Nachrichten vom Höllenhund


Isherwood, Grün, Kutscher
31. Dezember 2019, 16:25
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Christopher Isherwood: Leb wohl, Berlin

isherwoodberlinDer Engländer Christopher Isherwood ging, 25 Jahre alt, 1929 nach Berlin. Die Vorschriften und Sitten für Schwule waren hier (und auch in der Weimarer Republik) lockerer als anderswo. Er (er)lebte hier offenen Sinns und schrieb seine Beobachtungen in Tagbücher, die ein Panorama des Großstadtlebens Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts zeigen. Da er sich in seine Skizzen selbst einchreibt, sind die Einsichten, ist die Darstellung natürlich subjektiv gefärbt, auch wenn er sagt: „Ich bin eine Kamera mit weit geöffneter Blende, passiv aufzeichnend, nicht denkend.“ Es sind zunächst private Impressionen aus seinem Umfeld, doch Isherwood erkennt schnell, dass das Private immer auch politisch ist.

Auch Christine Nippoldt, die Illustratorin, bildet die zunehmende Infiltration – nicht nur des öffentlichen Lebens – durch die Nazis trefflich ab. Es tauchen immer mehr Uniformen und Hakenkreuze auf.

Isherwood findet sein erstes Zimmer bei Fräulein Schroeder.

Den ganzen Tag lang tappt sie in der großen, schäbigen Wohnung herum. Ungeschlacht, aber wachsam watschelt sie von Zimmer zu Zimmer, in Hausschuhen und einem ge­blümten Morgenmantel, der so kunstvoll mit Sicherheits­nadeln zusammengesteckt ist, dass kein Zoll Unterrock oder Mieder hervorlugt, wedelt mit ihrem Staubtuch, äugt, schnüf­felt und steckt ihre kurze, spitze Nase in die Schränke und Koffer der Mieter. Sie hat dunkle, glänzende, neugierige Augen und hübsches, gewelltes braunes Haar, auf das sie stolz ist. Sie wird ungefähr Mitte fünfzig sein.
Vor langer Zeit, vor dem Krieg und der Inflation, war sie recht wohlhabend. Sie reiste im Sommer an die Ostsee und hatte ein Dienstmädchen für die Hausarbeit. Seit dreißig Jah­ren wohnt sie hier und nimmt Untermieter auf. Begonnen hat sie damit, weil sie Gesellschaft haben wollte.
»>Lina<, haben meine Freunde immer zu mir gesagt, >wie kannst du nur? Wie hältst du es bloß aus, Fremde in deinen Zimmern zu haben, die deine Möbel ruinieren, wo du doch das Geld hast, um unabhängig zu leben?< Und ich habe immer dasselbe gesagt. >Meine Untermieter sind keine Untermieter<, habe ich gesagt. >Sie sind meine Gäste.<

Bobby jedenfalls ist tief in Ungnade gefallen. Nicht genug damit, dass er arbeitslos und drei Monate mit der Miete im Rückstand ist, Fräulein Schroeder hat auch Grund zu der Annahme, dass er Geld aus ihrer Handtasche stiehlt. »Wissen Sie, Herr Issiwu«, sagt sie mir, »es sollte mich überhaupt nicht wundern, wenn er die fünfzig Mark von Fräulein Kost geklaut hat … Das bringt der ohne weiteres fertig, das Schwein! Dass ich mich so in ihm täuschen konnte! Möchte man das glauben, Herr Issiwu, ich hab ihn behandelt wie meinen eigenen Sohn – und das ist jetzt der Dank! Er sagt, er zahlt mir jeden Pfennig zurück, wenn er den Job als Barmann im Lady Wind­ermere kriegt … wenn, wenn … « Fräulein Schroeder schnaubt verächtlich.

Später zieht Isherwood zu den Nowaks. Den schwulen Sohn Otto kennt er aus einer Sommerfrische auf Rügen. Nowaks leben sehr beengt, die Verhältnisse geben nicht mehr her. Die Wohnverhältnisse färben auch auf die Familienkonstellationen ab.

In den Mietskasernen teilten sich vier Parteien eine Toilette. Unsere lag ein Stockwerk tiefer. Wenn mich vor dem Schlafengehen ein natürliches Bedürfnis überkam, musste ich abermals den Weg durchs dunkle Wohnzimmer in die Küche antreten, um den Tisch herum, an den Stühlen vorbei, ohne dabei mit dem Kopfende des Nowak’schen Ehebetts zu kollidieren oder gegen das Bett zu stoßen, in dem Lothar und Grete schliefen. Ganz gleich, wie vorsichtig ich schlich, Frau Nowak wachte immer auf; sie konnte mich anscheinend im Dunkeln sehen und brachte mich durch höfliche Hinweise in Verlegenheit: »Nein, Herr Christoph – da nicht, bitte schön. Links in den Eimer am Herd.«

Wenn ich im Bett lag, in der Dunkelheit, in meiner winzigen Ecke dieses gewaltigen Kaninchenbaus der Mietskasernen, drang mit unheimlicher Klarheit jeder Laut vom Hinterhof zu mir empor. Der Hofschacht muss wie ein Grammophontrichter gewirkt haben. Da ging jemand die Treppe hinunter, wahrscheinlich unser Nachbar, Herr Müller, der Nachtschicht bei der Eisenbahn hatte. Ich hörte seine Schritte von Stockwerk zu Stockwerk leiser werden, dann überquerten sie den Hof und klatschten laut auf dem nassen Pflaster. Wenn ich mir Mühe gab, hörte ich – vielleicht auch nur in meiner Einbildung -, wie sich der Schlüssel im Hoftor drehte. Einen Augenblick später fiel das Tor hohl dröhnend ins Schloss. Und jetzt hatte Frau Nowak im Nebenzimmer einen Hustenanfall. In der darauffolgenden Stille knarzte Lothars Bett, während er sich umdrehte und im Schlaf undeutliche Drohungen murmelte. Irgendwo auf der anderen Hofseite begann ein Säugling zu schreien, ein Fenster wurde zugeworfen, irgendwo in den tiefsten Tiefen des Gebäudes schlug etwas sehr Schweres dumpf an eine Wand. Es war fremdartig, geheimnisvoll und unheimlich, als schliefe man alleine im Dschungel.

Die Landauers sind jüdische Kaufleute. Isherwood kommt zu ihnen als Hauslehrer der Tochter Natalie. Verunsichertes Bildungsbürgertum, im Oktober 1930 wird die Stimmung gegenüber den Juden immer bedrohlicher.

Eines Abends im Oktober 1930, etwa einen Monat nach den Wahlen, gab es einen großen Tumult auf der Leipzi­ger Straße. Nazibanden versammelten sich und demons­trierten gegen die Juden. Sie misshandelten einige dunkel­haarige, großnasige Passanten und schlugen die Schaufenster aller jüdischen Geschäfte ein. Der Vorfall war an sich nicht weiter bemerkenswert; es gab keine Toten, es fielen nicht viele Schüsse, und es kam bloß zu ein paar Dutzend Verhaftungen. Ich erinnere mich daran nur, weil es meine erste Berührung mit der Berliner Politik war.
Fräulein Mayr war natürlich begeistert. »Geschieht ihnen ganz recht! «, rief sie. »Die Juden verpesten die ganze Stadt. Unter jedem Stein, den man umdreht, kommen gleich welche rausgekrochen. Sie vergiften uns das Trinkwasser! Sie erwür­gen uns, sie rauben uns aus, sie saugen uns das Blut aus. Da muss man sich bloß mal die großen Warenhäuser angucken: Wertheim, KaDeWe, Landauer. Und wem gehören die? Dre­ckigen, räuberischen Juden! «
»Mit den Landauers bin ich persönlich befreundet«, gab ich kalt zurück und ging aus dem Zimmer, bevor Fräulein Mayr Zeit hatte, sich eine passende Antwort auszudenken.

AM TAG, ALS die jüdischen Geschäfte boykottiert wurden, ging ich zum Warenhaus Landauer. Oberflächlich be trachtet war alles wie immer. Vor jedem der großen Eingänge standen zwei oder drei uniformierte SA-Jungen. Wenn sich ein Kunde näherte, sagte einer von ihnen: »Sie wissen, dass das ein jüdisches Geschäft ist! « Die Jungen waren recht umgänglich, sie grinsten und scherzten miteinander. Passanten scharten sich zu kleinen Grüppchen und betrach­teten das Schauspiel – interessiert, amüsiert oder auch nur gleichgültig; sie wussten noch nicht, was sie davon halten soll­ten. Es war noch nichts von der Stimmung zu spüren, von der man später aus Kleinstädten in der Provinz las, wo Käufer ge­waltsam mit einem Stempelaufdruck auf Stirn und Wangen gedemütigt wurden. Recht viele Leute betraten das Gebäude. Ich ging selbst hinein, kaufte den erstbesten Artikel – eine Muskatnussreibe -, schlenderte wieder hinaus und ließ mein Päckchen baumeln. Einer der Jungen an der Tür zwinkerte und sagte etwas zu seinem Kameraden. Mir fiel wieder ein, dass ich ihn ein- oder zweimal im Alexander-Kasino gesehen hatte, als ich noch bei den Nowaks wohnte.

Christopher Isherwood schaut und hört sehr genau hin. Er sagt, die Figur “Isherwood” sei der “nicht mehr als eine zweckdienliche Bauchrednerpuppe.” „Ich bin eine Kamera mit weit geöffneter Blende, passiv aufzeichnend, nicht denkend.“ Die sechs Geschichten “Ein Berlin-Tagebuch (Herbst 1930) – Sally Bowles – Auf Rügen (Sommer 1931) – Die Nowaks – Die Landauers – Ein Berlin-Tagebuch (Winter 1932/33)” ergeben ein lebhaftes Zeit- und Sittenbild von Berlin im Übergang von den “goldenen” 20er-Jahren zu den Anfängen des Nationalsozialismus. Das Buch war die Vorlage für das Musical und den Film “Cabaret” (1966/1972). Liza Minelli spielte die Rolle der „göttlich dekadenten“ Sally Bowles, eine junge Engländerin, die in Kabaretts auftritt und eine Heerschar von Bewunderern besitzt.

isherwoodberlin2IN DEN FOLGENDEN WOCHEN verbrachten Sally und ich den Großteil des Tages miteinander. Sie lag zusammen­ gerollt gerollt auf dem Sofa in dem großen, schmuddeligen Zim­mer, rauchte, trank Prärieaustern, sprach ununterbrochen von der Zukunft. Wenn das Wetter schön war und ich nicht unter­richten musste, spazierten wir bis zum Wittenbergplatz, setz­ten uns dort auf eine Bank in der Sonne und redeten über die Passanten. Mit ihrer kanariengelben Baskenmütze und dem schäbigen Pelzmantel, räudig wie das Fell eines alten Hundes, zog Sally alle Blicke auf sich.
»Ich wüsste zu gern«, bemerkte sie häufig, »was die sagen würden, wenn sie wüssten, dass wir zwei alten Vagabunden eines Tages der wunderbarste Schriftsteller und die größte Schauspielerin der Welt sein werden.«
»Da wären sie wohl nicht schlecht überrascht.«
»Wenn wir dann in unserem Mercedes umherfahren und an heute zurückdenken, werden wir wohl denken: Eigentlich hatten wir es gar nicht übel! «
»Es wäre auch gar nicht übel, wenn wir den Mercedes jetzt schon hätten.«

Die Büchergilde zählt die illustrierte Ausgabe zu ihren schönsten Büchern des Jahres 2019.

1939          320 Seiten

Lili Grün: Alles ist Jazz

gruenjazzDie Wienerin Lili Grün kam Ende der 1920er-Jahre nach Berlin, da war sie 25, „angezogen vom vermeintlichen Glanz und Glamour Berlins“ (Anke Heimberg im Nachwort). Die Protagonistin ihres Romans „Herz über Bord“ ist die 21-jährige Schauspielerin Elli, die sich bemüht, ein Engagement zu finden. Doch die Theater brauchen keine junge, kleine Frau mit wenig Erfahrung, davon gibt es zu viele. Ein filmproduzent lässt sich verleugnen. Die Männer sind als Freunde unzuverlässig, auch hier steht schon die nächste an der Ecke. Elli schließt sich einer Kabarett-Truppe an, man will in einem Kellerlokal Fuß fassen. Ellis Auftritte werden gelobt, doch Subkultur hat keine Zukunft.

O, Theaterdirektoren, Regisseure, Agenten, wo seid ihr alle? … Man hat sich ein schlechtes Geburtsdatum ausgesucht. Seit man lebt, sind die Zeiten groß, aber unangenehm.
In der Zeitung steht Arbeitslosigkeit in Amerika, Arbeitslosigkeit in der ganzen Welt. Es steht wenig Trost in den Zeitungen für solche Ellis, nichts steht da von Jugend, Anmut, Talent und Karrieremacken.
Die Wirtin scheint keine Zeitungen zu lesen. Sie schiebt sich in ihrer ganzen ehrfurchtgebietenden Breite ins Zimmer und sagt:
»Nu, lachen Sie mal, Freilein, wie denken Sie sich das eigentlich?«
Wie Elli sich das denkt? Ja, macht denn sie Weltgeschichte? Sie, dieses kleine Wesen voll Ehrgeiz, Arbeitsfreude, Sehnsucht und Hunger?
Die Wirtin sagt: »Nu, Sachen Sie, Freilein, wie komm‘ denn ich dazu, ich habe ja schließlich auch meine Verpflichtungen.«
Elli redet dem Wunder gut zu. Sie hat kein Geld mehr für die Straßenbahn. Es wäre gut, sich Herrn Regisseur Soundso und Herrn Direktor XYZ in Erinnerung zu bringen. Wenn ein Wunder geschieht, muß es bald geschehen. Nächste Woche ist es vielleicht schon zu spät.

„Das Goldene oder wenigstens Leuchtende der Zwanziger, es war das Licht der Moderne, das plötzlich auf die deutsche Gesellschaft fiel, aufs Ganze gesehen in dünnen Strahlen und nicht hell genug; aber es war ein ausbruch aus der Welt des wilhelminischen Obrigkeitsstaates.“ (Joachim Käppner, SZ) Ein bisschen von diesem Leuchten sollte auf junge Mädchen fallen, der „Glanz“, wie es Irmgard Keun nennt. Die „moderne“ Kleinkunst war Ende der 30er nur noch ein Abglanz, überschattet von Wirtschaftskrise, Sparpolitik, Behausungselend, Hunger, Krankheiten. Lili Grün konzentriert ihre Betrachtung auf die Personen, die ihre Not spüren, deren Ursachen aber ausblenden. „Alles ist Jazz“, so heißt der Roman in der Wiederveröffentlichung, JAZZ, das ist der Name des kleinen Kabaretts, das für Elli Lebenszauber und Lebensanker wurde.

Jazz!
»So wollen wir heißen, so wollen wir sein. Es ist der Rhythmus, der aus unseren Maschinen entstan­den ist, der Rhythmus, in dem wir armen Ha­scherln schlecht und recht groß geworden sind und gehen gelernt haben. Jazz, so wollen wir es ihnen sagen, so wollen wir endlich, endlich zu Worte kommen. Modern wollen wir sein, Kinder, heutig wollen wir sein, aber wehe dem, der es wagt, hier mondän sein zu wollen.«

Lili Grüns Leben und Schicksal ist dem ihrer armen kleinen Heldin Elli in ihrem verzweifelten Überlebenswillen nicht unähnlich. Elli verabschiedet sich:

Angst und bange kann ihr werden bei diesem Gedanken … und sie erschrickt bei dem Wort: Zukunft! Ihr ist zu Mute, wie wenn jemand die Türe geöffnet hätte, um die Kälte hereinzulassen.
Ist es wirklich der Mühe wert: dieses Weiter­leben? Gewaltsam zwingt sie das Spiegelbild einer vierfarbengeschmückten, durchs Zimmer tanzen­den Elli herauf. Zu Hause stehen die gepackten Koffer … zu Hause liegt ein Vertrag … das neue Engagement! Der nächste Mann! setzt das Herz mit einem kleinen Übermutsanfall hinzu.
»Adieu, Lieber! Alles Gute …«
Keine Angst, keine Angst vor dem Leben haben, klopft das Herz. Die Nerven machen noch einmal Peng. Zu viel Gefühl auf einmal.

Lili Grün erkrankt an Tuberkulose, geht zurück nach Wien und 1933 nach Paris. 1942 wurde sie im Vernichtungslager Maly Trostinez (Weißrussland) ermordet.

1933            215 Seiten (incl. Nachwort)

Volker Kutscher/Kat Menschik: Moabit

moabit1Im “Babylon” Berlin der Endzwanziger sind auch Volker Kutschers atmosphärische Kriminalgeschichten um die Stenotypistin Charlotte Ritter angesiedelt. Den kleinen Roman “Moabit” hat Kutscher eigens für Kat Menschick geschrieben und diese hat ihn sehr schön illustriert.

»Bist du wahnsinnig?«, war also das Erste, was sie sagte, als sie wieder zu sprechen in der Lage war. Ihre Gön­ner standen da schon an der Garde­robe und ließen sich die Mäntel geben. Die würde sie nicht mehr wiedersehen.
»Du solltest mir danken. Die Kerle taugen nichts. Deiner noch weniger als meiner.«
moabit2»Das Problem ist nur: Mein Kerl war der, der die Rechnung bezahlen muss. Ich habe keinen Pfennig Geld.«
»Wenn es nur das ist.« Greta griff in ihre Handtasche und wedelte mit ei­nem Bündel Banknoten. »Wer sind wir denn«, sagte sie, »dass wir uns von Männern abhängig machen?«
Der Abend wurde schließlich der lustigste, den sie jemals im Chaussee­palast erlebt hat. Noch nie hat sie sich mit einem Mädchen so gut verstanden wie mit dieser selbstbewussten ange­henden Studentin, die, ihrem gut ge­füllten Portemonnaie nach zu urtei­len, auch eine höhere Tochter zu sein schien, aber nichts gemein hat mit den arroganten Zicken am Lyzeum.



Boschwitz
12. April 2018, 19:23
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Ulrich Alexander Boschwitz:
Der Reisende

boschwitzOtto Silbermann wird abrupt aus seinem Leben gerissen. 1938 bei den Novemberpogromen stürmen und verwüsten Nazis die Wohnung ds Geschäftsmanns, er kann gerade noch durch den Nebenausgang entkommen. Damit aber steht er auf der Straße, die Verbindungen zur Familie und zu Bekannten sind gekappt. Er ärgert sich, zu lange mit der Ausreise gewartet zu haben, er fühlte sich als Deutscher und WK1-Teilnehmer sicher. Er will seine Hoffnung nicht aufgeben: „Es muss doch Leute geben, die trotz aller Gelegenheiten anständig und Menschen bleiben. Die nichtzum Schwein werden, nur weil sie eine Pfütze sehen, in der es sich suhlen lässt.“ Jetzt sind Grenzen und Fluchtwege verschlossen.  Kein Einzelschicksal. Der Versuch, nach Belgien zu kommen, endet in einem Wald.Es können ja nicht alle zu uns kommen“, erklären im die Grenzwächter.

Silbermann trägt in seiner Aktentasche Geld bei sich, das ihm Möglichkeiten und Sicherheiten zu versprechen scheint. Es bindet aber auch seine Aufmerksamkeit. Schnell stellt er fest, dass seine Kompagnons sich von ihm abwenden. Sein Prokurist Becker raubt Silbermann Geld, Boschwitz beschreibt ihn als Prototyp des „arischen“ Profiteurs, als „Allegorie auf den diabolischen Pakt, den die NS-Regierung mit der deutschen Bevölkerung einging: Wir organisieren die Vernichtung, ihr profitiert davon, wer sollte sich da beschweren? (Alex Rühle, SZ). Silbermanns Sohn in Paris kann oder will nichts für ihn tun, seine Frau ist zu ihrem Nazi-Bruder an die Ostsee gefahren. Jeder Kontaktversuch stellt ein Risiko dar, Silbermanns bisheriges Leben hat ihn nicht auf diese Art von Gefahr vorbereitet. Er fühlt sich isoliert, hilflos, er beginnt zu hyperventilieren, zu strampeln und da kann man natürlich nichts richtig machen, da fällt man auf.

Silbermanns Lebensraum verengt sich zusehends. Da er sich auf offener Straße beobachtet fühlt und stets fürchtet, als Jude erkannt zu werden, setzt er sich in den Zug. Überall ist es besser als dort, wo man gerade ist; man möchte reden, sich absichern, doch jeder Versuch kann in der Finalität des KZs enden. Er sieht nicht wie ein Jude aus – damals schien man Juden auf den ersten Blick zu erkennen -, doch in seinem Pass steht sein Name und der „J“-Stempel, eine Kontrolle wäre das Aus.

Zornig warf er die Zigarette, die er sich angesteckt hatte, fort. Was ich auch getan habe, dachte er, heute be­kommt es ein neues Gesicht, denn heute bin ich ein an­gezweifelter Mensch, ein Jude.
Er stieg in den inzwischen eingelaufenen Zug ein.
Soll das denn nun ewig so weitergehen? Das Rei­sen, das Warten, das Fliehen? Warum geschieht nichts? Warum wird man nicht festgehalten, verhaftet, verprü­gelt? Sie treiben einen bis an die Grenze der Verzweif­lung, und dort lassen sie einen stehen.
Er sah vom Fenster aus ein vorbeifliegendes, sauberes, reizvolles kleines Bauerndorf.
Das ist alles nur Kulisse, dachte er. Das einzig Wirk­liche ist die Jagd, die Flucht.
Er lehnte sich zurück.

Ich möchte schwätzen, dachte Silbermann. Ich möchte ununterbrochen schwätzen. Er lehnte den Kopf an seinen aufgehängten Mantel und schloss die Augen. Er lauschte auf das Rattern der Räder.
Berlin – Hamburg, dachte er.
Hamburg – Berlin
Berlin – Dortmund
Dortmund – Aachen
Aachen – Dortmund
Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt Reisender, ein immer weiter Reisender.
Ich bin überhaupt schon ausgewandert.
Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr in Deutschland.
Ich bin in Zügen, die durch Deutschland fahren. Das ist ein großer Unterschied. Wieder hörte er auf das Sto­ßen der Räder, die Musik des Reisens.
Ich bin in Sicherheit, dachte er, ich bin in Bewegung. Ja, und es ist beinahe gemütlich.
Räder rattern, Türen gehen, geradezu vergnüglich könnte das sein, man denkt nur zu viel.
Dann lächelte er. Früher veranstaltete die Reichsbahn Fahrten ins Blaue, erinnerte er sich. Jetzt veranstaltete sie die Reichsregierung.

Ulrich Alexander Boschwitz schrieb den Roman 1939 im Exil in Australien, er war 27 Jahre alt. „Der Reisende“ erschien 1939 in englischer Übersetzung in London und ein Jahr später in den Vereinigten Staaten. Der Fischer Verlag, dem es in den fünfziger Jahren angeboten wurde, lehnte eine Publikation ab. 1963 empfahl Heinrich Böll den Roman vergeblich seinem Hausverlag Middelhauve. 2018 gibt Peter Graf das Buch erstmals auf Deutsch heraus. (Mehr Informationen)

Wenn man den Roman liest, ist man im Jahr 1938. Heute können wir zurückblicken auf das, was nach 1938 folgte. Boschwitz sah nur, was sich anbahnte, doch das war deutlich genug. Aber man musste es auch sehen wollen. „Für einen Juden ist eben das ganze Reich zu einem Konzentrationslager geworden.“, sagt Silbermann. „Heutzutage mordet man wirtschaftlich.“ Boschwitz lässt den Leser hautnah miterleben, was das bedeutet. Er führt die Mitreisenden vor als „Charaktermasken ihrer Epoche: der bräsige Gestapomann, der reizbare, weil „jüdisch“ aussehende Parteigenosse, das Mädchen, dessen Verlobter im Konzentrationslager war, die pedantische Zimmerwirtin, die mitleidige Anwaltsgattin“ (Andreas Kilb, FAZ). „Alles Verräter, dachte er, alle, alle, alle. Keiner hält stand. Sie ducken sich, und sagen: Wir müssen, aber sie wollen auch. Was sind denn die berühmten Gelegenhei­ten ohne diejenigen, die sie ausnützen?“ Dabei sind nicht alle Nichtjuden böse, sind nicht alle Juden sympathisch. Aber darauf kommt es nicht mehr an, wenn einem mit dem Stempel der Makel aufgedrückt ist. Das Weglaufen vor der Gefahr ist in die Gedanken gewandert, auch sie kreisen ohne Ziel, ausweglos. Deprimierend, intensiv. Vergleichbar mit Anna Seghers. Leider aktuell.

Es gab Epochen, in denen viele Menschen vor Lebensträgheit fast an sich selbst erstick­ten und sich darum verzweifelt in abenteuerliche Affä­ren stürzten und mit den Stühlen, auf denen sie allzu bequem saßen, zu ihrer eigenen Erheiterung recht ge­fährlich hin und her wackelten. Man holte sich seine Emotionen von der Börse. Nun aber werden sie einem ausreichend geliefert. Als Kind träumte ich den Zügen nach. Wie gerne wäre ich mitgefahren, immer weiter ge­fahren.
Jetzt fahre ich. Jetzt fahre ich.

Das logische Ende ist, dass das Überleben nur noch möglich scheint, wenn man seine Humanität opfert.

»Sie kompromittieren mich ja«, stieß Silbermann ge­reizt und verdrossen hervor.
Hamburger sah ihn an. Sein Gesicht verlor den Aus­druck des Behagens, das es beim Essen angenommen hatte, seine Augen weiteten und sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, doch er schwieg. Er neigte den Kopf, bis er fast auf seiner rechten Schulter auflag. Dann stand er wortlos auf, nahm von dem neben ihm stehen­den Stuhl Hut und Mantel und kleidete sich an.
»Hamburger«, sagte Silbermann. »Ich habe das nicht so gemeint. Es ist mir nur so rausgerutscht.

Mit verstörten Blicken sah er sich in dem Lokal um. Was trennt mich denn eigentlich noch von euch, dachte er. Wir gleichen uns auf geradezu beängstigende Weise.
Er aß zu Ende, bezahlte und verließ dann das Lokal.

 

1939/2018           305 Seiten

Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

 

Ulrich Alexander Boschwitz:
Menschen neben dem Leben

Ein Großstadtroman. Anfang der 1930er-Jahre, Berlin natürlich. Kriegsbehinderte, Arbeitslose, Bettler, Entwurzelte, verfallendes Bürgertum, Frauen, die, da sie sonst nichts haben, ihre Körper für billiges Geld verkaufen. Wohnen ist ein prekäres Gut, da muss schon einmal ein fensterloser Kellerraum neben dem Lager des Gemüsehändlers reichen. So ein Roman hat sein Personal schnell beieinander, die Handlung ergibt sich aus den Scharmützeln des Überlebens. Allianzen täten not, doch wem kann man trauen.

Als Referenzen nennt Herausgeber Peter Graf Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (von 1929), Falladas Romane von Anfang der 1930er-Jahre, daneben Irmgard Keun, Vicky Baum, Kästner, Tergit, etwas früher die Bilder von Heinrich Zille, Walther Ruttmanns Film „Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt“. Ulrich Alexander Boschwitz’ „Menschen neben dem Leben“ erschien 1937, zuerst auf Schwedisch. Peter Graf hat ihn wiederentdeckt und ihn 2019 publiziert.

Die Tauentzienstraße bebte. Die riesigen, zweistöckigen Autobusse sausten wie fahrende Häuser von Haltestelle zu Haltestelle. Straßenbahn folgte auf Straßenbahn. Sie surrten vorbei, klingelten und benahmen sich so anspruchsvoll wie nur möglich. Die Ketten der Autos rissen nicht ab.
Um die Mittagszeit fuhren alle Direktoren und Direktörchen zum Essen. Sie hatten es eilig und zeigten es auch. Sie hupten und tuteten wild durcheinander und fraßen die Nerven der Leute, die zu Fuß gingen.
Benzingestank und Auspuffgase verpesteten die Luft.
Wie schön ist es, bequem in einem Auto zu sitzen. Hinten aus dem Auspuffrohr kommt der Qualm in schmutzigen Schwaden hervor. Man selbst sitzt vorne, man selbst merkt nichts davon, man selbst gibt Gas und braust davon. Nur die anderen, die Unbekannten, die Uninteressanten bekommen das Gas mit Luft vermischt in die Lungen. (…)

Die Autos standen in Reih und Glied. Das Verkehrs­signal verbot die Weiterfahrt. Endlich wechselten die Far­ben. Wie eine Herde wilder Tiere brüllten die Autos auf. Vorwärts. Der Schlachtruf der Großstadt ertönte.
Hysterisch klingelten die Straßenbahnen. Dumpf grollten die großen Autobusse. Leise meckerten die Klingeln der Fahrräder. Die Autos und Lastwagen stie­ßen eine dunkle, mit hellen Tönen gemischte Musik aus. Vorwärts!
Berlin hatte keine Geräuschverbote. Man merkte es.

Auf einer Bank, die auf einer in den Asphalt ge­quetschten, kümmerlichen Grünanlage stand, saß Frau Fliebusch und sah verständnislos auf den Verkehr. Frau Fliebusch begriff die Zeit nicht. Frau Fliebusch war die Frau von gestern. (…)
Frau Fliebusch begriff die Zeit nicht mehr, und das war ihr Unglück. Ihre Vorstellungswelt bewegte sich im­mer noch in der Vorkriegszeit. Alles, was später gekom­men war, all das Fliebusch-Feindliche, der Krieg und die Inflation und alle Ergebnisse des Krieges, all die Übel der letzten Neuzeit, waren an Frau Fliebusch vorüberge­rauscht wie ein entsetzlicher Traum.
Sie glaubte nicht daran. Sie glaubte nicht, dass dies alles Wahrheiten, nüchterne, alltägliche Wahrheiten wa­ren. So wie sie bis heute noch nicht begriffen hatte, dass Fliebusch, Wilhelm Fliebusch, der kraftvolle, schöne Wil­helm, einer Granate zum Opfer gefallen war. Auch dass ihr Geld, ihre sechzigtausend Mark, entwertet worden waren, glaubte sie nicht. (…)
Unentschlossen sah sich Frau Fliebusch um. Wo sollte sie hingehen?

Aber „Wahrhaftigkeit, das weiß Boschwitz, erlangen seine Figuren vorderhand nicht durch einen scheinbar objektiven Realismus, sondern durch das gleichzeitige Sichtbarmachen der naiven, gefühlsgesteuerten, mal rücksichtsvoll, oft rücksichtslos ichbezogenen und von Traumata durchzogenen Lebenswirklichkeit von Fund­holz und seinen Freunden, bei denen Irrationalitäten, Selbstbetrug und Verdrängung notwendiger Bestandteil der Überlebensstrategie sind.” (Peter Graf im Nachwort)

Der Arbeitslose Grissmann stand gegen den Blinden Sonnenberg.
Zwei geprügelte Menschen standen vor der Explosion. Sie explodierten gegeneinander. Sie sahen in sich gegen­seitig den Todfeind. Den Feind, dessen bloße Existenz das Leben vergiftete. Sie lagen beide unter den Rädern des Lebens. Ihre Revolte gegen das Leben wurde zu einer Revolte gegen sich selbst.
Die Räder zerquetschten sie, verkrüppelten sie, kör­perlich oder geistig. Aber die Räder standen jenseits ih­rer Fassungskraft.
Das Leben war gegeben, wie es war. Es zu ändern, stand nicht in ihrer Macht.
Sie konnten nur einer den anderen zerstören. Sie konnten sich nur sekundenlang befreien von dem Druck, der auf ihnen lastete, indem sie den anderen ver­nichteten.Sie konnten sich nur ein Ventil schaffen, ein Ventil für erlittene Enttäuschungen und für alle Leiden.
So wie zwei Nationen plötzlich ohne scheinbare Not­wendigkeit übereinander herfallen, sich begeistert in Kriege treiben lassen für die Interessen Unbekannter und Ungenannter, so gab es auch für Menschen Augen­blicke, in denen sie sich hemmungslos dem Vernich­tungstrieb unterwarfen.

Boschwitz beschreibt seine Figuren nicht nur, er analysiert sie, erklärt ihre psycho-sozialen Defizite, Getriebenheiten. Er setzt sie als Spielfiguren ein, führt sie, lässt sie leiden und scheitern. “Sie bewegen sich in einem tragischen, immer wieder aber auch komischen und von einer überwältigenden Menschlichkeit grundierten Ereignisgeflecht ungelenk und doch stetig aufeinander zu, bis sie sich schließlich alle eingefunden haben an dem Ort ihrer schicksalhaf­ten Begegnung” (Peter Graf), im »Fröhlichen Waidmann«.

In “Der Reisende” focussiert sich Boschwitz auf das Einzelschicksal, treibt seinen Otto Silbermann in die ausweglose Verzweiflung. Das geht einem näher.

1937 / 2019 300 Seiten