pam zu vermissen, er würde nicht aufhören, New York zu vermissen, auch wenn er weiterhin einmal im Jahr hinfahren würde. Er war hier im Exil. Und die Seltsamkeit von alldem – wie sich das Leben gefügt hatte, für ihn, für Jim, ja sogar für Pam -, wie ein ganzer Ozean der Traurigkeit fühlte es sich an.

Maine ist die Protagonistin in Elizabeth Strouts Roman „Die langen Abende“. Crosby nennt sie den Ort, an dem Olive Kitteridge lange Lehrerin war, sie ist so nüchtern wie ihre Disziplin. Kurz angebunden, manche empfinden sie als abweisend. Im Original heißt das Buch „Olive, again“, Strout hatte Olive Kitteridge schon 2007 zur Titelheldin eines Romans gemacht, auf Deutsch „Mit Blick aufs Meer“ – und jetzt „Die langen Abende“ so pathetisch banal wie nichtssagend übertragen. (Ja > der Buchmarkt > die Zielgruppe.)

Der Roman ist eigentlich eine Geschichtensammlung.  In Crosby treffen sich – meist ältere – Leute und es entwickeln sich Gespräche. Worüber wird gesprochen? Eigentlich über nichts. Also über das Leben. Und das Sterben. Und das, was dazwischen liegt: das Alter. Über den Familien-Knatsch, über die Hoffnungen von früher, die sich als Illusionen erwiesen, über die, die gestorben sind, von selbst oder mit eigener Hilfe, über die, die – noch – leben. Die Kinder sind weggezogen in die Welt, haben keine Zeit für Besuche, sie haben falsch geheiratet, die Enkel sind verzogen. Man ahnt, dass man selbst als Mutter nicht alles richtig gemacht hat. Der Lauf der Dinge wird zurückgedacht aufs Private. Wie soll man sonst seinen Platz behalten. Tiefgreifende Gedanken im Verfliegen. Elizabeth Strout erzählt mehr als „lange Abende“.

Betty seufzte:

Ich denke manchmal, wenn ein Kind so weit wegzieht, dann versucht es, Abstand zu etwas zu gewinnen, und das bin in diesem Fall ja wohl ich.«
Und erst da begriff Olive zur Gänze – in gewisser Weise be­griff sie es allen Ernstes erst jetzt-, warum Christopher in New York lebte. »Das stimmt wahrscheinlich«, sagte sie langsam, während sich der Schmerz wie ein feines Netz in ihr ausbreite­te.

Das Nichts wird immer beschränkter, immer wichtiger. Olive Kitteridge spricht in vielen der Geschichten mit, läuft in manchen einfach mal kurz durchs Bild. Nachdem auch ihr zweiter Mann gestorben ist, zieht sie sich zunächst ins zu groß gewordene Haus und dann ins Altenheim zurück. Das Weiterleben wird beschwerlich und reduziert sich aufs Wesentliche. Das schien mir zunächst als nebensächlich, ich las es als bieder und spannunglos weg, der Tratsch aber gewinnt Konturen in seiner Reduktion, ja, berührt.

Sie hatte das Einzelbett aus dem Gästezimmer in dem Haus mitgebracht, in dem sie mit ihrem zweiten Mann Jack gelebt hatte, und einen kleinen Holztisch, den sie zusammen mit ihrem ersten Mann besessen hatte. Henry. Und dazu noch ein Schränkchen, ebenfalls aus Henrys Zeiten. Es war Jacks Vorschlag gewesen, diese Möbel bei ihnen im Keller einzulagern, und jetzt war sie darüber sehr froh. Auf diese Weise konnte sie ein Stück von Henry um sich haben. »Danke, Jack«, hatte sie laut gesagt, nachdem die Umzugsleute gegangen waren. Und dann hatte sie gesagt: »Und danke, Henry.« Auf dem Schränkchen hatte sie ein Foto von Henry stehen und daneben ein kleineres von Jack.

“Die langen Abende” ist ein Familienroman. Mit vielen Dialogen, Alltagssprache, leicht und schnell zu lesen. Keine Analysen, kein Kitsch, Klischee schon, viel vertraute Heimeligkeit, die Suche nach Intimität. Die Gesellschaft lässt das immer weniger zu, auch die Provinz ist kein Refugium. Am Rand dosierte Tabubrüche: die eigene Inkontinenz, Empörung über Obsessionen von Bekannten. „Es ist, als klappe Elizabeth Strout die Fassade von Puppenhäusern auf, die mit dem zeitgenössischen Wissen um Zerrüttung, Kindesmissbrauch, Vernachlässigung und häusliche Gewalt möbliert sind.“ (Catrin Lorch, SZ) Das Individuum muss sich seinen Platz finden – oder erträumen. “Über Politik wird hier nicht geredet. Haben Sie mich verstan­den?” Da ist Olive rigoros. (Nur einen Schlenker erlaubt sich Elizabeth Strout: Olive ägert sich über Bettys Autoaufkleber „mit dem Namen dieses orangehaarigen Kotzbrockens, der jetzt Präsident war”, sie hätte fast “den nächs­ten Herzinfarkt bekommen”.)

Wichtiger sind aber doch die Jahreszeiten, das Blühen und Verwelken.

Und so saß sie da und betrachtete den Himmel, die Wolken hoch oben, und dann sah sie hinunter zu ihren Rosen, die sich phantastisch gemacht hatten in dem einen Jahr. Sie beugte sich vor und schaute genauer hin – da, gleich hinter der Blüte dort kam noch eine Knospe! Das machte sie richtig froh, der An­blick dieser neuen kleinen Rosenknospe. Und dann lehnte sie sich wieder zurück und dachte an ihren Tod, und das Staunen und die Beklommenheit ergriffen aufs Neue von ihr Besitz.
Er würde kommen.
»Tja-ja«, sagte sie. Und sie saß noch viele Minuten so, ohne recht zu wissen, was sie dachte.

2019 – 350 Seiten

2-3



Haruf
27. Juli 2017, 19:07
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Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht

harufDer Klappentext sagt schon alles: „Holt, eine Kleinstadt in Colorado. Eines Tages klingelt Addie, eine Witwe von 70 Jahren, bei ihrem Nachbarn Louis, der seit dem Tod seiner Frau ebenfalls allein lebt. Sie macht ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag: Ob er nicht ab und zu bei ihr übernachten möchte? Louis lässt sich darauf ein. Und so liegen sie Nacht für Nacht nebeneinander und erzählen sich ihre Leben. Doch ihre Beziehung weckt in dem Städtchen Argwohn und Missgunst.“

Kent Haruf erzählt in leisen Worten, einfachen Sätzen, mit Gefühl für seine Personen. Behutsam tasten sich Addie und Louis aneinander heran, hören zu und lassen den anderen reden, können kaum glauben, was ihnen geschieht, versuchen ihr eigensinniges Vorhaben für sich zu rechtfertigen.

Ja. Also, ich sag es jetzt einfach.
Ich höre, antwortete Louis.
Ich wollte fragen, ob du dir vorstellen könntest, hin und wieder zu mir zu kommen und bei mir zu schlafen.
Was? Wie meinst du das?
Ich meine, dass wir beide allein sind. Wir sind schon viel zu lange uns selbst überlassen. Seit Jah­ren. Ich bin einsam. Ich dachte, du vielleicht auch. Deshalb wollte ich fragen, ob du zu mir kommen und bei mir übernachten würdest. Und mit mir reden.
Er starrte sie an, betrachtete sie. Neugierig. Vor­sichtig.
Du sagst ja gar nichts. Hat es dir die Sprache ver­schlagen?, fragte sie.
Ich glaube, ja.
Ich spreche davon, die Nacht zu überstehen. Es gemütlich und warm zu haben. Zusammen im Bett zu liegen, die ganze Nacht. Die Nächte sind am schlimmsten. Findest du nicht?
Doch. Das finde ich auch.

Dann war es dunkel, nur das Licht von der Straße fiel schwach in den Raum. Sie sprachen über banale Dinge, wurden ein bisschen vertrauter miteinan­der, unterhielten sich über die üblichen alltäglichen Geschehnisse in der Stadt, die Gesundheit einer alten Dame namens Ruth, die zwischen ihren bei­den Häusern wohnte, und das Pflaster in der Birch Street. Dann verstummten sie.

Der Text beginnt wie eine Novelle mit einem “unerhörten” Ereignis, es gibt aber keine spektakuläre Entwicklung, wenn nicht der Wunsch nach menschlicher Nähe selbst schon spektakulär ist. Addie und Louis finden ihr leises Glück in der Wärme der Zweisamkeit. “Help me make it through the night” sang Kris Kristofferson schon 1970.

„Friedlich und heiter ist dann das Alter“, phantasierte Hölderlin. In kleinen Ausflügen zum Picknick oder ins Theater, im gemeinsamen Essen, im Gefühl, dem anderen vertrauen zu können, erleben sie im Alter, was sie noch nicht aufgeben wollen, was sie so noch nicht kannten, in ihren (früheren) Ehen gab es große Probleme. Kent Haruf kann im Rückblick des nächtlichen Erzählens davon berichten.

Ein Roman fürs wohlige Gefühl, fürs warme Herz. Mit dem Blick aufs Erscheinungsjahr 2015 erwarte ich auf jeder Seite das Aufschrecken, den Wendepunkt, das Ende der Idylle. Darf es das geben? Zwei so verständnisvolle, herzensgute Menschen? Aber es kommt noch härter: Addies Sohn Gene, der sich nie um die Mutter gekümmert hat, hat Ehekrise und bringt seinen Sohn Jamie zu Großmutter Addie. Auch Lois gewinnt den Kleinen lieb, spielt mit ihm, nimmt ihn als Person ernst, holt ihm sogar einen Hund aus dem Tierheim, damit Jamie seine sozialen Kompetenzen erweitern kann – und auch der Hund ist ein lieber, schläft bald in Jamies Bett, lässt sich von ihm an der Leine führen. Die Harmonie ist kaum auszuhalten.

Die Geschichte ist in einer Kleinstadt in der Prärie Colorados im Mittleren Westen der USA angesiedelt. Die Einwohner in diesem „ehrenwerten“ Land tuscheln anfangs schon über das „seltsame“ Gebaren der beiden Alten, die ihr „Treiben“ so gar nicht verheimlichen wollen. “I don’t care what’s right or wrong” (Kristofferson). Der aufgeklärte deutsche Leser kann aber partout keinen Tabubruch erkennen und freut sich mit Addie und Louis über ihr Glück im Kleinen. „Könnten Sie sich persönlich ein ‚Arrangement‘ vorstellen, wie es Addie und Louis praktiziert hatten?“ fragt der Lesekreis und man nickt selig.

Als Sohn Gene seinen Jamie wieder abholt, ist der Sohn verstört und der Vater aufgebracht:

Sie zelten mit meinem Sohn in den Bergen. Und dann schlaft ihr auch noch mit ihm im selben Bett, Herrgott!
Woher weißt du das?, fragte Addie.
Ach, vergiss es. Ich weiß es. Was zum Teufel habt ihr euch dabei gedacht?

Auch eine Frage für den Lesekreis. Herrgott! Teufel! Es geht aber nur ums Geld und das duldet kein Glück! Ein kleines Buch aus den Zeiten, bevor wir Patchwork erkämpft haben. Daran sollte man aber beim Lesen nicht denken.

2015         200 Seiten

2-3

Lese- und Hörprobe beim Diogenes-Verlag



Ford
16. Mai 2017, 13:40
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Richard Ford: Frank

fordfrank»Ich habe die Persönlichkeit eines kleineren Mannes, Arnie.« Ich versuche, schnell einzusteigen, bevor Arnie näher kommt. Ich fürch­te eine Umarmung. Sie könnte meinen Hals beschädigen und mich zum Invaliden machen. Bonding steht ganz oben auf der Liste der von mir abgeschafften Wörter. Emerson hatte recht – wie immer: Eine unendliche Ferne wohnt uns allen inne. Und ist das nicht auch ganz in Ordnung? Ferne verbindet uns so, wie sie uns trennt, aber auf eine tatsächlich rätselhafte Weise, die zugleich dem weiterlau­fenden Leben völlig angemessen ist.
Arnie (der Idiot) hat tatsächlich vor, seine erstaunlich langen, le­derumhüllten Torhüterarme um mich zu schließen und mich – wie einen Puck – an seine Brust zu drücken. Eine Abwehrparade. Ich kann nirgendwohin flüchten, versuche mich aber zu ducken, als er mich umschlingt, grässlich.
»Lass«, sage ich, von seinem blöden Mafiamantel gedämpft, der nach dem Inneren seines Lexus riecht, aber auch nach einem ge­schlechtslosen Herrenduft, den sich Arnie bestimmt ansprüht, apres le bain, unter den gestreng wachenden Augen seiner russischen Frau, die mit dem Zeh trommelt wie Maggie bei Jiggs.
»Ja, Franky, wirklich krass«, murmelt Arnie, damit ich mich nicht so schlecht fühle wegen – was immer er glaubt, weswegen ich mich schlecht fühle (umarmt zu werden). Ganz klar, er ist für mich da (ebenso auf der Liste). Ein heftiges Frösteln fährt mir in die Rippen, das ist die Kälte vom Meer – wobei Arnie womöglich glaubt, ich würde schlottern oder gar schluchzen. Warum sollte ich? Ist doch nicht mein Haus zerstört worden. Ich versuche mich zu befreien. Mein Rücken wird gegen den metallischen Türrahmen gepresst, je mehr ich kämpfe, desto übler für meinen Nacken; oder noch schlimmer, ich kippe rückwärts in mein Auto, Arnie auf mich drauf, und der Schalthebel bohrt sich in meinen C-4-Wirbel, so dass ich als Nächstes im Krankenwagen liege und ins Krankenhaus von Toms River komme, wo ich schon mal war und nie wieder hinmöchte. Ich kann nichts tun – das übliche Dilemma von Menschen meines Al­ters. Was tue ich also, aus schierer Verzweiflung, ich erwidere Arnies Umarmung, lege meine Arme um seine Lederschultern und drücke zu, und sei’s nur, damit ich nicht umfalle. Wer weiß, vielleicht ist das auch sonst ungefähr der Grund, warum sich Menschen umarmen. Arnie drückt mich viel zu fest. Mir ist, als träten meine Augen her­vor. Mein Nacken pocht. Hinter mir gähnt die Leere des Autositzes. »Könnte alles schlimmer sein, Frank«, sagt mir Arnie ins Ohr, so dass mir der Kopf vibriert. Da hat er sicher recht. Könnte alles schlimmer sein. Viel, viel schlimmer, als es ist.

Die Häuser kippen wie die Beziehungen, die Personen werden wie die Heimstätten von Fremden bewohnt. Man richtet sich in der Mobilität ein, auch wenn die Gefühle manchmal ein wenig nostalgisch werden. Man besucht das verflossene Haus und die verfallenden Partner. Gut, dass die Entfernungen nicht allzu groß sind, denn Frank ist mit 68 nicht mehr der Jüngste und auch seine Geselligkeitskompetenz nimmt sich zurück.

In New Jersey wütet der Hurrikan Sandy und Frank Bascombe geht das immer noch nahe, weil er als gewesener Immobilienmakler auch eines der jetzt destruierten Häuser verkauft hat. Vergangenheit und Beruf lassen ihn sowenig los wie gehabte Frauen. Frank Bascombe, Richard Fords Begleiter durch die Roman-Zeiten, meldet sich in vier Geschichten (im Original: Let Me Be Frank With You) und raisonniert über sein Altern und das seiner Umgebungen. „Frank“ heißt auch: offen/freimütig, das Alter entbindet ihn von Rücksichtnahme, auch sich selbst gegenüber.

Die vier Geschichten sind eher Unterhaltungen, die Frank eigentlich vermeiden möchte. Die Partner sind ihm fremd oder fremd geworden, sie werfen die Gespräche auch auf ihn selbst zurück. Seine frühere Frau Ann ist in ein nahegelegenes Heim für demente Alte gezogen. Frank bringt ihr eine Decke, das Treffen gestaltet sich schwierig. Denn gerade ihr Zustand macht Ann zur Überlegenen, der gegenüber man sich zurückhalten muss, auch wenn sie nicht mehr alles verrsteht. Frank lässt sich von einem flüchtigen Bekannten in einen Besuch verwickeln. Der Mann liegt im Sterben nud hat nichts mehr zu erwarten und nichts mehr zu befürchten, auch das macht ihn Frank gegenüber frei. Ms. Pines steht vor der Tür zu Franks Haus. Sie, eine Schwarze – das muss man in den USA und speziell in New Jersey sagen -, hat in diesem Haus gelebt und möchte sich noch einmal erinnern – auch an die Schrecken. Auch hier belastet Franks sinnierende Zurückhaltung das Gespräch. Er möchte nicht aufdringlich, paternisierend wirken, aber er kann zuhören.

Sally und ich sind oft verschiedener Ansicht über das Leben an sich, Differenzen, die vielleicht unsere Gemeinschaft als engagierte Zweitehepartner nicht gerade stärken, aber keinen Schaden anrichten – was als gut gelten kann. Sally versteht das Leben als eine Sache, die auf natürliche und faszinierende Weise zur nächsten führt; während ich es eher im Sinne der überlebten Niederlagen begreife, der Momente, in denen sich dankenswerterweise – aber vorübergehend – keine Hindernisse am Horizont abzeichnen. Sally fände es immer gut, einen alten Freund wiederzutreffen. Ich muss mit so etwas von Fall zu Fall umgehen, und das Ergebnis ist jedes Mal wieder offen.

Die Texte sind locker verwoben. Die Personen wechseln, Frank bleibt – Frank. Seine politische Heimat ist bei den Demokraten; die Stimmung neigt zur „Tea-Party“, prä-trumpesk. Frank betreibt eine trotzige Munterkeit. Er durchschaut andere Menschen und auch sich, lässt sich das aber kaum anmerken, er ist weder blasiert noch süffisant, er nutzt sein Alter für gedachte Weisheiten über Menschen, Lieben, Leben. Ein sympathischer Amerikaner, dem man gern durch die vier Geschichten folgt.

Zu Menschen wie mir passt es perfekt, Immobilien zu verkaufen, beim Sportjournalismus war’s ähnlich – zwei Sachen, die ich ziemlich gut konnte. Schließ­lich bin ich das einzige Kind älterer Eltern, die auf mich gesetzt haben – bessere Familienumstände zum Erwachsenwerden findet man in Amerika nicht. Aber deshalb hatte ich auch nie sehr viele Freunde und war immer fasziniert von dem, was die Erwachsenen machten. Das Standardmodell amerikanischen Lebens sieht, vor allem in den Vorstädten, so aus: Wir alle haben auf der anderen Sei­te unseres Gartenzauns einen grinsenden Thorny Thornberry, mit dem wir ins Stadion gehen oder in einer Bar an der Landstraße alles Mögliche bekakeln, bis tief in die Herbstnacht hinein: einen Freund, der dir beim Handschmirgeln der genau richtigen abgeschrägten Kanten der Kiefernplanken für das Kanu hilft, das ihr nächsten Juni zusammen in den Lake Naganooki setzen wollt, um eine Runde Zander zu angeln. Nur dass mein Schicksal anders lief. Die meisten meiner Freundschaften entstanden im Lauf der Jahre ganz klar aus Zufallsbekanntschaften, und der Kontakt blieb stets flüchtig. Aber ich habe nicht das Gefühl, ich hätte deshalb etwas versäumt. Es ist im Grunde wie mit vielen Dingen, die wir irgendwann nicht mehr an uns bemerken: Wenn unser Leben erst mal ziemlich fortgeschrit­ten ist, sind wir so, wie wir sind, weil es uns entspricht.

2014         220 Seiten

Leseprobe beim Hanser-Verlag

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Kirchhoff
16. Oktober 2016, 14:31
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Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis

widerfahrnisEs müsste sie doch noch geben, die guten Dinge: das {Wahre, Schöne, Gute} Echte. Auch die Liebe, vor allem, die Jugend. Julius Reither ist um die 60, sein Kleinstverlag findet nicht mehr die Leser, die gute Bücher zu schätzen wissen. Abends klingelt es an seiner Tür: Leonie Palm, seine Nachbarin, auch sie hat ihren Beruf verloren. Verloren haben sie auch ein Kind: Leonies Tochter beging Selbstmord, Reithers Ungeborenes wurde abgetrieben. Das Leben scheint an ein Ende gekommen.

Zwei, die Pleite gemacht haben, Sie mit einem Verlag, Reither, ich mit einem Hutladen. Und das nicht nur, weil es keine Hutgesichter mehr gibt. Nein, weil die Leute meine Hüte nicht mehr brauchen, so wie sie Ihre Bücher nicht mehr brauchen, weil sie schon seit Jahren etwas ganz anderes wollen als handgemachte Hüte oder gute Bücher, das ist die Wahrheit.

Nach ein paar Gläsern Wein und vielen Zigaretten ist man bereit für den Aufbruch. Gemeinsam in die verlorenen Zeiten. Nach Süden. Der unvorherzusehende Start in die Novelle mit Leonies Auto, sie fahren abwechselnd, rauchen noch mehr, damit sie sich nicht entscheiden müssen. Jede Zigarette wird auch ausgedrückt, das Dingsymbol? Verpassen sie auch diese, die letzte (?) Gelegenheit? Sie siezen sich bis Seite 80. Sie hören Paul Anka von einer abgewickelten Kassette. Das gute Alte, die Manufactum-Novelle. Die Fahrt dauert ewig, vorbei an Tankstellen, Blicke auf Müll und Meer, leise Gespräche über die Vergangenheiten, “beide trugen sie ihre Sonnenbrillen, also gab es keine Blicke in die Augen”, unzählige Zigaretten, – “jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Le­ben!”.

Behutsame Annäherung und genaue Worte dafür in Endlosschleifen. Sie sehen Flüchtlinge, die sich nach Norden schleppen, ich hielt das zunächst für ein zeitgenössisches Accessoire, ärgerlich in der Kombination mit der Wohlstandsflucht in die alten Zeiten. Doch erfährt die Novelle eine Wendung, als sie in Catania auf ein Mädchen treffen, wohl aus Nordafrika, eine scheue Streunerin, “verstockt” und “mit allen Wassern gewaschen” kommt sie ihnen vor. Das Flüchtlingskind schließt sich ihnen an, “fast wie ein Hündchen”, dem man etwas zu fressen gibt, “Eltern mit Tochter, hätte man meinen können”. Da passt Kirchhoff die Motive wieder zusammen, nach zwei Dritteln wird die Erzählung interessant. Schließlich findet man in Sizilien noch die echten Menschen, die guten, hilfreichen, ehrlichen: Flüchtlinge aus Nigeria, auf der Suche nach der Zukunft, im Norden.

Kirchhoff inszeniert die Novelle und kommentiert ständig seine Inszenierung. Ersteres ist gut für die Komposition, die Beschreibung ist legitim, Reither ist ja Verleger, Lektor, weiß, was man von Geschichten erwartet. Jedes Wort prüft er, der Erzähler auf seine Zulässigkeit, fragt, ob er es stehenlassen könne, ob es präzise sei, ob es echt sei. Dennoch nervt das Verfahren, man hätte das als Leser ja auch selbst gemerkt haben können.

Und der Kuss, der dauerte an, hatte seine eigene Zeit, die mit der übrigen Zeit in keiner Verbindung stand, ja Zeit war das falsche Wort dafür; es war eine einzige Aussöhnung mit dem Vergänglichen, man war Besiegter und Sieger zugleich, seinem Gehäuse entrissen und zugleich aufgehoben, bis die Consecutio Temporum dann doch in den Kuss ein­drang mit der Frage, wer ihn wie beendet. (…) Reither lag auf dem Rücken und weinte – und hätte das in einem Buch wohl auch so stehengelassen -, er weinte um sich, und Punkt. …

Wie warm war es tatsäch­lich, und wie warm war es ihm, das wäre dann ein An­haltspunkt, ob ihm etwas den Kopf verdreht hat – eine der Wendungen, die man in Büchern jüngerer Schreiber schon vergeblich suchte, als käme es auch nicht mehr vor, dass einem der Kopf verdreht wird. Von anderen Wen­dungen gar nicht zu reden, sein Herz verlieren, auf Wol­ken schweben, Feuer und Flamme sein, den Himmel auf Erden erleben, und was inzwischen sonst noch dem Schlager und evangelischen Pfarrern überlassen bleibt. Im Übrigen sah er nicht eine Wolke, es gab nur ein paar ferne Schleier auf seiner, der Fahrerseite, zu dünn, um auch nur gedanklich darauf schweben zu können, wie feiner Nebel, und demzufolge tauchte auch bald das Meer auf; hinter einem Küstenstreifen aus welligem Grasland erstreckte es sich in tiefem Blau. Da, schau, das Meer, sagte er, aber die Beifahrerin hörte ihn gar nicht. Leonie schlief – zwei Worte wie eine eben erfundene oder eine vom Himmel gefallene Wendung, Leonie schlief. …

Kapitel gegen Ende eines Buchs nehmen in der Regel an Umfang ab, wie die am Ende eines Lebens, das keine lan­gen ruhigen Zeiten mehr hat, nur noch solche von Ein­schnitt zu Einschnitt, der erste Freund, der zu Grabe ge­tragen wird, das letzte Umarmen eines Körpers, den man noch nicht kennt – Reither sah diese zwei, drei Schluss­kapitel förmlich auf sich zukommen, als ein Afrikaner in gelbem Sportanzug mit Kapuze neben ihm in die Hocke ging, auf seinen Rucksack gestützt, das Gesicht dunkler als der Nachthimmel, bis auf das Rötlich-Weiße in den Augen und die hellen Zähne – ein reines Wiedergeben von Phänomenen, wie der Afrikaner von ihm sagen könnte, dass er ein älterer, am Boden liegender Mann sei, Mitteleuropäer, blutend und an eine Weinflasche geklam­mert; am Boden zerstört wäre kaum zu viel gesagt. Can 1 help you? …

Bliebe jetzt nur noch zu klären, womit die Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, enden sollte – wenn er die alten Maßstäbe anlegte, genau mit jenen Fal­ten, die aus der Mode waren.

Eine Novelle über das Verfertigen von Novellen in Zeiten der Flüchtlingskrise. Kunstvoll gearbeitet, penetrant mit dem Geist und der Sprache des Verflossenen kokettierend, “pathetisch in der Evokation großer Momente der Verzweiflung und des Glücks“ (Ulrich Rüdenauer, SZ), ein sehr bemühtes Spiel. Eine Altmännernovelle.

2016        225 Seiten

 Was mir durch den Kopf geht – Widerfahrnis.
Und warum gerade das?

(„Das widerfahrnishafte Ereignis irritiert uns, weil es in seiner positiven Bedeutung nicht innerhalb unseres faktischen Welthorizontes verstehbar ist. (…) Im Widerfahrnis werden wir mit der Frage nach dem eigenen Sein konfrontiert.“ (Martin Heidegger))

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kirchhoff2P.S. IKEA ist einen Schritt voran. Die echte Familie, die sich Bodo Kirchhoff erschreiben will, sitzt auf dem Katalog-Titelblatt schon um den Tisch. Die Vereinnahmung der Flüchtlinge ist ohne novellistische Aufwendungen gelungen. Welch Glück, dass einem sowas Schönes widerfährt.“Not consumers“. Menschen. Ganz ohne Rauchen.

Ganz angekommen ist aber erst, wer nicht nur die deutschen Tische,sondern die deutsche Sehnsucht kennt: Der Immigrant auf dem Italien-Trip.



Rathgeb
22. September 2014, 18:59
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Eberhard Rathgeb: Kein Paar wie wir

rathgeb

2 Schwestern, Ruth und Vika, sind am Ende ihres Lebens angelangt. Sie können nicht mehr viel tun, nur noch wenig essen und sie brauchen wenig. Abends sitzen sie nebeneinander auf dem Sofa in Buenos Aires, hören Musik. Allein zu zweit, vergleichbar mit zusammen alt gewordenen Ehepaaren. Aber sie fühlen sich anders, halten an der Illusion fest, es gebe „Kein Paar“ wie sie, ohne Männer, ohne Kinder, zwei Frauen.

Ihr Denken kreist um die Markierungspunkte ihres Lebens: die Versuche, von den Eltern loszukommen, der depressiven Mutter, dem herrischen Vater. Sie sind Mitte der 30-er Jahre mit den Eltern nach Südamerika ausgewandert, fanden Arbeit in New York, reisten um die Welt, abweisend nach außen, immer sich selbst genug. Die Worte, in denen die Erinnerungen gefasst sind, sind oft gesagt, Ruth und Vika kennen sie auswendig. Da sie kaum noch Zukunft haben und eine kleiner werdende Gegenwart, brauchen sie diese Vergangenheiten, um weiterleben zu können. Begründet wird diese symbiotische Beziehung, als Vika noch als Kind lebensbedrohlich erkrankt und sich nur Ruth sich um sie kümmert und ihr ihr das Leben erhält. „Ich werde dich nicht loslassen, wer immer dich mir wegnehmen will“, flüstert Ruth der kranken Vika zu.
Man könnte auf wenigen Seiten davon berichten, doch setzt sich Autor Eberhard Rathgeb neben die Schwestern und unterbricht ihre Sätze und Gedanken kaum, auch wenn sie redundant werden, die Kreise enger auf das Ende zulaufen. Das Denken und das Reden sind das Leben, sind Versuche, dem Gelebten eine Struktur und einen Sinn zu geben. Auch zu rechtfertigen, weshalb sie so eigen wurden, zu so vielem Nein gesagt haben.

Sie schwiegen.
Der Vater, dachten sie, unterwarf sich die Mutter. Zuerst die Mutter, dann uns. Aber wir waren zu zweit, wir rebellierten, als wir alt genug geworden waren. Zwei junge Frauen. Wir ließen uns von ihm nicht alles gefallen. »Sie war nicht besser als er«, begann Ruth erneut, »sie war auf ihre Weise auch ein Tyrann.«
Er unterwarf sie, und sie ließ es uns büßen, dachte sie. Er nahm ihr die Heimat, und sie schloss sich mit uns ein. »Sie hat uns malträtiert.«
»Sie sperrte uns wie zwei Kanarienvögel in einen Käfig. Die braven Töchter. Fleißig und ordentlich. Hübsch und klug.« »Ich durfte in den ersten Jahren nicht in die Schule gehen«, sagte Vika. »Sie verbot es mir.« »Ah non. «
Ruth hatte die Geschichte vergessen, und als sie sich jetzt wieder daran erinnerte, empörte sie sich erneut. »Ich musste bei ihr zuhause bleiben, weil sie sich allein gelassen fühlte. Du durftest in die Schule gehen, ich nicht. Ich beneidete dich. Du durftest rausgehen, ich musste drinnen bei ihr bleiben. «
»Unvorstellbar.«
Sie bewachte uns wie eine Gefängniswärterin, dachte Ruth. Wasser und Brot. Tagsüber Gebote und abends Gebete. Ein Leben auf den Knien. Aber die Eltern kriegten uns nicht klein.

Man muss sich auf Rathgebs Methode einlassen, aus den ständigen Neuansätzen, die doch nur Gesagtes und Gedachtes wiederholen, das Lebenswichtige heraushören. Dazu braucht es Geduld, man muss den Schwestern die Zeit geben, die sie noch haben. Die vom Leser mit Sorge erwartete Katastrophe bleibt aus. Nicht das Lebensschicksal erweist sich als Zentrum, sondern die lähmenden und doch lebenserhaltenden Versuche, damit zurechtzukommen.
2013 185 Seiten

Seite des ZDF zum aspekte-Literaturpreis 2013

Leseprobe des Hanser-Verlags

Eberhard Rathgeb liest auf zehnseiten.de



Bizot
3. März 2013, 19:14
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Véronique Bizot: Meine Krönung

bizotkroenungIch werde mich an den Gedanken gewöhnen müssen, auszugehen. Die Leute, die neulich hier waren, haben darauf bestanden, nachdem sie festgestellt hatten, dass ich mich noch auf den Beinen halte. Ein Emp­fang ist geplant, in einem Palast oder einem Palasthotel, das habe ich nicht ganz mitbekommen, auch nicht das Datum dieses Empfangs. Es wird Trink­sprüche, ein paar Reden und Champagner geben, man kennt das ja. Selten Champagner allerdings in einem Physikerleben. Ich mag übrigens keinen Champagner. Meine erste Frau hat mir das bitter vorgeworfen, aber ich lege keinen Wert darauf, meine erste Frau zu erwähnen, die ich übrigens fast ver­gessen habe, wie auch die Zeit meiner Ehe, von der ich nur noch Einzelheiten in Erinnerung habe. Offenbar interessieren mich heute nur noch Einzel­heiten, offenbar hat mich der Sinn fürs Ganze ver­lassen, auf jeden Fall muss ich mir mit dem behelfen, was da kommt, und viel kommt da nicht mehr, oder ich erwarte nicht mehr viel. Aber dass ich nichts erwarte, heißt nicht, dass ich gar nicht warten würde, das habe ich irgendwann begriffen. Die Aussicht auf einen Empfang zu meinen Ehren macht mich aller­ dings nervös, ich ertappe mich bei dem Gedanken, vor dem geplanten Empfang zu sterben, wobei es gar nicht so einfach ist zu sterben, was ich auch irgend­wann begriffen habe. Ich war schon lange nicht mehr irgendwohin eingeladen. Von der letzten Einladung, der ich gefolgt bin, habe ich nur noch in Erinnerung, dass die Wohnung von einem Ende bis zum anderen mit rotem Stoff bespannt war und dass man uns, als wir in diesem roten Esszimmer Platz genommen hat­ten, eine Fischsuppe servierte und ich mir sagte, sieh an, eine Fischsuppe, eine Fischsuppe, natürlich, was kann man anderes von diesen Leuten erwarten, die mich eingeladen haben.

Gilbert Kaplan hat die Achtzig hinter sich und jetzt soll er für eine Erfindung geehrt werden, die er in seiner frühen Zeit als Physiker gemacht hat und an die er sich nicht mehr erinnern kann. Eine unerhörte Begebenheit, die sein Leben aus der Bahn zu werfen droht. Kaplan will sich wehren. Seine Gedanken schweifen, sie treffen aber nur noch sehr Naheliegendes, Teile seiner Wohnung etwa, wenige Augenblicke draußen, auch Kleidung und Nahrung sind ihm eher unwichtig geworden. Manchmal denkt er noch an seine Brüder oder Schwestern, kann aber auch mit ihrem Leben wenig anfangen. Nahe steht ihm nur noch seine Haushälterin, Madame Ambrunaz, nicht ganz so alt wie er, natürlich in der gebotenen Distanz. Er weigert sich, nach China zu reisen, er weigert sich sogar, mit Madame Ambrunaz ans Meer zu fahren, gewisermaßen um ein bisschen für den großen Auftritt zu üben.

Véronique Bizot skizziert das mit leisem Humor, bzw. sie lässt, was natürlich geschickter ist, Monsieur Kaplan selbst erzählen. Man kann ein bisschen mitfühlen mit seiner Vergesslichkeit und auch ein bisschen darüber Schmunzeln. Und so können auch die Gedanken besser schweifen, denn Kaplan ist selbst dafür verantwortlich. Oder eben nicht mehr. Die Sätze werden lang, finden kein Ende, aber das passt so. Es ist keine große Geschichte, eher ein Novelle, eine Übung.

2010       127 Seiten

 Véronique Bizot: Eine Zukunft

bizotzukunftIn “Eine Zukunft” treibt VéroniqueBizot ihren Erzählstil noch ein bisschen weiter. Die Sätze werden noch länger. Nicht ganz so endlos geschleift wie bei Thomas Bernhard, aber man kann schon ein bisschen an ihn denken. Auch die Handlung ist noch weniger strukturiert als bei “Meine Krönung”. Paul soll sich um das Haus seines Bruders Odd kümmern, er macht sich auf ins französische Gebirge, wird immer wieder mit Odd verwechselt, ist mit seiner Aufgabe überfordert und schafft es auch nicht recht, Klarheit in die Familienverhältnisse zu bringen. Wie ist das nun mit den Brüdern und Schwestern. Paul kommen Erinnerungen an seine Hochzeit, die sie recht stillos in einer Bäckerei “feiern”, wo sie mit Plastikbesteck Würste im Teigmantel essen, an eine Reise in den Dschungel Malaysias, die er fast nicht überlebt hätte. Er möchte endlich „einen Gedanken (…) haben, der diese Bezeichnung verdient, keine Meinung, erst recht keine Überzeugung, einfach nur einen Gedanken, etwas wie einen kräftigen Faden, der irgendwohin führt„.

Es ist nicht ganz leicht, Ordnung und Sinn in die Geschichte zu bringen. Sie lebt auch mehr von Assoziationen als von einer durchgängigen Handlung, erschließt sich in Andeutungen und Weglassungen, hat aber doch ein Ende.

2011       144 Seiten

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Weil
1. Februar 2013, 19:08
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Josh Weil: Das neue Tal

weildasneuetalStillman Wing ist 71 Jahre alt. Er hat bei Pfersick gearbeitet, der ihm gekündigt hat, weil er zu alt ist. Damit ist eigentlich auch sein Leben beendet, hat sein Ziel und seinen Sinn verloren. Seine Frau Ginny ist schon lange aus Virginia weggezogen nach Kalifornien, er hat den Kontakt verloren, nur seine Tochter Caroline lebt bei ihm, aber auch sie ist kein Halt, sie findet selbst keinen. Er nennt sie liebevoll „Blueberry“ und er “macht sich Sorgen um Caroline, sie ist schon 35, fettleibig und lebt in den Tag hinein, immer bringt sie neue, nutzlose Liebhaber nach Hause” (Klappentext), Stillman nennt sie “Ficker”. Dann holt er sich eines nachts einen alten Traktor von seinem Chef, einen Deutz MTZ222, Baujahr 1928, wie Stillman.

Der Deutz stand dort hinten, wo er all die Jahre gestanden hat­te, und Stillman, der schon seit fast ebenso lange hier war, stand neben ihm und betrachtete ihn. Die Sonne ging auf. Oder sie hätte es zumindest tun sollen. Die Wolken waren über Nacht dichter geworden, und der Hof hinter den riesigen Metallhüt­ten von Pfersick & Son sah so schwarz aus wie das Feld dahin­ter, das so schwarz aussah wie die Bäume, die sich gegen die noch schwärzeren Hügel stemmten.

Dieser Deutz wird der Inhalt von Stillman’s Restleben. Niemand soll erfahren, dass er den Traktor auseinandernimmt, um ihn wieder gangbar zu machen; alle wissen es, es interessiert sich aber niemand dafür. 5 Jahre arbeitet Stillman am Deutz, die Kräfte schwinden, die Augen werden schwach, die Erinnerungen lassen sich immer weniger abwehren. Schließlich zieht Caroline in eine Landkommune, sie flieht vor ihrem verständnislosen Vater und lässt Stillman allein mit seinen Gedanken und dem Deutz-Diesel zurück. Für Stillman verschwimmen die Jahreszeiten und die Lebenszeiten.

Er überzieht alle Teile mit fri­schem Motorenöl und setzt sie wieder ein, in der exakt umge­kehrten Reihenfolge, in der er sie entnommen hat. Während er mit dem Holzhammer auf die Ventilschäfte klopft, um sicher­zugehen, dass die Schließhaken an ihrem Platz bleiben, geht er in Gedanken die Geburtsdaten von seiner Mutter, seinem Va­ter, Caroline und Ginny durch. Dann alle Telefonnummern, die er je auswendig gewusst hat, selbst die von Ginny in Kalifor­nien, obwohl er sie nie unter dieser Nummer angerufen hat, ebenso wenig wie sie ihn von dieser Nummer aus. Dann ver­sucht er sich an die genaue Augenfarbe seiner ersten Freundin zu erinnern, dann an die des alten Les Pfersick, dann an Caro­lines, an Ginnys – er erinnert sich überrascht daran, dass ihre Augen im richtigen Licht lila aussehen konnten und in einer anderen Art von richtigem Licht sehr, sehr tiefblau; in dem Licht, das durch ihr Schlafzimmerfenster gefallen war, hatte er schma­le silberne Einsprengsel darin sehen können, wenn er morgens vor ihr aufgewacht war und geduldig neben ihr gelegen und zu­gesehen hatte, wie der goldene Streifen das Fenster fand, hin­durchschlüpfte, über die sich an ihren Schienbeinen ballende Bettdecke kroch, an ihren Schenkeln entlang zu ihrer Hüfte hi­naufstieg und weiter zu ihren Schultern, ihrem Nacken, ihren Lippen und schließlich ihren Augen; ihre Lider hoben sich: diese dunklen Pupillen, die ihn ansahen, die wundersamen sil­bernen Flecken in diesem Blau. Als er das untere Ende zusam­mensetzt, vergisst er die Öldichtung der Kurbelwelle und muss noch einmal von vorn anfangen. Während des Zusammenbaus hat er sorgfältige Markierungen auf Malerkreppstreifen gemacht und sie auf die Lagerdeckel geklebt; jetzt kann er sie kaum noch lesen.
Er schließt die Augen, damit sie sich ausruhen können. Drau­ßen werden Schneeflocken am Fenster vorbeigetrieben. Schnee?, denkt er. Im Mai?, und einen Moment lang gerät er beinahe in Panik, während er seinen Körper durch die Zeit fallen fühlt.

Josh Weil gelingt es in seiner Novelle, dieses “Durch-die-Zeit-Fallen” lebendig werden zu lassen. Er lässt Stillman älter und schwächer werden und noch eigenbrötlerischer, er lebt von Müsli, mit seinem Nachbarn Pferkins hat er seit Jahren nicht mehr gesprochen. Weil lässt ihn so sein, er entwürdigt ihn nicht. Präzise und mit den nötigen Fachbegriffen beschreibt er die Arbeit am Deutz, dann vergehen in einem Satz  – wie in Stillmans Zeitwahrnehmung – Tage und Monate und Jahre. Man muss beim Lesen aufpassen, es ist aber nicht entscheidend, ob es Mai ist oder Winter. Stillmans Gedanken schweifen, nur wenig kontrollierbar, in die Vergangenheit. Der Deutz wird zum Symbol, für die Vision einer Restauration und für die Vergänglichkeit, überflüssig wie der alte Mann. Was wäre gewonnen, wenn die Maschine noch einmal zum Laufen gebracht werden könnte. Alles für Stillman. Traktor und Leben werden eins. weildasneuetal2Weil hat dies auch in eingestreuten Skizzen sichtbar gemacht. Der Traktor ist “ein pädagogisches Mahnmal, ein tonnenschweres Symbol für jene unverwüstliche Solidität und Zähigkeit, mit der die Vorväter einst das wilde Land urbar machten und es sich als Lebensraum erschlossen“ (Christopher Schmidt, SZ). Hier ist auch mein einziger – deutscher – Einwand, denn Weil bindet das für Stillman frevelhafte Leben der Kommunarden und mit ihnen seiner Tochter an die Mythen der Amerikaner von ihrem romantizierten Lebensraum.

Stillman malte es sich in Gedanken aus: Er fuhr auf diesen neuen Reifen über den neuen Straßenbelag, mit dem sie die ganze Stadt gepflastert hatten, auf sie zu, die neue Lackierung des brummenden Deutz glänzte, ihre Augen weiteten sich. Ich bin so stolz auf dich, wür­de er zu ihr sagen. Und sie würde sagen: Hast du daran die gan­zen Jahre gearbeitet? Er würde strahlen. Ist der schön, würde sie mehr hauchen als sagen, wie sie es tat, wenn sie so erstaunt war, dass sie ihren üblichen Sarkasmus vergaß. Er gehört dir, würde er zu ihr sagen. Er konnte schon fast ihre weit ausgebrei­teten Arme spüren.

2009       125 Seiten

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Nadolny
4. November 2012, 14:43
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Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische

nadolnyweitlingRichter Wilhelm Weitling ist in Pension gegangen und verbringt seinen Ruhestand im Haus am Chiemsee. Da seine Frau noch in Berlin ist, unternimmt er einen Segeltrip mit seiner alten Plätte, gerät dabei in einen Sturm und kentert. Nadolny lässt es einige Zeit offen, ob Weitling dabei ums Leben kommt oder ob er in eine Art Koma fällt. Für Weitling ist es eine „Sommerfrische“, wie sie ihm sein Großvater, der Maler Fedor von Traumleben (!) erklärt hat:

»Opa?«
Keine Reaktion. Noch mal »Opa« – nein, darauf hört er nicht.
»Djeduschka, was träumst du? Ich bin’s, Willy!« Auch das verfängt nicht.
»Baron Traumleben?«
Er schlägt die Augen auf und sagt mit tiefer, heiserer Stimme meinen Namen: »Wilhelm Weitling!«
»Genau!«, antworte ich erfreut. Das ist ein blödes Wort, das er nicht mag. Wenn ich so weitermache, schläft er mir wieder ein.
»Ich bin der Besuch! « Ich verwende sein Wort von ges­tern. Und das ist eine gute Idee – er hebt die Rechte und lässt sie einen Kreis in die Luft malen.
»Ja, auf Sommerfrische war ich auch schon.« Was er meint, ist mir rätselhaft.
»Wie geht es dir?« Auch keine sehr lichtvolle Frage, aber er antwortet!
»Ich sterbe sozusagen.«
Mir ist beklommen zumute. Er wird doch erst im nächsten Frühjahr sterben. Aber sicher bin ich nicht. Denn wenn ich jetzt hier mit ihm spreche, ist das ein Eingriff in den vorgesehenen Ablauf, vielleicht stirbt er doch heute, jetzt, an meinen Fragen. Bitte nicht, ich liebe ihn! Schon über das »sozusagen« in seiner letzten Ant­wort könnte ich losheulen, wenn ich Tränen hätte. Er scheint sich über meinen Besuch zu freuen, sonst würde er schweigen. (…)
»Ich bin Willy >in alt
Er schweigt. Klar, das war zu viel auf einmal. Er verliert das Interesse – oder? Nein, jetzt spricht er doch wieder. »Eine Sommerfrische.«
Da, schon wieder! Es muss sein Wort für Wanderungen zwischen Zukunft und Vergangenheit sein. Ich wittere meine Chance.
»Du kennst das also!«
»Es passiert. Man weiß … Und danach weiß man nicht mehr.«

Der „Geist“ Weitlings schleicht sich zurück in die Kindheit und Jugend, zu seiner Familie, vor allem aber zu seinem früheren Ich Willy. Er beobachtet den Jungen zu Hause, in der Schule und in der Freizeit, findet auch Zugang zu seinen Gedanken. Weitlings Geist kann nicht eingreifen, nicht seine eigene Zukunft umgestalten, aber er beschäftigt sich intensiv mit der Frage, ob aus den Anlagen des Jungen sich schon der weitere Lebensweg abzeichnet.

Die Meinung „Ich bin ein anderer“ ist heute zur Redensart geworden, auch die Frage: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ wird gerne gestellt. Nadolny lässt seinen Weitling die Stringenz seiner Biographie prüfen, ihn fragen, wieweit der Lebenslauf determiniert ist, auch Gott kommt ins Spiel, er antwortet aber nicht.

Weitling kommt durch ein „Wurmloch“ wieder zu Bewusstsein, in der Zeit der anderen war er nur einen Moment weg, in seiner Zeit beschreibt er es als „eine Zeitlang“. Seine Vita hat sich jedoch entscheidend geändert. Er ist nicht mehr Richter gewesen, sondern Schriftsteller, in seinen Familienverhältnissen ist seine Frau Astrid die einzige Konstante. Mit ihr rekonstruiert er seine Biographie neu, nimmt bei ihr „Geschichtsunterricht“, fragt sich auch nach möglichen Relikten aus seinem Leben als Richter. „Ich lebe in einer Art Wackelkontakt.“ Er setzt sein Leben neu zusammen.

So ganz überzeugt bin ich von meinem Rekonstruk­tionsversuch selber nicht: Irgendetwas stimmt daran nicht. Ich kenne bisher nur die Oberfläche meiner neuen Vita. Zwar passt alles zusammen, aber nichts wird wirklich er­klärt.
Wird denn wirklich jemand Schriftsteller, nur um das Werk seines Vaters fortzusetzen? Muss er nicht auch das Schreiben lieben? Natürlich muss er, sonst schreibt er keine Zeile, die Bestand hat. Warum liebte ich also das Schreiben, ganz im Gegensatz zum Richter? Diesem war selbst bei seinem Pensionistenprojekt über Rechtsempfin­den und göttliche Hoffnung das Schreiben eine Last, er war schon von Berufs wegen ein Mensch des gesprochenen Wortes. Da fehlt mir ein entscheidendes Puzzlestück: Wo­her kam die Neigung zum Schreiben?

Im letzten Kapitel übernimmt ein Freund das Erzählen, denn Weitling ist gestorben. Friedlich und heiter war dann das Alter.

Der Ansatz ist psychologisch interessant, das Spiel mit der multiplen Person bietet sich für die Fiktion des Erzählens an. Ich tu mir aber schwer, die beiden Biographien mitsamt der „Sommerfrische“ zu assoziieren. Nadolny streut zwar Hilfen ein, doch die helfen mir nicht weiter. Der Versuch, das Disparate logisch einzuordnen, scheitert. Zeitreisen haben ihre eigenen Gesetze. Kristina Maidt-Zinke  (SZ) ha ein wenig „den Eindruck, dass Nadolny diese Konstruktion wählt, um ganz in Ruhe und etwas behäbig von seiner – die autobiografischen Einsprengsel sind unübersehbar – Jugend erzählen zu können“.

Wilhelm Weitling lebte noch ein paar Jahre glücklich und zufrieden. Er saß jeden Tag am Schreibtisch und schrieb irgendetwas. »Nulla dies sine linea«, sagte er schon nach dem Frühstück, so viel Latein musste sein. Er übersetzte das mit »Kein Tag ohne Zeile«. Manchmal weinte er, wenn er Astrid umarmte, er glaubte dann, sie monatelang nicht gesehen zu haben, auch wenn sie erst vor einer halben Stunde das Zimmer verlassen hatte.
Alle Fragen nach seiner Meinung, sei es über Politik, Wirtschaft oder die von ihm besonders wenig geliebte Kul­tur, beantwortete er jetzt regelmäßig mit: »Alles eitel und Haschen nach Wind.«

2012         220 Seiten

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O’Nan
1. September 2012, 12:34
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Stewart O’Nan: Emily, allein

Im Klappentext steht, dass nach einem Kollaps ihrer Schwägerin für Emily Maxwell “alles anders” wird: “Auf einmal offeriert ihr das Leben neue Möglichkeiten.” Diese Ankündigung lässt sich schwer überprüfen, da man Emily erst jetzt kennenlernt. Sie lebt vielleicht etwas bewusster, aber sie tut, was sie auch zuvor schon getan hat. Allerdings kauft sie sich ein neues Auto, da ihr der Oldsmobile ihres verstorbenen Mannes zu groß ist. Die Höhepunkte ihres Lebens erlebt und erleidet sie mit dem Jahreslauf. Weihnachten, der Winter, der Frühling, Thanksgiving, alles will vorbereitet sein, alles verlangt nach Tradition, die Enttäuschungen wollen verarbeitet werden. Die Bekannten werden älter, gebrechlicher, sterben weg, es bleibt ihre Schwägerin Arlene als Genossin für die kleinen Sorgen und die nicht größeren Wohltaten, etwa das Essen im Eat’n’Park oder der Besuch im Museum. Die Kinder sind aus dem Haus, mitsamt den Enkeln, man telefoniert miteinander, hat sich aber eigentlich nichts zu sagen. Die Nachbarn helfen bei manchen Arbeiten, man bleibt sich fremd. Der einzige, der Emily braucht, ist ihr Hund Rufus, auch er ältlich und eigen geworden.

Emily, die gutbürgerliche Witwe, reflektiert ihr Leben, die Erziehung ihrer Kinder, vergleicht sich mit ihrer eigenen Mutter. Sie erkennt sich in ihren Kindern und ist deshalb verstört. Das in verlässliche Geflechte eingebundene Leben existiert für die Jüngeren nicht mehr. Die Herkunft, die soziale Schicht, geben keine Sicherheit, der “Club” der gleichgesinnten Bessergestellten ist dem volatilen Einzelnen gewichen, der seine Position schwer finden und kaum halten kann, in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise schon gar nicht mehr. Emily hält sich für überlebt, es gibt kein Zurück, vorne wartet nur das Ende.

Stewart O’Nan erzählt Emilys Leben so beschaulich, wie es von außen erscheint, auch wenn Emily selbst vor lauter Stolpersteinen steht. Jedes kleine Problem erhält ein eigenes Kapitelchen, es entsteht das Mosaik eines Lebens im Alter, mit Mulden und labilen Freuden, eintönig nur, wenn man mehr erwartet oder wenn man mehr noch leisten könnte. O’Nan inszeniert keinen Einbruch, keinen Absturz, nicht das große Drama. Es gibt kein Böses, das von außen kommt, wie in früheren Romanen. Das Existenzbedrohende ist das Leben selbst.

«Tut mir leid, dass du nicht gern hierher zurückkommst», hatte ihre Mutter oft gesagt, um ihre belanglosen Streite­reien zu beenden. Wie sollte Emily es erklären: Sie hatte we­der ihre Mutter noch Kersey verleugnet, sondern ihr frühe­res Ich, das sonderbare, undankbare Mädchen, das bestrebt war, in allem die Beste zu sein, und Wutanfälle bekam, wenn es ihr nicht gelang. Von dem Moment an, als sie ihr Eltern­haus verließ, hatte Emily versucht, sich von jenem Kind zu distanzieren, und sich hinter ihren Privilegien und ihrer ge­lassenen Kultiviertheit versteckt, was sich dort, wo sie jeder als Lehrers Liebling und Heulsuse kannte, nicht aufrechter­halten ließ. Vielleicht hatte Emily sich selbst endlich verzie­hen. Oder vielleicht hatte sie so lange gelebt, dass sie an alle, die ihr nahestanden, mit hilfloser Zärtlichkeit dachte und eingesehen hatte, dass das Leben schwer war und die Men­schen ihr Bestes taten.

Angenehm zu lesen, unspektakulär, nicht rührselig, ein wenig langatmig. Aber so ist es halt.

2011         380 Seiten

Leseprobe beim Rowohlt-Verlag

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Skomsvold
4. Februar 2012, 16:13
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Kjersti A. Skomsvold:
Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich

Kjersti A. Skomsvold ist ein nettes kleines Buch über die Endzeit des Lebens gelungen. Nett, weil die Hauptperson, die jetzt alte Mathea Martinsen sich selbst fast so wenig wichtig nimmt wie sie von der Umwelt beachtet wurde und wird. Immer wurde sie übersehen, nicht bedient, sie war keine bedeutende, keine wichtige Person. Nur einmal stand sie im Zentrum ,und von diesem Ereignis könnte sie zehren – wenn es wen gäbe, den das interessierte. Sie ist zweimal an der selben Stelle vom Blitz getroffen worden. „Aber der Blitz traf mich, nicht ich ihn.“ Und so hat sie sich an Epsilon gehängt, zu zweit geht es leichter, man hat eine Stütze, auch wenn sie und Epsilon sich vielleicht nie verstanden haben. Aber sie haben sich gemocht und gebraucht. Bis zuletzt, denn jetzt ist Epsilon tot und Mathea ist übriggeblieben. Und da die anderen Bewohner von Haus und Umgebung kaum mit ihr reden, redet sie weiter mit Epsilon, der im Statistischen Amt arbeitete und dessen Hobby die Wahrscheinlichkeitstheorien waren. „Ein Tag mit Epsilon ist beispielsweise nicht dasselbe wie ein Tag ohne ihn.”

Jetzt liege ich hier im Bett, bin das Gegenteil von ungeduldig und wünschte, ich könnte den kleinen Rest, der mir noch vom Leben bleibt, aufsparen, bis ich weiß, was ich damit anfangen soll. Aber das geht nicht, dafür müsste ich mich schon einfrieren, und wir haben nur eines dieser kleinen Gefrierfächer über dem Kühlschrank. Von draußen höre ich Menschen von der Arbeit kommen, sie überlegen, was sie zum Abendbrot essen sollen, und ich liege hier, das Ganze erinnert mich an ein Buch, das ich mal gelesen habe.
Vielleicht sollte ich das Licht ausschalten. Aber es macht wohl kaum einen Unterschied, der Sensenmann kann in der Dunkelheit sehen und wird mich so oder so finden. Ich prüfe es nach. In den Beinen. In den Armen. Ich überlege, was mich dahinraffen wird. Ich wackle mit den Zehen, spreize die Finger. Meine linke Körperhälfte ist ganz zweifelsohne taub. Die rechte auch. Aber wahrscheinlich wird es das Herz sein. Vor Epsilon war mein Herz eine Weintraube, jetzt ist es eine Rosine. Vielleicht raffen mich aber auch die Mandeln dahin, auf die ist sowieso kein Verlass.
Es kann lange dauern, bis jemand merkt, dass ich das Zeitliche gesegnet habe. Ich habe von einem Chinesen ge­lesen, der zwanzig Jahre lang tot in seiner Wohnung lag, das ließ sich anhand der Zeitung auf seinem Küchentisch fest­stellen, und als man ihn fand, war er ein Skelett im Schlaf­anzug. So wird es mir wohl auch ergehen. Vielleicht fange ich aber auch an zu riechen, und die Nachbarn denken erst, es wären die Pakistani aus dem ersten Stock, aber wenn auch die anfangen, sich zu beschweren, wird irgendwann jemand darauf kommen, dass es die alte Dame aus dem zweiten sein muss. »Wurde die nicht im Krieg erschossen?«, werden sie fragen. »Nein«, wird mein direkter Nachbar June antworten. »Letztes Weihnachten habe ich sie noch gesehen. Am bes­ten, wir rufen den Notarzt.«
Als ich klein war, träumte ich immer davon, dass mich ein Krankenwagen abholen würde, und sobald einer in der Nähe war, drückte ich mir die Daumen und flüsterte: »Lass es mich sein, lass es mich sein«, aber ich war es nie, die Krankenwagen fuhren immer von mir weg, ich konnte es am Klang ihrer Sirenen hören. Jetzt tönt in der Ferne wieder ein Martinshorn, und der Krankenwagen sollte eigentlich zu mir kommen, denn ich trage eine frische Unterhose und werde bald sterben. Doch stattdessen liegt irgendjemand anders darin, der nicht mehr für sich selbst verantwortlich zu sein braucht.
Draußen wird es dunkel, und ich versuche, mich auf et­was Sinnvolles zu konzentrieren. Und das Einzige, was mir in diesem Moment etwas bedeutet, ist die Frage nach mei­nen letzten Worten.
»Die Wahrscheinlichkeit, dass wir sterben werden, muss geringer sein als e, weil e eine mikroskopisch kleine Menge ist«, meinte ich zu Epsilon. Es sah mir nicht ähnlich, so et­was zu äußern, und ich wünschte, ich hätte etwas anderes gesagt.
Ich möchte etwas Bedeutungsvolles sagen und liege die ganze Nacht wach, um auf etwas zu kommen, was sich reimt. Eigentlich bin ich mir sicher, dass ich hier liegen blei­ben werde. Doch dann kommt der nächste Morgen, und ich merke, wie hungrig ich bin.
Epsilon sagt, dass es statistisch gesehen am wahrschein­lichsten ist, im Bett zu sterben.
Vielleicht sollte ich aufstehen.

Und sie steht wirklich noch einmal auf, liest, was am Schwarzen Brett ihres Miethauses steht, lässt sich auf das Abenteuer “Nachbarschaftsinitiative” ein. Endlich passiert noch etwas, sogar eine Tombola gibt es. Sie kocht Marmelade, sie strickt Ohrenwärmer, sie ist aufgeregt.

»Jetzt ist nur noch ein Gewinn übrig«, sagt die Dame, und meine Wangen fangen an zu glühen, weil ich denke, sie meint mich. Doch dann schnappt sie sich meine Jacke und hält sie hoch. »Diese Jacke ist etwas speziell«, sagt sie, nachdem sie sie ein­gehender betrachtet hat. »Es sieht aus, als ob sie aus Ohren­wärmern zusammengesetzt wurde.«
Ich sinke tiefer und tiefer, alles um mich herum ist unklar und beengt, und als ich endlich wieder an die Oberfläche komme und Luft holen will, um etwas zu sagen, ist es zu spät. Der Gewinner wurde bereits gezogen. Gleichzeitig sagt ein Mann, dass die Toilettentür nun schon seit einer halben Stunde verschlossen sei und niemand antworte, wenn er anklopfe. »Vielleicht ein Schlaganfall?«, meint die Dame mit dem Gewinnerlos, während sie meine Jacke in eine Plastiktüte stopft, und alle sind Feuer und Flamme.

Es ist schön, wie sich Kjersti Skomsvold dieser alten, reichlich naiven Mathea annimmt. Sie nicht bloßstellt, obwohl es so viele Situationen gibt, die Mathea nicht meistert und worüber man lachen könnte. Das heißt, lachen darf man, denn gerade in ihrer lebensfremden Hilflosigkeit ist Mathea überaus sympathisch. Ihr Tick, gereimte Sätze für schön und deshalb wichtig zu halten, ist in Deutschland allerdings von Pumuckl besetzt.

Ich habe einmal von reichen Amerikanern gehört, die Te­lefon und Kabel mit ins Grab nahmen, nachdem sie Edgar Allan Poes Novelle über die lebendig Begrabene gelesen hatten, doch ich hätte ihnen erzählen können, wie überflüs­sig das ist, da einen sowieso niemand anruft.

Kjersti A. Skomsvold hat ein weises und gewitztes, schräges und rührendes Buch aus dem Hut gezaubert, das in seinem schmalen Format mehr Substanz birgt als so mancher epische Wälzer. (Kristina Maidt-Zinke, SZ)

2009        142 Seiten

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Barnes
8. November 2011, 19:16
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Julian Barnes: The Sense of an Ending

Tony Webster ist im Ruhestand, findet aber keine Ruhe, weil ihn seine Jugend nicht loslässt. Er hat Zeit zu sinnieren, ob er alles oder überhaupt etwas richtig gemacht hat in seinem Leben. Dazu kommen die Zweifel, ob Erinnerung verlässlich sein kann, nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch die der eigenen Biografie.

 The history that happens underneath our noses ought to be the clearest, and yet it’s the most deliquescent. We live in time, it bounds us and defines us, and time is supposed to measure history, isn’t it? But if we can’t understand time, can’t grasp its mysteries of pace and progress, what chance do we have with history – even our own small, personal, largely undocumented piece of it?

Julian Barnes breitet sein Lieblingsthema aus: Warum verlief mein Leben so, was habe ich, was haben andere dazu beigetragen. Kann man Geschehenes ausblenden? Hätte es Möglichkeiten gegeben, eine andere „Abzweigung“ zu wählen? Verläuft Geschichte chronologisch oder gibt es die Schubumkehr, wie Barnes mit dem schönen Bild der „Severn Bore“ andeutet, der Gezeitenwelle, die den Fluss von hinten her aufrollt.

How often do we tell our own life story? How often do we adjust, embellish, make sly cuts? And the longer life goes on, the fewer are those around to challenge our account, to remind us that our life is not our life, merely the story we have told about our life. Told to others, but – mainly – to ourselves“

Tony Webster hält sich für einen mittelmäßigen Menschen, er kann seine Geschichte aber noch nicht beenden, denn es gibt Adrian und es gibt Veronica. Adrian war sein Jugendfreund, ein „Überflieger“, das Zentrum der Jugendfreunde. Genau dieser Adrian aber beginnt ein Verhältnis mit Tonys spröder, aber mysteriöser Jugendfreundin Veronica, hat sogar – wie man spät erfährt – ein Kind mit ihr (?), bringt aber doch keinen Sinn in sein Leben und bringt sich um. Hat Tony was damit zu tun? Denn er hat Veronica und Adrian einen bitterbösen Brief geschrieben, da er seine, Tonys, Niederlage nicht anders verwinden konnte. Tony arbeitet sich ab an Adrian und Veronica. „Tony was and is Tony, a man who found comfort in his own doggedness.” (Verbissenheit)

 Not just pure, but also applied intelligence. I found myself comparing my life against Adrian’s. The ability to see and examine himself; the ability to make moral deci­sions and act on them; the mental and physical courage of his suicide. `He took his own life‘ is the phrase; but Adrian also took charge of his own life, he took command of it, he took it in his hands – and then out of them. How few of us – we that remain – can say that we have done the same? We muddle along, we let life happen to us, we gradu­ally build up a store of memories. There is the question of accumulation, but not in the sense that Adrian meant, just the simple adding up and adding on of life. And as the poet pointed out, there is a difference between addition and increase.

Veronica bedrängt er mit einer Flut von emails sich mit ihm zu treffen, ihm zu erzählen, was wirklich geschah. Er möchte “try to get under Veronica’s skin,”, doch Veronica verweigert sich, Tony verstehe nichts, bis sie Tony, fast zum Schluss, auf ein Geheimnis stößt, bis Tony endlich sagen kann: Now I knew.” Was aber noch nicht stimmt.

Bis sich die Rätsel lichten, vergeht viel Zeit, der Roman zieht sich, weil sich Tony weigert sich einzugestehen, dass die Vergangenheit vorbei ist. Er zieht für sich nicht die Schlüsse aus seiner Ansicht, die Geschichte sei odd, whimsical, wobbly; er sucht „corroboration“ (Erhärtung), die es nicht geben kann. An „eine scharfe Brise Kafka“ (Susanne Mayer, ZEIT) habe ich dabei nicht gedacht. Reizvoll sind Barnes Spekulationen über die Gewissheiten der Geschichte.

 I survived. `He survived to tell the tale‘ – that’s what people say, don’t they? History isn’t the lies of the victors, as I once glibly assured Old Joe Hunt; I know that now. It’s more the memories of the survivors, most of whom are neither victorious nor defeated. […] 
Later on in life, you expect a bit of rest, don’t you? You think you deserve it. I did, anyway. But then you begin to understand that the reward of merit is not life’s business. […]
Also, when you are young, you think you can predict the likely pains and bleaknesses that age might bring. You imagine yourself being lonely, divorced, widowed; children growing away from you, friends dying.You imagine the loss of status, the loss of desire – and desirability. You may go further and consider your own approaching death, which, despite what company you may muster, can only be faced alone. But all this is looking ahead. What you fall to do is look ahead, and then imagine yourself looking back from that future point. Learning the new emotions that time brings. Discovering, for example, that as the witnesses to your life diminish, there is less corroboration, and therefore less certainty, as to what you are or have been. Even if you have assiduously kept records – in words, sound, pictures – you may find that you have attended to the wrong kind of record-keeping. What was the line Adrian used to quote? ‚History is that certainty produced at the point where the imperfections of memory meet the inadequacies of documentation.

Der – wie so oft verflachte – deutsche Titel ist “Vom Ende einer Geschichte“. Ich hab’, wohl zum ersten Mal seit der Schulzeit, ein Buch auf Englisch gelesen. Es ging ganz gut, man muss nicht jedes Wort verstehen. Die wichtigen tauchen immer wieder auf und können immer wieder nachgeschlagen werden. Etwas eigen: die Kommas im Englischen. Andererseits kann man sich fragen, ob es wirklich wichtig ist, wo die Kommas stehen.

2011     150 Seiten    

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Julian Barnes: Unbefugtes Betreten (Geschichten)

barnesbetretenDie letzte Geschichte gab dem englischen Titel dem Namen: „Pulse“. Es ist eine Kurzversion „Vom Ende einer Geschichte“, es geht um die Frage, ob die Eltern für das Schicksal der Kinder verantwortlich gemacht werden können, für die Probleme bei der Partnerfindung und –bindung. Auch die meisten anderen Stories kreisen um dieses Thema. Der Mann ist der Reflektive, deshalb Unterlegene, dem Leben nur mit Prothesen gewachsen, z.B. mit dem „Lastschriftverfahren“. Den Frauen mag man nicht die Schuld aufbürden, das gehört zum männlichen Rollenbild, aber einfacher könnten sie es einem schon machen. Nicht bloß schreien, wenn einem nach Schreien ist.

Er sah auf ihre Brasher Supalites hinab: Adlerfarn hatte sich in den Ösen verfangen, und dass er sie am Morgen noch poliert hatte, war nicht mehr zu sehen. »Entschuldige – das versteh ich nicht.«
»Was?«
»Warum du geschrien hast.« »Weil mir danach war.«
Ah, da fehlten mal wieder die Wegmarken. »Und … warum war dir danach?«
»Einfach so.«
Nein, das hatte er falsch gehört oder missverstanden oder was. »Hör zu, es tut mir leid, vielleicht habe ich dir eine zu harte Wanderung -«
»Mir geht’s gut, hab ich doch gesagt.« »War es, weil -«
»Ich hab’s dir gesagt: Mir war einfach danach.«
Sie ließen den Gritgrat hinter sich und gingen schweigend hinunter zum Wagen. Als er seine Schnürsenkel löste, zündete sie sich eine Zigarette an. Pardon, aber dieser Sache musste er auf den Grund gehen.
»Hatte das etwas mit mir zu tun?«
»Nein, es hatte etwas mit mir zu tun. Schließlich bin ich diejenige, die geschrien hat.«
»Ist dir danach, es wieder zu tun? Jetzt zum Beispiel?« »Wie meinst du das?«
»Ich meine, wenn dir jetzt wieder danach wäre zu schrei­en, was wäre das für ein Gefühl?«
»Es wäre ein Gefühl, Geoff, als sei mir wieder danach zu schreien.«
»Und wann, glaubst du, wirst du das wieder tun?«
Darauf antwortete sie nicht, was keinen von beiden er­staunte. Sie zermalmte die Silk Cut mit ihrem Supalite, begann die Schnürsenkel zu lösen und schnippte Adler­farnfetzen auf den Asphalt.
»4 Std. inkl. Mittag Grouse«, trug er in seinem Wander­buch ein. »Wetter gut.« In der hintersten Kolonne trug er ein rotes »L« am Schluss einer ununterbrochenen Verti­kalen roter »L« ein. In dieser Nacht legte er sich quer ins Bett. Na dann viel Glück, Alter, dachte er. Während des Frühstücks blätterte er in einer Nummer von Country Wal­king und füllte dann das Anmeldeformular für den Wan­derverein aus. Da stand, man könne entweder per Scheck zahlen oder per Lastschriftverfahren. Das überlegte er eine Weile, dann entschied er sich für das Lastschriftverfahren.

Julian Barnes erzählt nicht nur, sondern reflektiert seine Erzählung gleichzeitig. Er stellt sich und dem Leser Fragen, die aber beide nicht beantworten können, weil es keine eindeutig richtige Handlungsweisen geben kann.  Es gibt in dieser Umgebung seltsam eingefügte Geschichten über historische Personen, einen taubstummen Portraitisten etwa, oder über Anita, die Liebe von Giuseppe Garibaldi: „Carcassonne“. Die Themen sind die Themen von Barnes. Als ‚Stilübungen’ darf man das wohl bei einem Booker-Preisträger nicht abtun.

Für manche fängt das Teleskop dort draußen in der Lagune das Sonnenlicht ein, für andere nicht. Wir wählen, wir werden gewählt, wir bleiben ungewählt. Ich sagte zu meiner Freundin, die sich immer die Spinner aussucht, vielleicht sollte sie nach einem netten Spinner Ausschau halten. Sie antwortete: »Aber wie erkenne ich den?« Wie die meisten Menschen glaubte sie, was ihr Partner ihr erzählte, bis sie einen berechtigten Grund hatte, ihm nicht zu glauben. Sie war jahrelang mit einem Spinner zusammen, der immer pünktlich ins Büro ging; erst gegen Ende der Beziehung fand sie heraus, dass er jeden Tag als Erstes einen Termin bei seinem Psychiater hatte. Ich sagte: »Du hast einfach Pech gehabt.« Sie sagte: »Ich will nicht, dass das Pech war. Wenn es Pech ist, kann ich nichts dagegen tun.« Man sagt ja, letzten Endes bekomme man immer, was man verdient habe, aber dieser Spruch gilt auch anders herum. Man sagt, in den modernen Städten gebe es zu viele umwerfende Frauen und zu viele entsetzliche Männer. Die Stadt Carcassonne macht einen soliden und beständigen Eindruck, aber was wir dort bewundern, sind meist Rekonstruktionen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Vergessen wir die Spekulation, ob etwas »von Dauer sein wird« und ob Dauerhaftigkeit überhaupt eine Tugend, Belohnung, Anpassung oder wieder nur Glück ist. In welchem Maß handeln wir selbst, und in welchem Maß sind wir ein passives Objekt in jenem Moment leidenschaftlich bewegten Geschmacks? 

Der “Erzählzyklus” “Bei Phil & Joanna 1 – 4” versammelt Dialoge aus der englischen Mittelschicht, die wie Vorstufen zu einer Erzählung wirken. Die Figuren auf dem – deutschen – Cover sind ähnlich diffus wie die auf dem Cover “Vom Ende einer Geschichte”. Ikonen, gedankenlos. Man sollte auf den nächsten Roman warten.

2011         290 Seiten



McEwan
1. Juni 2011, 11:29
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Ian McEwan: Solar

solarIan McEwan kann’s. Er schreibt in gefälligem Stil, angenehm zu lesen, eine schöne Mischung aus Beschreibung und Dialog. Dazu die Personen: Zentral Michael Beard, Nobelpreisträger, schon leicht angejahrt, aber immer noch gut im Geschäft, kleindickkahl, doch die Frauen mögen ihn und er stellt ihnen nach. Forschung interessiert ihn nur – noch -, wenn es Geld dafür gibt, fies klaut er Ideen, schreckt auch vor Vertuschungen und Anmaßungen nicht zurück, ein Widerling eigentlich. McEwan hält aber trotzdem in schwebender Sympathie zu ihm bis zum Ende. „Während er die Arme ausbreitete, kamen ihm Zweifel, dass irgendwer ihm jetzt noch Glauben schenken würde, wollte er behaupten, es sei Liebe.” Ironie, denn sowas wie Liebe kennt Beard nicht, nur Genuss. McEwan schreibt ihm sogar die Nobelpreisrede – von Professor Nils Palsternacka (aus dem Schwedischen übersetzt) -, sodass man fast geneigt ist, ihn zu googeln. Beard ist Engländer, weitere Schauplätze sind New Mexico und Spitzbergen und überall findet sich reichlich Stoff für Anekdoten. McEwan lässt nichts aus: nicht die Geschichte vom Rivalen, der sich selbst zu Tode bringt, nicht peinliche Intimerfrierungen, auch nicht den modernen Mythos des “Diebes wider Willen”, auch hier mit der Chuzpe, das eigene Erzählen als geklaut infrage zu stellen und damit souverän zu bleiben.

Es gibt viele Romane mit Wissenschaftlern als Protagonisten und Wissenschaft als Thema. Bei Solar ist es – ganz auf der Höhe der Zeit – das Problem der Nutzung der Solarenergie, das hier gelöst wird durch die Raffinesse der technischen Adaption der Photosynthese.  (Auch ein GEO-Artikel in Heft 7/11 befasst sich mit dem Thema.)

Die Kunst des Romans ist die Synthese von wissenschaftlichem Hintergrund und fiktiven Wirrnissen der Handlung. Auch Wissenschaftler sind Menschen, die Triebe gieren nach Frauen und Ruhm, nicht immer geht beides zusammen, aber lustig wirds, wenn sich Physiker und Physik in die Quere kommen. McEwan gestaltet das Grundmuster routiniert, hat gründlich recherchiert, kennt sich aus mit der Melange der Zutaten, weiß um die Wirkung des Angerichteten. Eine angenehme Lektüre, aber “Muss es wirklich eine Literatur der globalen Erwärmung geben?“ (Thomas Steinfeld, SZ)

Leseprobe des Diogenes-Verlags

  Ausführliche Inhaltsangabe bei Dieter Wunderlich

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Politycki
24. April 2010, 20:14
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Matthias Politycki: Jenseitsnovelle

Hinrich Schepp kommt nach Hause, wo es seltsam riecht, und er macht eine irritierende Entdeckung auf seinem Schreibtischsessel: das unerhörte Ereignis.

 Jedenfalls waren es keine verfaulten Blumenstengel ge­wesen, die er beim Eintreten gerochen hatte, das stand nun fest. Schepp stützte sich mit den Armen auf und blickte Doro in das, was er von ihren Augen noch sehen konnte; ihr die Lider zu schließen, wagte er nicht. Wie lang sie hier wohl schon saß und auf ihn wartete und tot war? Er tastete nach ihrem Puls, mehrmals mußte er an­setzen, weil er sich so vor der Kälte ihres Handgelenks er­schrak, daß er sofort zurückzuckte; er war sich ohnehin sicher, daß es hier nichts mehr zu spüren gab. Ob man trotzdem einen Arzt holen sollte, holen mußte?

Der Blick fuhr ihm übers Parkett davon und in die große Leere, er sah sich am Totenbett seiner Mutter, wie er reg­los stand, weil er es schier nicht vermochte, sie zum Ab­schied zu berühren, sah sich, wie er ihr schließlich wort­los die Hand auf die Stirn legte – und unvermittelt wieder in der eichenholzharten Gegenwart des Schreibtischs, auf dem tatsächlich eines seiner Manuskripte zu liegen schien. Offenbar hatte Doro daran korrigiert und, wie gewohnt, eine kurze Nachbemerkung dazu geschrieben.

 Das Manuskript “Marek, der Säufer” ist ein weggelegt geglaubter Romananfang Schepps, des kauzigen alten Sinologen, und die Rand- und Nachbemerkungen setzen ein Wechselspiel in Gang zwischen fiktiver Handlung des Romans in der Novelle und dem Novellenpersonal, Schepp und seiner Frau Doro und einer rätselhaft faszinierenden Polin Dana.

 Schepp, bis gestern ein Glatzeüberkämmer alten Schlages, zwischen Melancholie und Größenwahn still schwankend, nun rasierte er sich den Schädel kahl, wählte buntere Einstecktücher, ein kräftigeres Rasierwasser, verlieh sich mit der einen oder anderen spitzfindigen Bemerkung eine Wichtigkeit, die ihm mit Gelächter belohnt wurde, oh, er war seiner Vernunft so überdrüssig geworden. Kaum forschte er noch, bald publizierte er überhaupt nicht mehr; in das respektvolle Mitleid, mit dem man ihn bislang am Lehrstuhl behandelt, mischte sich da und dort ein leiser Spott, einmal bekam er mit, wie man sich über ihn als »Professor Unrat« lustig machte. Was wußten Doktoranden denn schon. Im übrigen bot er zum ersten Mal einen Einführungskurs in das »I Ging« an, sehr zur Verwunderung von Doro, die er im Grunde nurmehr nachmittags traf, zur Teestunde.

So hätte das wahrscheinlich ewig weitergehen können. Und dann tauchte sie doch wieder auf, die Frau, an die er tagtäglich voll schaudernder Bewunderung dachte, Schepp hatte längst nicht mehr damit gerechnet. Als er eines Abends das La Pfiff betrat, wäre er fast in sie hineingestolpert, kein Zweifel möglich; mit ihrem Schriftzeichen am Hals war sie unmißverständlich gebrandmarkt. Noch dazu für einen Sinologen, die Sache war eben doch kein Zufall, sondern von der langen Hand des Schicksals für ihn arrangiert, für ihn, der als einziger die Zeichen zu lesen wußte.

 Das Zeichen, das Dingsymbol, das zwischen den beiden Fiktionalebenen vermittelt, ist das Kan, „das Abgründige“, das endlose Meer, das zwischen dem La Pfiff und dem Jenseits liegt, das man gemeinsam zu durchschwimmen sich versprochen hat. Dana trägt es als Tattoo am Hals, Doro hätte es begreifen können. Doch es kommt ganz anders.

Die „Jenseitsnovelle“ ist ein Spiel mit Stilen, mit Fiktionen, mit Leben und Tod. Im Ernst des Alterns und Sterbens liegen die seichten Abgründe der trivialen Tresenexistenzen.

Die „deutliche und überdeutliche Symbolik wird trickreich und mit postmoderner Ironie dargeboten“. (Richard Kämmerlings in der FAZ) Das heißt natürlich auch, dass weder die Novelle noch ihre Personen ernst genommen werden können. Dennoch kurzweilig – auch weil kurz.

2009         –       125 Seiten 

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Walser
1. April 2010, 09:56
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Martin Walser: Mein Jenseits

Als einer, der nördlich der Donau zu Hause ist, fällt es mir nicht ganz leicht, mich in die bodenstämmige Metaphysik des Oberschwaben einzudenken.

Augustin Feinlein ist der Prototyp des (Walserschen) Losers, zumindest verortet er sich als solcher. Er kann nicht segeln, nicht tanzen, will diese oberflächlichen Bewegungsdinge auch gar nicht, aber er verliert darüber und deshalb auch sein Einziges: seine Eva (!) Maria (!). Und zwar verliert er sie, über den Umweg eines Bergsteigers, an seinen designierten beruflichen Nachfolger, den deutlich jüngeren, deutlich größeren und deutlich alerteren Dr. Bruder(!)hofer, den Tänzer und Segler.

Man kennt die Antagonisten aus dem „Fliehenden Pferd“. Helmut Halm, der „Versager“, und Klaus Buch, der zupackende Prätendent, beharken sich fast bis zum Untergang. Auch hier geht’s ums Segeln, ums Leben, um die Frau. Auch Dr. Bruderhofer, Walsers diesmalige andere Seite, „segelt jedes Jahr mit Eva Maria an dieser türkischen Küste auf und ab, ohne dass er weiß, an was er vorbeisegelt“, an den Stätten frühen Christentums nämlich, dem, was zählt im Leben – für Feinlein.

Augustin Feinlein ist ein Unmoderner, ein Übriggebliebener (lat. reliquus). Das macht ihn nicht unsympathisch. Er stemmt sich mit seinen geringen Kräften gegen die Zumutungen technischer Oberflächlichkeit, gegen Dr. Bruderhofer, den er hassen möchte, den er nicht hassen kann, denn es wäre projizierter Selbsthass. Feinlein sucht sich seine Refugien in der Vergangenheit. Er fliegt nach Rom, um sich dort – allein – in der Kirche Sant’ Agostino Caravaggios Madonna dei Pellegrini anzusehen mit den dörflich erdigen Fußsohlen des Pilgerpaares. Rom, das alte, „mein Jenseits“. Er weigert sich, in den modernen Trakt seiner Klinik umzuziehen. Und er klaut das Reliquiar, das Überbleibsel der ländlichen Religiosität. „Kurze Zeit war ich ein Sieger.“ „Wenn das Kreuz bei mir hätte bleiben können, hätte Dr. Bruderhofer keine Chance gehabt, mich zu vernichten.“

Wenn einer im Leben nicht kriegt, was er haben hätte wollen, wenn einer noch dazu so alt geworden ist, dass er es auch nicht mehr bekommen wird und sogar das, was er noch hat, seinen Beruf, abgeben muss, auch das an seinen persönlichen Widersacher, so sucht er sich Ersatz. Wo? Im Glauben. Oder: Er wird „allmählich komisch“, hält sich an seine „Mödelen“, seine „Skurrilitäten“.

So einfach ist es nicht. Denn Augustin Feinlein ist Wisenschaftler, er glaubt nicht. Er forscht und durchschaut. Und wenn man weiß, dann muss und kann man nicht glauben. Schade. Aber: „Dass der Glauben die Welt schöner macht, als das Wissen, stimmt doch.“ Das ist Beschwörung, Selbstbeschwörung. „Ich will keinen einzigen Menschen überzeugen. Nur mich selbst, wenn mir das gelänge, wäre ich der glücklichste Mensch in dieser Welt.“ In dieser Welt. Aber der Wunsch steht im Konjunktiv. Meersburger Inkantationen:  Mein Jenseits als Aphorismus:

Glauben heißt, die Welt so schön machen, wie sie nicht ist.

Es ist schön, etwas zu glauben. Auch wenn’s nie für lange gelingt. Manchmal nur eine Sekunde, und weniger als eine Sekunde. Aber eine Sekunde Glauben ist mit tausend Stunden Zweifel und Ver­zweiflung nicht zu hoch bezahlt. Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Aber dann schon.

 Die Weisheiten des Altersnarren. „Und so redet er dahin und redet immer mehr, bis, schon lange vor dem redseligen Schluss, jedem Leser überdeutlich ist, dass das Reden die Form der Glaubenssuche ist, die einzige, die dem Helden und wohl auch seinem Autor zur Verfügung steht.“ (Thomas Steinfeld in der SZ)

Der Oberschwabe als Reliquie. Eine Novelle mit Abschweifungen, aber doch zentriert, zurückhaltend und zugleich aufdringlich. Auch sprachlich.

Abschließend noch ein paar Gedanken aus Walsers Metaphysik:

 Ich weiß, dass es den Himmel nicht gibt. Aber es gibt das Wort mit al­lem Drum und Dran. Genau so die Hölle. Natür­lich gibt es sie nicht. Aber wir haben sie geerbt. Himmel und Hölle. Innen sind wir ausgestattet mit Himmel und Hölle und mit allem dazwischen. Himmel und Hölle existieren, ohne dass wir daran glauben. So das meiste. Es existiert, ohne dass wir daran glauben. Aber wir glauben ja daran. Ganz von selbst. Unwillkürlich. Wenn es den Himmel gäbe, könnten wir nicht daran glauben. Erst wenn uns auffällt, dass wir daran glauben, merken wir, dass wir nicht daran glauben. Aber dieses Nicht­glauben unterscheidet sich kein bisschen vom Glauben. Das ist EINE Art von Gefühl oder Exis­tenz. Immer unterschieden vom Wissen.

 So ähnlich sagt das Papa Benedetto auch. Lasst sie doch dran glauben. 

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Scharang
26. März 2010, 17:35
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Michael Scharang: Komödie des Alterns

Die beiden Helden in der Komödie des Alterns sind ein Ägypter und ein Österreicher, der eine hat in Österreich Maschinenbau studiert, der andere ist Schriftsteller. Nach den Lehrjahren in Österreich beginnen die Wanderjahre. Sie gehen nach Ägypten, gründen in der Wüste eine Farm und organisieren das Unternehmen gemeinnützig, man kann auch sagen sozialistisch. Das Bestehende, Kapitalismus und Religion, ist für die beiden bloß ein Dreckhaufen. Nur davorzustehen und zu klagen, daß der Dreck stinkt – also die handelsübliche Kritik -, ist ihnen zu langweilig und zu unappetitlich. Die beiden sind radikal und kämpferisch, es mangelt ihnen aber auch nicht an Unernst und Übermut. (Scharang im Interview)

Das alles ist vorbei, als der Roman mit den Worten „Es waren zwei Männer“ beginnt. Diese zwei Männer, der österreichische Heinrich und der ägyptische Zacharias, stehen mit 60 Jahren am Ende ihrer SturmundDrang-Zeit und fast ihres Lebens, sie haben sich zerstritten, eine Frau kam indirekt dazwischen, und warten banger Hoffnung auf ein letztes Treffen, auf eine letzte Aussprache in der Wüstenfarm. Beim Warten kommen Gedanken, der Roman entwickelt sich in die Vergangenheit. Es geschieht aber weiterhin nichts, die beiden essen ein bisschen was, reden schließlich auch, aneinander vorbei. Auch über Kapitalismus und Religion wird palavert, auch hier fehlt mir die Bindung an eine Handlung, welche eine Kritik am „Dreck“ erst beglaubigen würde. Ähnliches gilt für die Auslassungen zu Musik und Poesie. Die „gemeinnützig“ organisierte Wüstenfarm erinnert ein wenig an die Kibbuzim, ist hier aber wenig mehr als eine Idee.

Im Roman handeln die Personen nur schwächlich, fast zur Gänze wird auktorial in indirekter Rede erzählt. Man könnte sich einlesen, fragt sich aber, ob man was davon hat. Scharangs Prosa wird als “formbewusst” gelobt, der Roman sei in  „altehrwürdiger Manier erzählt” (David Axmann in der Wiener Zeitung), was heutzutage ein Kompliment zu sein scheint. Ekkehard Knörer (taz) bescheinigt Scharang einen “ästhetisch durchaus avancierten Kulturkonservatismus“. Manche Rezensenten erinnert die Schreibweise an Hesse oder Stifter, ich würde auch bernhardeske Salbaderei gelten lassen, denn der Roman hat mich größtenteils gelangweilt.

Sie schwiegen. Freudensprung, von der Angst gepackt, es könnte ein Schweigen sein, das, währte es auch nur eine Minute, nie wieder gebrochen würde, ging zum Angriff über. Sie hätten, sagte er, schon in jungen Jahren Ziele für sich formuliert, ohne zu bedenken, daß das Leben des einzelnen so wenig ein Ziel habe wie die Mensch­heitsgeschichte insgesamt, auch wenn diese, zwar nicht geradlinig, aber notgedrungen fortschreite. Zacharias habe, sobald feststand, daß die Farm sich wirtschaftlich gut entwickle, die Gründung – offenbar müsse Zacharias pausenlos etwas gründen – einer Akademie angekündigt, stets mit dem Zusatz, die werde sein Lebenswerk sein. Was für ein Blödsinn!

Er selbst, fuhr Freudensprung fort, sei um nichts besser. Er habe jeden Text, den er schrieb, als Stufe einer Ent­wicklung betrachtet, die im Alterswerk den Höhepunkt erreiche. Unsinn! Er sehe schon, wie das todessüchtige Alterswerk zusammen mit jenem toten Lebenswerk be­erdigt werde. Nein, sagte Freudensprung, es verhalte sich anders, als die Freunde gedacht hätten: Das Le­benswerk stehe am Beginn, nicht am Ende des Lebens; und das Alterswerk beziehe seine Kraft aus dem Ju­gendwerk. 

 2010     –       250 Seiten

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Wenn Romane über „alte Männer“, dann die anderen unter diesem Schlagwort versammelten oder Gerd-Peter Eigner: Die italienische Begeisterung.