Nachrichten vom Höllenhund


Felenda
16. April 2021, 11:19
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Angelika Felenda: Wintergewitter

Wenn man nicht weiter nachdenkt, warum man das liest, liest sich das wie ein knuspriger Schweinsbraten. Ja, so ein Vergleich ist ein Schmarrn und das schon gleich, weil es in der Zeit, in der die Handlung spielt, nur Sparversionen eines gescheiten Essens gab und dazu Dünnbier. „Pfui Teifel“, fluchte er und spuckte es angewidert in die hohle Hand. „Was ist denn das?“ Er klappte die Brothälften auseinander und starrte auf die bräunlich grauen Fladen, bevor er alles neben die Akten schleuderte. „Das soll ein Fleischpflanzl sein?

1920. München. Babylon, aber auch das in einer abgespeckten Version. Angelika Felenda bereitet daraus einen durchaus geschmackigen Roman. Den schon recht eingekochten Krimi-Plot verrührt sie mit einer passenden Portion „Zeitkolorit“ zu einem immerhin fast 450-seitigen „Wintergewitter“. (ZIT)

Es hatte wieder zu nieseln begonnen, und von oben drückte Nebel herunter, der die Türme der Josephskirche in schmut­ziggraue Schwaden hüllte. In der Luft lag ein scharfer Geruch nach qualmenden Kohlefeuern, und das Licht war so trüb, dass Reitmeyer Mühe hatte, sich auf dem Klingelbrett mit den mehrfach überklebten Zetteln zurechtzufinden. Eine Cäcilie Ortlieb entdeckte er nicht. Er deutete auf das Hoftor ein paar Schritte weiter. »Schauen wir da rein«, sagte er zu seinem Kol­legen.
Steiger rüttelte ein paarmal an dem Tor, bevor es knarrend nachgab. Sie durchquerten die dunkle Einfahrt und gelangten in einen Hof, wo eine Frau gerade einen Sack von einem Lei­terwagen hievte. Neben ihr stand ein kleiner Bub in einer viel zu großen Jacke und sah die beiden Männer misstrauisch an. Steiger ging rasch zum Hinterhaus und suchte nach einem Klingelschild. Als er keines entdeckte, machte er wieder kehrt.
»Am besten, wir fragen vorn in dem Gemüseladen«, sagte er.
»Sie wohnen doch hier?«, sagte Reitmeyer zu der Frau. »Kennen Sie eine Cäcilie Ortlieb?«
Die Frau sah ihn ängstlich an, zog ihren Schal tiefer ins Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Eine junge Frau«, versuchte es Reitmeyer noch mal. »Cilly Ortlieb …«
Die Frau schüttelte erneut den Kopf, nahm den Sack und schleifte ihn in Richtung Kellertreppe.
Warten S‘, ich helf Ihnen«, sagte Reitmeyer und folgte ihr.
Die Frau machte eine scheuchende Bewegung und stieß ein paar Wörter in einer Sprache aus, die Reitmeyer nicht ver­stand. Der kleine Junge stellte sich schützend vor sie und hob das Kinn.

Zwei junge Frauen sind ermordet worden. Man würde darüber hinwegsehen, sind die beiden „Damen“ doch eher „Kleindarstellerinnen“, in die große Stadt gekommen, um hier gesehen, besser: entdeckt zu werden. Der Film erlebt gerade eine erste Blüte und die Hascherln sind – nicht viel anders als heute – begehrte Objekte. Allerdings haben sich die Cilly und die Marie das Begehren anders vorgestellt als die Begehrer. (#meToo war noch Jahrhunderte entfernt.) Jedenfalls war das Scheitern der Damen genug Anlass für „Kommissär“ Reitmeyer, sich an Ermittlungen zu machen.

Reitmeyer hetzt dauernd auf seinem Fahrrad durch die Straßen, zu Fuß über Treppen, klopft bei Bekannten, Beobachteten, bei seinen Vorgesetzten. Allein, die Aufklärung kommt nicht recht voran, verzweigt und verläuft sich, wird – auch von Vorgesetzten – behindert. Klar, das in solche Kriminalromane eingelesene Publikum erwartet dicke Bücher und will/wird sich nicht über Zähungen in der Handlung beschweren. Vor allem die Münchner Leserin wird mehr als Ludwigs- und Widenmayerstraße wiedererkennen und sich kompetent durch ein frühmodernes, postkriegerisches und präfaschistisches München begleitet fühlen. Inden besseren Abschnitten hat Angelika Felenda die Wörter der – trotz allem – guten alten Zeit zur Verfügung.

Reitmeyer setzte sich ebenfalls und betrachtete die magere Frau in dem fadenscheinigen Mantel. Sie wirkte verhärmt und ausgelaugt, die Wangen waren eingefallen, die Augenränder rot, wie entzündet, das fahle Haar zu einem Knoten festgezurrt. Die Hungerwinter und die schwere Arbeit hatten sie ausgelaugt.
»Frau Hofmann«, begann Reitmeyer ruhig, »was ist denn eigentlich passiert? Haben Sie den Streit mitbekommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin so gegen sechs heimkommen. Wissen S‘, ich bin Spülerin im Hackerbräu. Da hab ich’s dann gsehen. Ein Aug war völlig zu, und blau und ganz verschwollen, und ihre Lippe aufgerissen, und alles voller Blut. Deswegen wollt ich auch das Jod holen.«

Die Bausteine des urbanen Krimis setzt Angelika Felenda gekonnt ein. Kommissär Reitmeyer (nicht Leitmayr!) hat einen pfiffig-sympathischen Polizeischüler als Gehilfen (Rattler, nicht Kalli Hammermann), dem Vorgesetzten (Oberinspektor Klotz) ist nicht immer zu trauen, Drogen und Filmindustrie fehlen ebensowenig wie ein Schuss züchtig-schlüpfriger Erotik. Mafiotische Strukturen gibt es in den rechten Verbindungen, etwa dem „Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbund“.

Immer mehr Interessen widmet Reitmeyer der Studentin (?) Gerti, die nach München kam, um ihre Schwester zu suchen und dabei ins Visier der rechten „Bürgerwehr“ gerät. Gerti versteckt sich, sie flieht von Bekannten zu anderen, die Kreise weiten sich, ich verliere öfters die Übersicht übers Personal und den Stand der Dinge. Die Streuung der Spannung sorgt nicht für gesteigerten Lesewillen. München ist ein eher provinzielles Babylon, die Gastwirtschaften haben nicht den mondänen Glanz der Moka-Efti-Unterwelt, getrieben wird es in bürgerlich-dekadenten Privatwohnungen. Eine bessere Zeit war es nicht, doch trotz der hetzenden Kommissäre geht es eher griabig zu. Das Fleischpflanzl ist mit Bröseln gestreckt. Dennoch: Lebendig, atmosphärisch, detailreich erzählt, geschichtlich gut informiert, angenehm zu lesen.

2016 – 440 Seiten

3


Bierbichler – Mittelreich
27. Februar 2017, 16:28
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Josef Bierbichler: Mittelreich

mittelreichDas Leben bietet genug Höhen und Tiefen, Aufs und Abs, viel Arbeit, viel Bier, ein bisschen – naja – Liebe, am besten ist es, wenn es seinen geregelten, bekannten, kontrollierbaren Gang geht. „Dann wird er ein bisschen glücklich.” Mit einiger Mühe gelingt es, die Routinen des Alltags in den Griff zu kriegen, mit Stöhnen lassen sich die Stürme der Natur eingrenzen, an guten Tagen ist Weihnachten oder es wird die Sau geschlachtet oder beim Feuerwehrball werden die Masken prämiiert. („Aber wie dem auch war, heute spielt es schon keine Rolle mehr, und es deutet viel darauf hin, dass diesmal die Hitlermaske gewinnen wird, denn es ist deutlich zu sehen, dass in dem braunen Anzug, den die meisterhaft geschminkte Per­son anhat, nicht ein Mann, sondern eine Frau steckt und noch dazu eine mit gewaltigem Vorbau.”), in schlechten Zeiten, und von denen gibt es mehr, hilft die Gläubigkeit.

Josef Bierbichler erzählt die Geschichte des Seehofs und des Seewirts Pankraz, seinem Vater, vom 1. Weltkrieg bis in die 80er -Jahre. Die zwei Kriege finden in der Ferne statt, ihre Auswirkungen werden weniger politisch oder ideologisch eingeordnet, die Ökonomie steht vorn im Denken. WK1 beginnt zur Erntezeit, wo man die Knechte dringend bräuchte, er beschert dem Hoferben eine Verwundung.

In der folgenden Woche hat der Pankraz schwer mit sich gerungen. Er wollte unbedingt Sänger werden, aber er hatte Angst davor, nicht mehr abgesichert zu sein. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte, wenn er nicht mehr zu Hause sein konnte. Er hatte nichts gelernt, außer daheim zu arbeiten. Er fühlte sich völlig überfordert. Drum hat er nach einer Woche seinen Berufswunsch aufgegeben und dem Vater zugesagt, den Hof zu übernehmen: aus reiner Existenzangst.

Von dieser Entscheidung erholt sich Pankraz nicht. Er fühlt sich vom Leben überfordert, sine Not wird existenziell. Als ein Sturm das Hausdach abdeckt, bricht er zusammen.

Ihm war noch nie sehr wohl dabei, dieses große Haus samt Frau und Kinder zu versorgen, das ist nicht seine Art. Er hat von Anfang an gespürt, dass ihn das überfordert. Sein Ziel lag im­mer ganz woanders. Meine Wünsche haben mich geprägt, nicht meine Herkunft, denkt er, man kann sich nicht verstel­len und so tun, als ob man etwas könnte, was man gar nicht will, selbst wenn man es bekommen hat. (…)Die Frau spürt, wie der Mann entgleist und ihr entgleitet. Er ist buchstäblich aus dem Häuschen. Er sieht sich selbst und alles, was um ihn herum und was ihm lieb ist, nahe am Ruin, und ihm fällt kein Mittel ein dagegen. Seine Gefühle und natürlichen Reflexe bestehen nicht im Aufbegehren und im Widerstand gegen den Angriff der Natur, sondern in einer Ergebenheit ihr gegenüber, einer Dreingabe in das Schicksal, in einer fatalistischen Hingabe an die Verzweiflung. (…) Sie stößt den weinerlichen Menschen weg von sich und schreit ihn an – und erkennt sich beinah selbst nicht mehr: Was ist denn los mit dir? Ist das eine Art? Du kannst dich doch nicht einfach gehenlassen! Es geht nicht um das Haus und nicht um dich. Jetzt geht es um die Kinder. Die müssen dich erken­nen können. Und du versteckst dich in dir selbst! Dann schlägt sie mit der Hand auf seine Brust, schlägt immer wie­der zu damit und ballt die Faust und schreit: Wach auf! Wach auf, Mann! Reiß dich zusammen! Reiß dich raus aus deinem feigen Leid, deinem Selbstmitleid! Ich kann dich sonst nicht mehr ertragen.

WK 2 entlässt Pankraz mit einem Trauma. Erst spät und beschämt erzählt er seinem Sohn, wie beim Einsatz in Belgien Kinder von der SS grausam vergast wurden. Stärker zu spüren sind die äußeren Folgen des Kriegs: Zwangsarbeiter, Vertreibung und Verteilung von Flüchtlingen treffen auch die Provinz, holen sie in das Weltgeschehen. Die ewige Ordnung ist dahin, die neue ist schwer zu verstehen, aber was bleibt übrig: Man arrangiert sich.

Ein paar Jahre lang hatten sie schweigen müssen. Nur wenn beim Wirt alle Vorhänge schon zugezogen waren und kein Fremder mehr in der Gaststube saß, wenn genug Bier und ein paar Schnäpse die weichen Birnen noch weicher hatten werden lassen und die Sehnsucht nach Rechtfertigung des Gewesenen noch sehnsüchtiger geworden war – dann war auch in den letzten Jahren schon hie und da etwas von der trotzigen Aufsässigkeit zu spüren, die dem aufgepfropften Schuldgefühl mannhaft Paroli zu bieten bereit war, das alle haben sollten, wenn es nach den Besatzern gegangen wäre, aber keiner so richtig spüren konnte und wollte, der trotz allem unverbogen und standhaft geblieben war.

Auch beim Seewirt war im obersten Stockwerk des Hauses in zwei Gästezimmern eine fünfköpfige Flüchtlingsfamilie einquartiert worden, bestehend aus zwei Großeltern und ih­ren Enkelkindern im Alter von sechs und zwölf Jahren und deren von einer Kinderlähmung in den Rollstuhl gezwun­genem Vater. Es war nahezu unmöglich, aus einer solchen Konstellation nützliche Arbeitskraft zu ziehen. Das erkannte der junge Seewirt sofort. Es war also in seinem Haus diesbe­züglich eine Beschwernis einquartiert, aus der keinerlei Pro­fit, am wenigsten ein Ausgleich für den Verlust der zwei nicht mehr vermietbaren Fremdenzimmer zu ziehen war. Die bei­den Alten erhielten bereits eine Krieger- und Altersrente und deren ausgebleichter Schwiegersohn im Rollstuhl eine Behin­dertenrente. So waren sie auf erwerbsmäßige Einkünfte nicht unbedingt angewiesen. Lediglich die beiden jungen konnten gegen ein paar Mark Taschengeld hie und da zum Viehhüten angefordert werden. Und die Miete, die von der Behörde be­zahlt wurde, war ihr Wort nicht wert.
Viel war also nicht herauszuholen aus den Flüchtlingen beim Seewirt.

In Josef Bierbichlers Roman nehmen die Vertriebenen einen erstaunlich großen Raum ein. Die Gesangslehrerin Kraus, das “Fräulein” von Zwittau (“Das Fräulein hat eine Zipfelpritsche. So nennt man dieses Phänomen in jener Ge­gend auf dem Land, wohin das Fräulein in den nächsten Ta­gen fliehen wird, wenn man es ins dortige, dialektgefärbte – und plumpt direkte – Reden übersetzt.”), der frühere Bankangestellte Viktor Hanusch, der es sich einrichtet, der fast in die Familie aufgenommen wird. Einen letzten Einbruch setzt die Liberalisierung der Sitten in den 60er-Jahren. Der Fremdenverkehr kommt auf, die Fremden missachten die Bräuche, bringen die Stadt ins Dorf, der Sohn Semi flieht aus dem Klosterinternat und schließt sich den Kommunisten an.

Das Land war in eine innere Unruhe geraten. Bestehende Werte wurden in Zweifel gezogen. Die Jungen verlangten von den Alten Rechenschaft über längst vergangene Zeiten, in denen sie, die jungen, noch gar nicht geboren oder höchstens Kleinkinder waren. Gleichzeitig wurden seit Generationen bestehende Gesetze vom Geben und Nehmen, von der alt­hergebrachten Verteilung von Arbeit und Besitz infrage ge­stellt. An den Universitäten gründeten sich kommunistische Zirkel, die den Keim der Aufsässigkeit, des Aufbegehrens und des sich nicht mehr fügen Wollens in sich trugen, und Ge­danken kamen zur Sprache, die wie eine Irrlehre durchs Land geisterten. Randalierer zündeten Kauf- und Zeitungs­häuser an, Polizisten wurden mit Steinen beworfen, und was einmal Ehrfurcht und Unterwürfigkeit gegenüber der Obrig­keit und den Autoritäten im Land gewesen war, war nun zu Respektlosigkeit, Hohn und Spötterei verkommen. Langhaa­rige Teufel in Menschengestalt, die in schamlosen Verhältnis­sen miteinander lebten und Nachkommen zeugten, machten sich lustig über alles, was Ordnung und Gesetz und für deren Kontrolle zuständig war. Der Staat schien eine Lachnummer geworden zu sein.
So jedenfalls stellte es sich aus der Ferne dar.

In Seedorf verzweifelt der Seewirt. Bierbichler verflicht die Zeitenläufte mit der Seelenarbeit des Einheimischen. Er scheut nicht vor derben Episoden zurück, das gehört dazu und macht beim Erzählen und Lesen Lust.

2011           390 Seiten

2-3

Mittelreich
Nach dem Roman von Josef Bierbichler
Inszenierung: Anna-Sophie Mahler

Anna-Sophie Mahler bringt eine sehr reduzierte Fassung des Romans auf die Bühne. Sechs Personen sitzen auf sechs Stühlen auf der ansonsten unmöblierten, grauen Bühne. Sie fangen an zu singen, verhalten zunächst, sie singen aus dem Requiem von Johannes Brahms: „Selig mittelreich4sind, die da Leid tra­gen, denn sie sollen getröstet werden.“ Auf der Empore stehen junge Sänger uns Sängerinnen des Jungen Vokalensemble München und verstärken und vertiefen Melodie und Ausdruck. Am Anfang steht das Ende: der Tod des Seewirts, der sich teilnahmslos/befreit auf den Boden legt. Ein Leben geht zu Ende, die Zeit drumherum interessiert Anna-Sophie Mahler weniger.

Bierbichler erzählt farbig, aus dem Roman brodelt und stinkt und rumort es, es spritzen Säfte, Saublut und Mönchssperma, es toben Stürme, in der Natur und in den Personen. Wie sollte man das ins Theater bringen? Wo es Anna-Sophie Mahler versucht, geht es schief. Der Sturm versäuselt sich, die Besucher des Balls treten auf und ab, für die pompöse Schweineschlacht steht der aseptische Metalleimer – der mit Talkum gefüllt ist, mit dem sich Semi gegen Schürfwunden einpudert, es soll auch gegen die Übergriffe des Sportpaters im Internat wirken -, in den Kammerspielen spielen sie kein Bauerntheater. Das Stück hat keine Opulenz, keine Sinnlichkeit, kein Leben. Das Theater als farbloser Abglanz des prallen Lebens. Dialoge aus dem mittelreich1Roman werden nachgesprochen, Texte aufgesagt, in Begleitung der Musik meint man die Sprache rhythmisiert zu hören. Der sanfte Spott des Erzählers ist vertrieben, natürlich auch der über die Länge des Brahms-Requiems, von dem im Roman ganz am Schluss beiläufig erwähnt wird, es sei „auf eine Länge von mehr als einer Stunde gedehnt“ worden. Es gibt anfangs ein paar lustige Szenen, auf die sich das Publikum stürzt, aber auch die werden erzählt. Der in Australien geborene Damian Rebgetz darf im gelben Fummel die tragikomische Geschichte vom Fräulein von Zwittau zum Besten geben, den selbstgenügsamen Flüchtling Viktor charakterisiert Jochen Noch durch sein lakonisch-schlesisches „No“. Die Inszenierung verlässt sich ganz auf den Text des Romans. Sie setzt aber Schwerpunkte und lenkt beim Nachlesen die Aufmerksamkeit mittelreich2darauf.

Erst nach der Pause befreit sich die Inszenierung vom Versuch der Abbildung, konzentriert sich und die Zuschauer auf die existenzielle Not und die Seelenqualen des Seewirts Pankraz, für den der leise Stefan Merki die passende Statur hat. In den zögerlichen Gesprächsansätzen wird sein Weltschmerz sichtbar, seine Unsicherheit, seine Sprachlosigkeit, es wird deutlich, wie ihn Annette Paulmann als seine Frau Theres schon qua Person dominiert. Der Sohn Semi ist in jung und älter gesplittet, vielleicht weil Semi ja nur der mittelreich3Halbe ist. Steven Scharf und Thomas Hauser haben wenig Anteil. Im „Orchestergraben“ stehen zwei Klaviere und eine Pauke, doch den Schluss markiert Halb-Semi Steven Scharf, der die Klappe der Musiktruhe zutritt und damit das Wirtschaftswunder-Requiem zum Schweigen bringt.

Ich habe den Roman just-in-time zur Aufführung gelesen, deshalb war es möglich, zu vergleichen, zu entziffern. Man müsste fragen, ob die Inszenierung auch für sich selbst stehen kann.

Münchner Kammerspiele – Aufführung am 24. Februar 2017



Mayer
3. Februar 2017, 17:20
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Berni Mayer: Rosalie

rosalie»Du bist mir ein komischer Vogel, Schwarzer«, sagte der Böhmi. »Ich dachte, du willst hier was einreißen. Hier in diesem Arschnest. Schauen, was unter dem Bürgersteig liegt, schauen, wie’s drunter aussieht. Hier ist doch alles so zusammengekehrt, so blitzsauber, da wär’s doch mal an der Zeit, zu schauen, wer hier eigentlich immer so sauber aufräumt und warum. Dass hier was nicht stimmt, merkst du doch auch.

„Rosalie“ ist ein Roman und da muss was passieren. Doch damit man merkt, dass was passiert, braucht’s die banale Grundfolie: eben das „Arschnest“. Der „Böhmi“ ist ein verlässlicher Freund, auch wenn er später seine Gesellenprüfung in den Sand setzt; der Bartl ist ein Schlauer, aber mädchenmäßig mindererfolgreich; der Erzähler Konstantin wird „Schwarzer“ genannt, weil er sich von oben bis unten schwarz kleidet, im verdunkelten Zimmer des elterlichen Wirtshauses haust und des öfteren fiebert. Alle sind im Alter knapp vor dem Führerschein, was in der niederbayersichen Provinz des tertiären Hügellands eine Zeitenwende bedeutet, denn ohne Auto ist man im Dorf gefangen und verratzt. Der Führerschein verspricht die Welt. Die Burschen haben alle den Artikel vor dem Namen.

Im Frühling des Jahres 1986 passiert was, aber weit weg in der Ukraine, genauer in Tschernobyl, aber die Bedrohungen verhängen sich in den Wolken, das verregnet sich. Viel wichtiger sind die Ausschläge der Pubertät, die provinzbedingt etwas später als gewohnt auftritt. Das Dorfleben ist streng reglementiert, Nachbarn und der Pfarrer Parzefall haben alles im Blick, die Freiräume sind knapp bemessen.

Wir waren mit dem Bartl verabredet, um gemeinsam »um rote Eier« zu gehen. Ich weiß bis heute nicht, woher dieser Brauch über­haupt stammte, beziehungsweise, ob es überhaupt ein echter Brauch war. So viel stand fest: Es war einer der besten Tage des Jahres. Der einzige Tag, an dem die Praamer Gesellschaft die Kombination von Schnaps und Hausbesuchen bei noch nicht volljährigen Mädchen zu hundert Prozent tolerierte, wenn nicht sogar unterstützte.

Am Ostermontag diktierte dieser merkwürdige Brauch, dass die jungen und unverheirateten Männer bei den unverheirateten Frauen klingelten und um rot gefärbte hart gekochte Eier baten. Zu den roten Eiern bekamen sie in der Regel ein Gläschen Schnaps dazu, gelegentlich eine Brotzeit und was am allerwichtigsten war: eine Audienz und gegebenenfalls ein Küsschen der Tochter des Hauses. Das war alleine deshalb so besonders erwähnenswert, weil es sich überhaupt nicht gehörte, ein Mädchen zuhause aufzusu­chen, das noch bei seinen Eltern wohnte. Da die Mädchen in Praam aber in der Regel entweder für immer zuhause wohnten oder hei­rateten und umgehend bei den Schwiegereltern anbauten, fragte ich mich, wie man jemals mit einem Mädchen aus Praam schlafen sollte, wenn man sich nicht gegenseitig besuchen durfte. Selbst mei­ne Eltern missbilligten das Mitbringen von Mädchen aus Praam oder Nachbarorten, weniger wegen der Moral, sondern wegen des Geredes der Leute, wie meine Mutter betonte.

Zu Ostern aber passiert das Einschneidende: Mit ihrem Vater zieht Rosa (“Wie die Farbe”) von München nach Praam.

Weil sie sich keinen Millimeter bewegte, wirkte sie mit ihrer vorwurfsvollen Blässe geradewegs wie in den Ort hineingesetzt. Ein Fremdkörper, eine Geistererscheinung. Erst als der Zug sich in Bewegung setzte und Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen anstimmte, wandte sie den Blick langsam ab und setzte ihren Weg in die Gegenrichtung am Bach entlang fort. Es war nicht so, dass mich sofort ihre besondere Schönheit ergriffen hätte, auch fand ich sie nicht besonders ansprechend gekleidet, mit ihrer weinro­ten Strickjacke und der weißen Bügelfaltenhose. Mich ergriff, wie sie in ihrer Fremdhaftigkeit herausleuchtete aus dem Praamer Kar­freitagsschwarz. Es war nicht nur ihre Blässe oder die mutmaß­lich papierdünne Haut, es war diese Mischung aus überheblicher Teilnahmslosigkeit und spöttischer Neugier auf unsere Riten. (…)»Hast du das Mädchen drüben beim Kriegerdenkmal gese­hen?«, fragte ich leise den Böhmi, während das Herzliebster Je­su-Lied bereits bei der dritten Strophe angelangt war.
»Was ist die Ursach‘ aller solcher Plagen? Ach, meine Sünden ha­ben dich geschlagen!«
»Die taugt dir, oder?«, sagte der Böhmi viel zu laut.

Josef Wirnshofer nennt sie im SPIEGEL “rotzgörig”, aber das trifft es nicht, das Wort gibt es im Bairischen gar nicht. Sie ist mit ihren 14 Jahren jünger als der Böhmi, der Bartl und der Schwarze, aber das gleicht sie leicht aus, weil sie sprachgeübt und forsch ist. Rosa betrachtet Praam als Abenteuerspielplatz, mit Konsti entdeckt sie die Plätze, wo sie nicht entdeckt werden. Der beste Platz ist das verfallende Wasserschloss und genau dort passiert das dritte zentrale Ereignis des Romans: Rosa und Konsti entdecken einen Erhängten. Das lässt sich nicht geheimhalten. Für Rosa ist das Thema zu groß, sie will bloß spielen, Konstantin aber hat einen Onkel Albert und der ist Lokalredakteur in Passau und wittert einen Coup. Onkel und Neffe finden heraus, dass das Wasserschloss von den Nazis als Vernichtungslager für Kinder von polnischen Zwangsarbeiterinnen genutzt wurde,

Für ein paar Tage ist das Dorf in Aufruhr, die Verdrängung, das Totschweigen hat einen Riss, für den Skandal wird Konstantin verantwortlich gemacht. Ein weiterer Grund für ihn, aus Praam wegzugehen, doch zuvor schenkt er zusammen mit dem Böhmi dem Dorf noch einen Akt der “Wiedergutmachung”.

Berni Mayer erzählt unaufgeregt, unterschwellig, nie von oben herab, er trifft den Ton der Jugend der Zeit, er folklorisiert nicht, seine Personen „sagen“, die Dialoge sprechen für sich, sie müssen nicht kommentiert werden. Doch kann er den Alltag auch poetisieren. Die Geschehnisse verbandelt der rosa Faden, Rosa ist für den Erzähler der Haltepunkt, der aber nach den Ereignissen im Schloss verlorengeht. Die Weltgeschichte tritt ins Dorf, doch Praam geht im Dorftrott dahin, auch wenn die Schritte manchmal etwas größer werden, was man als Beschleunigung spüren kann. Ein paar Mal springt Mayer in die Zukunft und räsoniert über Raum und Zeit und Rosa. Zur Clique hat Mayer einige sympathisch-schrullige Einheimische gesellt: die etwas hantige Pfarrhaushälterin Fräulein Fanni (»Jagibsdonedawosisnachadradowidalos, ingodsnamaderkap­lanhodsihiglegtdoan«), die derbe Brauschwester Lisi im Kloster Schyren, der Hämmorhoiden-Schorsch, der eigentlich Musiklehrer war, die desillusioniert-wortkarge Mutter. Nur die Lehrer des Schyrener Gymnasiums bleiben blass.

Das Leben, das Berni Mayer beschreibt, ist eines, wie es so war in den 80er Jahren im Niederbayerischen. So könnte auch die Jugend des Autors gewesen sein, der in Mallersdorf geboren wurde und jetzt in Berlin lebt. Draußen in der Welt. Ein Heimatroman der angenehmen Sorte. Eine „Southern Gothic Novel“ (Berni Mayer) Sympathisch. Bernhard Blöchl (SZ) findet das Buch „schrecklich schön“.

2016        290 Seiten

Viele Materialien beim Dumont-Verlag (Leseprobe, Buchtrailer, Autorenlesung u.a.)

Berni Mayers Blog

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Ulrich Effenhauser entdeckt in „Alias Toller“ braune Spuren im bayerwäldlerischen Bad Kötzting und lässt sie kriminalistisch aufklären.



Ani
16. April 2016, 17:49
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Friedrich Ani: M

ani_mEdith Liebergesells Sohn Ingmar wurde entführt, Lösegeld wurde bezahlt, er ist nicht mehr aufgetaucht. Sie ist die Chefin einer kleinen, familären Detektei, die sich auf das Aufspüren verwchwundener Personen spezialisiert hat und recht und schlecht ihr Dasein fristet. „Hinter dem chaotisch anmutenden Schreibtisch der Chefin saß ein schmächtiger, grau gekleideter alter Mann mit einer Hornbrille aus den sechziger Jahren und kurzen, nach hinten gekämmten graubraunen Haaren. Sein lächelnder Gesichtsausdruck wirkte im Vergleich zu seiner Erscheinung – billige Windjacke, billiges Hemd, billige Hose – geradezu farbig. Leonhard Kreutzer war achtundsechzig, Witwer. Früher betrieb er gemeinsam mit seiner Frau ein gutgehendes Schreibwarengeschäft, das er nach einem Herzinfarkt aufgeben musste. Wenig später verstarb seine Frau“ und wenig später bietet ihm Edith Liebergesell den Posten an: »Auf geht’s, Leo, versuchen wir’s.« und Leonhard Kreutzer hatte einen neuen Job als Detektiv. Aufgrund seines verhuschten Wesens, wie er es nannte, hielt er sich für einen idealen Beschatter, einen aus der grauen Masse, der kein Aufsehen erregte und den später niemand beschreiben könn­te. Münchens »grauester Schattenschleicher«. Die vierunddreißgjährige Patrizia Roos “mit der akkurat geschnittenen und knapp über den Augen­brauen endenden Ponyfrisur arbeitete zusätzlich drei Tage in einer Szenebar in der Müllerstraße, nicht weit von der De­tektei entfernt”. Sie hat eine Vorliebe “für dekolletierte und grobmaschig gestrickte Pullover” (…) Davon abgesehen, schätzte sie das offene Wort, und Patrizia ließ sich in dieser Hinsicht nicht zweimal bitten. In ihrem Elternhaus zählte die freie Meinungsäußerung zu den Grundregeln im Umgang miteinander. (…) Ihr künftiges Leben stellte sie sich in einem überschaubaren Kosmos aus Ehrlichkeit, Grad­linigkeit und entspannter gegenseitiger Befeuerung vor. (…) Im Kreis von Edith Liebergesell, Leonhard Kreutzer und Tabor Süden hätte Patrizia Tag und Nacht observieren, recherchieren und vor Ort ermitteln können, so sehr entsprach diese Gemeinschaft ihrem Nähe-Empfinden. Und wenn Süden, dachte sie, weniger schweigen und sich öfter mal auf einen wilden Dis­put einlassen würde, hätte sein ungelenkes Flirten eine echte Aussicht auf Erfolg, auch ohne Pullover.“

Tabor Süden war Hauptkommissar gewesen, ist aber nie über den Tod seines Vaters und den Suizid seines Kollegen und Freundes Martin Heuer hinweggekommen. So ist er mitsamt seiner Verformungen und Eigenheiten in Edith Liebergesells Detektei gelandet. Er spricht nicht viel, hört zu, wartet, bis die Aussagen zu ihm kommen, ist aber doch der aus der Zeit gefallene, graulanghaarige schrullige Held der Detektei. „Er war zu professioneller Rücksichtslosigkeit nicht fä­hig, weil das Rücksichtnehmen Teil seines Anwesenheitsver­haltens war (…) Schon als Polizist galt Süden als Eigenbrötler am Rande dienstlicher Befug­nisse.” Der neue Auftrag erscheint zunächst wie Alltagskost. Und dennoch: „Die Frau mit den Zöpfen, die an diesem Montag hereinkam, hielt sie vom ersten Augenblick an für unaufrichtig, auch wenn sie nicht den geringsten Beweis dafür hatte.
Etwas an der Frau war falsch, dachte Patrizia Roos und warf Süden, der reglos, wie unbeteiligt, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor der Wand stand, einen Blick zu. Etwas an der Frau wirkte abweisend und kalt. Ihr Blick erzählte eine andere Geschichte als ihre Stimme, dachte Süden beim Zuhören.” Mia Bischof beauftragt die Detektei, ihren abhanden gekommenen Freund zu suchen, Siegfried Denning, einen Taxifahrer.“

Dieser Auftrag war ein Fehler, denn ihr Wunsch, von diesem Siegfried Denning ein Kind zu kriegen, öffnet ein kleines Ermittlungsfenster in die Welt der Rechtsextremen. “Als Leser muss man sich aber erst überwinden zu akzeptieren, dass bei einem eiskalten Nazigeschöpf Liebe zu einem Mann wichtiger werden kann als die selbst gewählte Lebensaufgabe, das deutsche Volk und die nordische Rasse rein zu halten.“ (Rudolf Neumaier, SZ) Dieser Fehler setzt die Handlung in Gang. Ganz allmählich erkennen sie, dass ihr Fall diesmal politische Hintergründe hat. Sie stoßen auf ein Geflecht von Kameradschaften, das landesweit agierende Freie Netz Süd, “Burschenschaften in der Stadt, bei der gelegentlich braune Schläger Unterschlupf finden.” Sie stoßen auf Hoteliers, die braunen Gruppen Gastrecht gewähren, auf eine Journalistin, die Frauenhilfsgruppen aufbaut und mit ihren rechtsextremen Ideologien infiltriert. Und sie müssen erkennen, dass ihre Recherchen nicht nur lebensgefährlich sind, sondern sie auch überfordern und von dem Verbund von staatlichen Behörden wie LKA, Verfasungsschutz und Mordkommission, die sich eher gegenseitig bekämpfen als den brauen Sumpf. »In Maßen. Wir können nicht überall gleichzeitig sein. Aber wir sind auf einem guten Weg. (…) Falls niemand uns dreinpfuscht und unsere mühsam aufgebauten Kontakte torpediert.« »Jetzt«, sagte Welthe, »wird Ihnen klar, warum dies nicht Ihr Fall ist, sondern unserer, und warum Sie den Auftrag, den Frau Bischof Ihnen erteilt hat, ab sofort ruhen lassen müs­sen. Ich darf Ihnen mitteilen, dass wir bis zum heutigen Zeit­punkt Frau Bischof nicht zum rechten Umfeld ihres Ex-Man­nes zählen. Sie verhält sich absolut unauffällig, sie arbeitet, wie Sie wissen, bei einer Tageszeitung und engagiert sich ehrenamtlich in ihrem Stadtviertel Neuhausen. Ihr Vater be­sitzt ein Hotel in Starnberg, das zeitweise in Verruf geraten war, weil angeblich Funktionäre der NPD dort abgestiegen sind. Nach den Ermittlungen der örtlichen Polizei und mei­ner Behörde haben solche Treffen in dem Hotel tatsächlich stattgefunden, jedoch ohne Wissen des Besitzers. Vorfälle dieser Art sind seither nicht mehr gemeldet worden.“

Die Detektei wird aus den Ermittlungen gedrängt, doch Edith, Patrizia und Süden geben nicht auf. “Ich will keine Marionette sein, Süden. Ich will mich wehren und weiß nicht, wie. (…) Ich weiß nicht weiter, dachte Sü­den und sagte es nicht. Ich hab Angst, dachte Edith Lieber­gesell und sagte es nicht. Wenn sie, wie zwanghaft, an ihren Sohn denken musste, kniff sie die Augen zusammen, als würde die Nacht dann aus ihrem Kopf verschwinden. Wenn Süden, was ihn verwirrte, plötzlich an seinen toten Freund Martin denken musste, blickte er zur Tür, als käme Martin gleich herein und sähe verboten aus.”

Friedrich Ani lässt den Leser Anteil nehmen an den Leiden und Leidenschaften der Ermittler, man wird fast zum Mitglied der Kleindetektei und geht und fährt mit ihnen zu den Schauplätzen, zu den Beobachtungen, zu den Misserfolgen und Niederlagen. Die braunen Netzwerke werden nicht zerschlagen, aber Ani nennt sie, sagt, dass sie sich bei den Spielen von 1860 treffen, dass die Behörden kungeln und abwiegeln. Das ist nichts Unbekanntes, auch nicht für den Kriminalroman und wird in anderen Büchern präziser beschrieben. Aber die politischen Verstrickungen bewahren Süden und sein Team vor zu allzu viel Innenschau und auch vor Ausflügen ins Mythische und Melancholische. “M” zeigt, dass es in München nicht nur die Busseria gibt, sondern die kleinbürgerlichen Ecken und Vororte, die Stüberl mit den braunen Gästen und eine bürgerlich camouflierte rechte Szene. Reale Ereignisse werden verwoben, etwa der verhinderte Bombenanschlag bei der Grundsteinlegung des jüdischen Zentrums in München von vor zehn Jahren. Schön zu lesen, wenn man Leute wie Süden mag, in der Ermittlungslogik nicht immer ganz überzeugend.

 

2013         365 Seiten



Probst
18. April 2012, 15:41
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Peter Probst: Blinde Flecken

Peter Probsts Krimi spielt in München und die „Blinden Flecken“ finden sich in den Augen von Polizei, Justiz und Politik, wenn es um die Aufklärung von rechtsextremistischen Gewalttaten geht. Insofern ist der Roman, der von 2010 stammt, hochaktuell; Probst spricht die immer noch tabuisierten Themen klar an.

Der Ermittler Anton Schwarz, aus dem Polizeidienst entlassen, wird von Anwalt Loewi gebeten und beauftragt, sich nochmals einem Fall zu widmen, der von den Behörden als ziellose Amokfahrt oder als versuchter Suizid eingeordnet und damit abgeschlossen wurde. Tim Burger hatte sein Auto in eine Gruppe von Jugendlichen gelenkt und dabei einen getötet und eine schwer verletzt. Zufällig oder nicht, das soll Schwarz herausfinden, waren die Jugendlichen Mitglieder eines jüdischen Sportvereins. Schwarz recherchiert mit viel Empathie und er hat dabei nicht viel Zeit, denn Tim Burger steht vor der Haftenlassung.

Er findet sich bald einem braunen Netz gegenüber, dessen Drahtzieher Jörg von Medingen ist, früherer CSU-Politiker, jetzt Gefängnispsychologe und so Mitentscheider über Burgers vorzeitige Entlassung und Gründer „Der Rechten“. Brauner Sumpf, in dem auch Burschenschaften und braune Bräute nicht fehlen.

Probst erzählt das alles präzise und plausibel, aber in seiner Form recht konventionell. Er folgt in seiner Handlung chronologisch dem Ermittler Anton Schwarz, stattet ihn mit den üblichen Eigenheiten aus und führt ihn zu einem moralisch angemessenen Schluss. Probst, heißt es, engagiert sich auch privat gegen Ausländerfeindlichkeit. Er schreibt auch Drehbücher fürs Fernsehen. Der Roman eignet sich als Lektüre für eine achte oder neunte Klasse.

Informationen des dtv-Verlags zu Roman und Autor
(mit link zu Probsts Homepage)



Ani
22. Mai 2011, 12:33
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Friedrich Ani: Süden

Die Vermissungen der Welt.

 6 Jahre war der Süden weg. Hatte München verlassen, wollte nie wiederkommen, wollte wie einer von denen sein, die Süden aufspüren musste, obwohl er ihnen das  Abhauen zugestand. Da sich Anis Süden-Romane aber gut verkauf(t)en, sollte er wieder her, in seine Stadt. Der Grund ist schnell gefunden, aber doch recht herbeigezogen: Südens Vater hat angerufen, ganz kurz nur, Süden hat ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, die Spuren zeigen nach München. Da er nicht mehr bei der Polizei ist, heuert er bei einer Detektei an. Und sucht – seinen Vater und andere Vermisste. Das ist auch Anis Metier: „So beschäftige ich mich fast ausschließlich mit Verschwundenen und Vermissten und der Suche nach ihnen.“

Rätsel sind die Koordinaten des Lebens. Das hatte Süden oft gesagt, wenn er am Schreibtisch saß und das Zerrbild einer menschlichen Existenz bewunderte, das eine Handvoll oder hundert Zeugen durch ihre Aussagen, Beteuerungen, Lügen und Aufschreie angefertigt hatten, mit der ganzen Inbrunst, zu der sie fähig waren, in der Überzeugung, eine einzigartige Wahrheit zu vermitteln.
Aus der Sicht der Zeugen mochte das sogar stimmen, aus der Sicht von Süden spielten die Beweise fast keine Rolle, sie dienten vor allem einer protokollarischen Ordnung, sie füllten die Akte, die am Ende geschlossen werden konnte, sie verliehen der Tätigkeit aller Beteiligten einen angenehmen Sinn. Zur Aufklärung der Rätsel trugen sie nichts bei, sie verschönten sie manchmal eher.
Der bei seinem Verschwinden dreiundfünfzig Jahre alte Gastronom Raimund Zacherl, genannt Mundl, hatte dreiunddreißigmal versucht, eine Frau namens Ricarda Bleibe, genannt Carla, anzurufen, die eine Zeitlang in seinem Lokal als Bedienung gearbeitet hatte.
Niemand wusste von diesen Anrufen, nicht einmal seine Frau. Er führte die Gespräche von einem geheimen Telefon aus, und er war nie zurückgerufen worden. Ricarda Bleibe war eine der Frauen, von der die Bierkutscher im Schlegel-Stüberl gesprochen hatten, der Koch Karl Schwaiger und die Zeitungsausträgerin und Einsiedlerin Liliane-Marie Janfeld.

Tabor Süden übernimmt, zäh, stur, bedächtig, er kann schweigen, bis die anderen reden. Er braucht kein Handy, auch das zeigt Charakter. Süden durchstreift München auf den verwehten Spuren von Mundl Zacherl, die ihn später auf Sylt führen, ein anderes Lokalkolorit. Das Nachspüren ist Ziel, nicht das Auffinden. Süden hat vielviel Verständnis für seine Vermissten, er fühlt sich in sie hinein, ist ihnen ähnlich. Er modelliert am eigenen Leben, indem er fremdes rekonstruiert.

Wenn Süden einmal angefangen hatte zu schweigen, hörte er so schnell nicht wieder damit auf.“ Südens lakonische Art ist zwar vielmehr ein Charakterzug als eine Befragungsstrategie, doch sein Schweigen bringt Menschen immer wieder zum Sprechen. Manche reden sich um Kopf und Kragen, wenn sie dem kleinen, kräftigen Süden gegenübersitzen.

Wie eine Witwe war sie schwarz gekleidet – schwarzer Rock, schwarze Bluse -, ihr Blick wirkte müde und resigniert. In ihren ergrauten dunklen Haaren steckte eine rote Spange. Sie hatte ein schmales, schönes Gesicht, es war ungeschminkt und grau. Zwischen den Sätzen malte sie manchmal mit dem Zeigefinger Kreise auf der weißen Tischdecke. Sie saßen am Fenster, durch das kaum Licht hereinfiel. Die drei Fenster waren klein und quadratisch, verdeckt von Gar­dinen. Auf jeder Fensterbank stand eine weiße Vase ohne Blu­men.
Das Restaurant mit der niedrigen Holzdecke und den dunkel getäfelten Wänden hatte zwölf Tische, an denen jeweils sechs Gäste Platz fanden. Auf den Tischen standen weiße Kerzen, an der Wand gegenüber den Fenstern hing eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide die Namen der Gerichte geschrieben und drei davon durchgestrichen waren. Von seinem Platz aus konnte Süden die Schrift nicht entziffern. Aus der Küche hinter dem Tresen war kein Laut zu hören. Die Eingangstür war abgesperrt, die Luft im Raum kühl und abge­standen. Süden hatte ein Halbliterglas Mineralwasser vor sich stehen.
»Eine Erleichterung«, wiederholte er. »Weshalb sind Sie er­leichtert, Frau Zacherl?«
»Bitte?«
»Beschreiben Sie Ihre Erleichterung.«
»Bitte?« Sie warf ihm einen ratlosen Blick zu. Er wartete, und sie setzte zweimal an, bevor sie ein Wort herausbrachte. »Dass Frau Liebergesell nicht aufgibt, deswegen … Ich bin doch nicht erleichtert, weil … Was denken Sie denn von mir?«
Sie griff nach dem Blatt Papier neben ihrer Tasse, überflog die Zeilen, legte es hin und schob es von sich weg. Es war die Bestätigung von Edith Liebergesell, dass Tabor Süden in ih­rem Auftrag handelte. Solange er noch keine Visitenkarten besitze, hatte sie ihm erklärt, solle er diese Form der Legitima­tion benutzen.
»Was ist denn los mit Ihnen?«, sagte Ilona Zacherl. »Haben Sie was gegen mich? Wieso lassen Sie mich dermaßen auflaufen? Wo haben Sie Ihren Job gelernt? Oder sind Sie ein arbeitsloser Polizist? So einen hatte die Frau Liebergesell schon mal, vor zwei Jahren. Der hat gedacht, er ist was Besonderes. Der wollt mich einschüchtern, das schafft niemand. Das hat er dann einsehen müssen. Später hat Frau Liebergesell sich von ihm getrennt, wahrscheinlich verhielt er sich nicht nur mir gegen­über unmöglich.«
»Niemand verschwindet ohne Grund«, sagte Süden. »Und in der Akte steht kein einziger.«
»Weil’s keinen gibt«, sagte sie lauter als bisher.
»Das glaube ich nicht.«

Die Wirtin ertrug sein ständiges Schweigen nicht.

Die Suche zieht sich in Südens Methode, Südens Ermittlungen „mäandern“, „Wahrheiten kommen ans Licht, aber unendlich mühsam und schmerzlich, auf gewundenen Wegen.“ (Christoph Haas, SZ). Dadurch wird aber die Figur Mundl Zacherl zum Träger von zu viel Sinn, wird tiefer, undurchschaubarer, eigener, zu menschlich, je länger er verschwunden bleibt. Das wird mir zu viel, ich halte es mit Mundl kaum aus, will, dass er sich entdecken lässt, dass alles ein Ende hat. Auch das Ende lädt Ani zu mysteriös auf. Da geht es nicht mehr ohne verwunschene Wälder, versteckte Hütten, das ewige Rauschen der Meereswellen. So viele Beladungen hat der vereinsamt suchende und fliehende Säufer Zacherl nicht verdient.

Schade auch, dass sich manche Personen im Roman verlieren, weil sie nur als Zweckfiguren eingesetzt werden. Der zwölfjährige Benedikt etwa, dessen alleinerziehende Mutter tagelang nicht nach Hause kommt, eine Vermisste auch sie, vertraut sich Süden an. Süden – und Ani – brauchen ihn aber dann nicht mehr. Auch der Anruf von Südens vermeintlichem Vater erweist sich als Finte, verwischt und liefert Spuren.

Dennoch kein Krimi der üblichen Sorte, keine Waffen, kaum Aktion, der Ermittler ist den Beteiligten und auch dem Leser kaum voraus. Die Sprache sucht nach Tiefe und Bedeutung, manchmal ein bisschen zu viel Pathos, aber meistens glaubhaft und existenziell.

2011       365 Seiten

Georg Patzer auf der Crimi-Couch

  Leseprobe beim Droemer Verlag

2-3



Steinbeis
6. März 2010, 19:01
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 Maximilian Steinbeis: Pascolini

Braucht’s des?“ (Gerhard Polt) – Braucht’s so ein Buch, ein so aus der Zeit und in die Welt gefallenes? – Natürlich hätt’s das nicht gebraucht, aber schön ist’s doch, dass es so was noch oder noch einmal gibt.

Den Inhalt kann man in wenigen Sätzen wiedergeben, oder auch in vielen. Steinbeis fasst gleich am Anfang bilanzierend zusammen: „In den Wäldern, heißt es, wird immer noch gelegentlich geschossen.“ (Bitte diesen Satz noch einmal lesen! Oder sprechen. Wer ihn mag, mag auch den Roman.) Nicht nur geschossen wird im Oberbayerischen, sondern auf fantastisch viele Weisen kommen die Leut zu Tode, sodass am Ende, ohne was zu verraten, gar nicht mehr viel vom angehäuften Personal überbleibt. Oder, laut „Königlich Bayerischem Amtsgericht“ (KBA): Eine liebe Zeit – trotz der Vorkommnisse, menschlich halt.

Die Handlungsfladen sind geschickt geknetet, manchmal müssen auslappende Enden wieder aufgelesen und eingearbeitet werden, aber das Was ist – mir – eher nebensächlich. Steinbeis bereitet ein Potpourri aus den Klischees übers Oberland, Wildern, Saufen, Schmuggeln, Haberfeldtreiben u.v.m., auch neuen, etwa einem weißen Pulver, füllt seinen Kessel mit bunten Gestalten, vom „Zaiserl“ Stadler über den „roten Gustl“, den Egid „Gidi“ Duftinger, den Jakob Böhm und den Kastenbauer und den Unternehmer Scholten und auch ein paar aus dem Norden, Katholische und Evangelische und erzbayerische Partikularisten, Wunderheiler und natürlich die Schmuggler und Ganoven in höheren Ämtern. Zeitlos unmodern. Nicht zu vergessen: der Titelheld Matthias „Hias“ Pascolini, abstämmig aus dem „Teufelsschlupf“, Inkarnation des sagenhaften „Bayerischen Hiasl“ (Nom de Guerre). Man kennt sie alle aus dem Komödienstadl, doch hier treiben sie’s wild, dumpf, anarchisch und verquerer als dort. Karikaturen, falls die Menschen im Norden nicht eh glauben, dass die Bayern insgesamt solche sind.

Wo es beim KBA heißt: „Das Bier war noch dunkel, die Menschen warn typisch; die Burschen schneidig, die Dirndl sittsam und die Honoratioren ein bisserl vornehm und ein bisserl leger.“, geht Steinbeis ins Volle:

 Die Mädchen staken (Steinbeis liebt diese alten Präterita) in Miederkleidern von ben­zinpfützenhaft schillerndem Himmelblau mit erdbeerrosa Schürzen und trugen eine höchst sonderbare grüne Kopf­bedeckung, geformt wie ein Katzenfressnapf und den Etten­gruber Mädchen bei Besuchen außerorts ein Quell bestän­diger Pein, aber unglückseligerweise auf alten kolorierten Stichen des Münchner Staatsarchivs wiedergegeben und des­halb von Kurt Duftfinger mit brutaler Autorität durchgesetzt. Die Jungen trugen forstgrüne Westen über ihren weißen Hemden, offen, auf dass der farbenfroh mit dem Dorfwap­pen, fakultativ auch dem Wappen des Königreichs Bayern bestickte Quersteg des ledernen Hosenträgers schön zur Schau gestellt bleibe, und auf dem Kopf einen spitzen Nadel­filzhut nebst Auerhahnfeder. Die bayerische Burschentracht mit ihren aufgerollten Hemdsärmeln und kniekurzen Gams­lederhosen legt die jeweiligen Unterteile der Gliedmaßen frei, und das aus gutem Grund: So ein Unterarm, dick wie zwei nebeneinandergelegte Schiffstaue, mit blonden Borsten behaart und in der Lage, die kurzen dicken Finger keulenför­mig zusammenzuballen, zeigt die knochenzermalmende Kraft seines Eigentümers diskreter und eindrücklicher an als jeder noch so gut trainierte Bizeps. Die Wade wiederum gilt in ihrer schwellenden Schnellkraft als Verkörperung nicht nur läuferischer, sondern auch sexueller Leistungsfähigkeit, übrigens auch bei den Mädchen, womit die eigentlich etwas stupide permanente Drehbewegung, die ihnen die Choreo­graphie des Volkstanzes zwischen den schenkelklatschenden, springenden und juchzenden Burschen zuweist, ihren Sinn bekommt, weil sie den knöchellangen Rock zentrifugal auf­steigen lässt und den Blick nicht nur auf allerhand weißes Unterzeug, sondern auch und zuallererst auf die nackten Waden zulässt, und zwar jedermann gleichermaßen, anders als die eigentlich näher liegende Brust, deren Umfang und Formschönheit immer nur Einzelne aus eigener Anschauung kannten und die daher auf dem Heiratsmarkt zur Kursfest­setzung ungeeignet war.

 Erzählen tut alles vom Rande des Geschehens und doch dabei die wenig bescholtene Camilla, denn „um ihr Bestand zu geben, dieser Welt aus Rauchgestalten und Nebelschemen, um sie zu bannen und zu bändigen, da bin ich mir ganz sicher: um das zu tun, muss man sie erzählen.“ Da die Camilla aber nicht alles weiß und auch des öfteren anders beschäftigt ist, erzählt, ohne sich zu outen, auch der Erzähler Steinbeis und, wenn’s offiziell werden soll, der Freiherr von Ergoldsbach, der Chronist. Damit erhält alles den Stempel der Glaubwürdigkeit ;-}

 Steinbeis glänzt neben seinem Wissen über gar manches vor allem mit seinen Sätzen. Ganz und gar nicht recht hat dabei Jennifer Mettenborg, wenn sie meint: Vielleicht ist die Sprache ein bisschen umständlich. Vielleicht wird aber gerade dadurch die etwas gemütliche Umständlichkeit der dargestellten Bevölkerungsgruppe verdeutlicht. (literaturmarkt.info). Die Sprache ist nicht umständlich, sondern höchst elaboriert. Und gemütlich ist hier schon gleich gar nichts. Das Gegenteil ist der Fall. Steinbeis’ Schreibe ist beißend, zynisch, entlarvend. Mir kommt dabei Eckhard Henscheid in den Sinn, der auch über stark oder noch stärker verdeutlichte Grenzexistenzen aus dem Herzen und dem Bauch der Gesellschaft schreibt, auch, wie Steinbeis, höchst kunstvoll und unterhaltsam. Am besten deshalb noch eine Stelle aus dem „Pascolini“:

 Es gab durchaus Katholiken unter den Gästen meiner Mutter, aber die meisten waren doch evangelisch. Streng genommen ist auch das nur eine Vermutung. Die Konfession spielte, erstaunlich aus heutiger Sicht, damals kaum eine Rolle für uns. Das glaubten wir zumindest. Als einmal nach dem Abendessen ein entsetzlich schüchterner junger Mann namens Alfons Bichler, den Seb Rothkehl bei irgendeiner Parteiveranstaltung aufgelesen und seines liebenswerten Sprachfehlers wegen – der junge lispelte – mitgebracht hatte, in eine Gesprächspause hinein »Gelobt sei Jesus Christus« murmelte und sein privates kleines Tischgebet zu seiner gro­ßen Scham plötzlich zum Gegenstand der belustigten Neu­gier der gesamten Runde gemacht sah, schnaubte meine Mutter nur und lachte ärgerlich. Bei den meisten unserer Gäste wusste kein Mensch, welcher Glaubensrichtung sie an­hingen. Bei anderen, deren Konfession ich kannte, hätte sie kein Mensch vermutet: Sebastian Rothkehl beispielsweise, der sich damals als Historiker, Fritz-Schäffer-Biograph und Apologet der bayerischen Partikularismusbestrebungen eben anschickte, zum Chefideologen der Bayernpartei zu werden, unser krachlederner Seb, der keinen Preußen davonkommen ließ, ohne ihn ausführlich über Herzog Tassilo aufzuklären, über die jähe kulturelle Verödung nördlich des Limes sowie die Tatsache, dass das Nibelungenlied aus der Gegend von Passau und Richard Wagners Tannhäuser, des Kaisers Fried­rich des Zweiten Ritter und Bußliedsänger, aus Tannberg un­weit des Chiemsees stammte, woselbst man heute noch den Hof »Zum Venusberger« besichtigen könne – dieser Seb Rothkehl war in Wahrheit, was so gut wie niemand wusste, ein frommer Sohn der evangelisch-lutherischen Kirche. Er kam aus Nürnberg und hatte sich in Ettengrub ein Häuschen gekauft, und zwar mit dem Geld seiner Frau, einer Nichte von Josef Baumgartner und fanatischen Partikularistin, vor deren teigiger Humorlosigkeit er immer öfter und zuletzt ganz und gar in die freundliche Obhut meiner Mutter floh.

 Ich merke gerade, so ganz unaktuell ist das gar nicht.

2010 – 250 Seiten

Maximilian Steinbeis liest am 22. April 2010
– Donnerstag – 20.30 –
bei Dombrowsky in Regensburg

 Roman-Homepage
mit Leseproben, Videos uvm
 Steinbeis‘ Verfassungsblog
 Blog-Rezension von Katharina Schmitz  Aufbau-Verlag

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Hültner
5. Dezember 2009, 21:37
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Robert Hültner:
Inspektor Kajetan kehrt zurück

hueltnerkajetanGlaser stand auf und begann, sich den Mantel wieder zu­zuknöpfen.
»Also dann? Ich kümmer mich derweilen um eine andere Spur. Zum Beispiel die, ob da nicht doch irgendwas Poli­tisches dahinter gewesen sein könnt.«
Kajetan sah ihn zweifelnd an.
»Politisch! Ja! Für das, was heut in der Früh auf der Fahrt nach München passiert ist, gibts nämlich genau drei Erklä­rungsmöglichkeiten: Erstens, dass ich mir die Sach tatsäch­lich bloß eingebildet hab und es sich doch um eine harmlose Panne gehandelt hat. Zweitens, dass ich es mir nicht einge­bildet hab und dich jemand befreien hat wollen, weil er gemeint hat, dass du der Kerschbaumer bist. Und drittens, und davon bin ich mittlerweile überzeugt, dass jemand genau das Gegenteil vorgehabt hat. Nämlich, dich – also den angeb­lichen Kerschbaumer, der in eine ziemlich undurchsichtige politische Mordsach verwickelt ist – aus dem Weg zu räu­men.«
»Aber -«
Der Kommissar hob abwehrend die Hand. »Und fürs Letz­tere gibts auch wieder mehrere Möglichkeiten: Erstens, je­mand – ein fanatischer Königstreuer beispielsweis – wollt sich für den Mord am Thannheiser rächen. Der Elias Thann­heiser war bei den Königstreuen, und die wiederum strei­ten sich sowohl mit den Nazen als auch mit den Sozen. Die Sozen und Kommunisten wiederum, die eine Zeit lang gar nicht mal so schlecht dagestanden sind auf dem Land, sind sowohl mit den Nazen wie auch mit den Königstreuen über Kreuz. Kurz: Jeder hackt auf jedem herum.

Es gibt die Sozen und die Nazen und die Königstreuen und den Bauernbund und auch Bauernsozen am Ende der 1920er Jahre. Die Fäden werden in München gespannt und über dieses Gewirr ist Paul Kajetan “gestolpert”, weil er auf manche Machenschaft gestoßen ist und deshalb ist er jetzt auf der Flucht nach Österreich. Er kommt aber nicht übers Gebirg, weils schon Winter wird und weil er mit einem Mordverdächtigen verwechselt wird. So gerät er nach Zellach im Grenzland und wird dort in die langwierigen Aufklärungsversuche der örtlichen Gendarmerie hineingezogen. Die Provinz ist noch Provinz, es gibt die üblichen Dorfbewohner, für einen Mord ist man nicht gerüstet und doch brodelts hinter den Fassaden. Der Tourismus verspricht Gewinnmöglichkeiten und eigentlich traut keiner dem anderen über den Weg.

Kajetan nickte bestätigend. »Man kann sichs gar nicht vorstellen. Das Dorf wirkt so … so friedlich. Und dann so was.«
Der Schneider sah nicht auf. »Friedlich … na ja. Wann man halt nicht dahinter schaut, gell?« Er nickte gedanken­voll und fuhr fort: »Wos Menschen gibt, da gibts auch Strei­tereien. So ists halt einmal. Man mischt sich besser nicht zu viel ein.«
»Dieser … « Kajetan tat, als suche er nach dem Namen des getöteten Wirts.
»Thannheiser«, kam ihm Mitius zu Hilfe.
»… der doch recht angesehen gewesen sein soll im Dorf, oder?«
»Freilich. Wer was hat, der kriegts Ansehen gleich mitge­schmissen. So ist es doch überall, oder?«

Nicht nur der Schneider mischt sich nicht gern ein, niemand will etwas sagen oder gesehen haben oder wissen, weil die politischen Fäden auch schon bis nach Zellach reichen. Und so könnt der Nachbar bei den Nazen sein oder mit ihnen sympathisieren und so ist man lieber ein bisschen vorsichtiger.

Robert Hültner setzt seinen Kriminalfall in die Unübersichtlichkeit der späten Weimarer Republik und gibt ihm mit Ort und Landschaft im Süden Bayerns die Kulisse und mit dem Ex-Inspektor Kajetan die eigensinnige und politisch integre Hauptperson. Hültner nimmt die Dörfler ernst in ihrem “Kontrast zwischen dem Ausdruck überbor­dend barocker Lebenslust, herzensvoller Güte, Humor und musischer Lebensgewandtheit auf der einen, lähmender Me­lancholie, kaltschnäuziger Rücksichtslosigkeit und Verbohrt­heit auf der anderen Seite”.

Hültner hat seine Geschichten in Chroniken und Protokollen gefunden und die zu einem spannenden Fall komponiert. Er erzählt bayrisch bedächtig mit vielen Gesprächen in der “Sprache des Volkes”. Es ist kein Geschichtsbuch, aber ein Roman darüber, wie sich die Fäden der Geschichte über das Leben legen und wie sich die Leute darin verfangen.

2009       275 Seiten    (+ Glossar + Nachwort von Hültner)

hueltnerendeÜber Inspektor Kajetan gibt es mehrere Romane, etwa „Am Ende des Tages„. Kajetan ist imer der knorrig-geduldige Ermittler, der außerhalb der Bürokratie steht und trotzdem/deshalb näher an die Leute herankommt.

Auch lesenswert Robert Hültners Roman “Der Hüter der köstlichen Dinge”, die ungewöhnliche Geschichte eines deutschen (bayerischen) Soldaten im Vichy-Frankreich Anfang der vierziger Jahre, der von der französischen Bevölkerung versteckt und beschützt wird.

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