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Simone de Beauvoir:
Die Unzertrennlichen

Alles wäre einfacher gewesen, wenn sie, so wie ich, ihren Glauben verloren hätte, sobald der Glaube seine Naivität verloren hatte.
Da sind die zwei Freundinnen, zuerst 9, dann 20 Jahre alt. „Neben die neunjährige Simone de Beauvoir, Schülerin am katholischen Institut Adeline Desir, setzt sich ein Mädchen mit dunklem Bubikopf, Elisabeth Lacoin, genannt Zaza, die nur wenige Tage älter ist als sie. Natürlich, witzig, unverfroren, hebt sie sich von dem herrschenden Konformismus ab.“, schreibt Sylvie Le Bon de Beauvoir, die Adoptivtochter von Simone de Beauvoir, im Vorwort. Sie hat das Manuskript 2020 veröffentlicht, das an andere Erinnerungen der Schriftstellerin anschließt. Die beiden Mädchen sind „unzertrennlich“, weil sie sich so ähnlich und doch so verschieden sind. In der Erzählung Simone de Beauvoirs heißt sie selbst Sylvie, ihre Freundin Zaza wird zu Andrée.
Sylvie blickt Andrée genau an und versucht sich in diesem Blick zu spiegeln.
Andrées Blick wanderte durchs Zimmer; als würde sie Hilfe suchen; die strengen Bücher, die Porträts der Ahnen waren nicht dazu geeignet, sie zu beruhigen.
«Wirkte sie sehr verärgert? Wann werden Sie erfahren, was sie entschieden hat?»
«Ich habe nicht die leiseste Ahnung», sagte Andree. «Sie hat keinen Kommentar abgegeben, nur Fragen gestellt. Und dann hat sie in scharfem Ton gesagt, sie müsse nachdenken.»
«Es gibt keinen Grund, warum sie etwas gegen Pascal haben sollte», sagte ich sanft. «Selbst nach ihren Maßstäben ist er keine schlechte Partie.»
«Ich weiß nicht. In unseren Kreisen kommen Hochzeiten nicht auf diese Weise zustande», sagte Andrée und fügte bitter hinzu: «Eine Liebesheirat ist suspekt.»
«Trotzdem wird man Ihnen wohl nicht verbieten, Pascal zu heiraten, nur weil Sie ihn lieben!»
«Ich weiß nicht», wiederholte Andrée zerstreut; sie warf mir einen raschen Blick zu und wandte sich dann ab.
«Ich weiß nicht einmal, ob Pascal daran denkt, mich zu heiraten», sagte sie.
Das Auffällige ist nicht nur, dass sich die Mädchen siezen, auch die Vorgaben fürs Leben kommen einem so seltsam überholt an, als sei bis heute eine andere Welt entstanden. Sylvie weiß natürlich nicht, dass ihre Gedanken, ihr Verlust der „Naivität“, ihr Zweifel an Glauben und Familie die neue Welt mit entstehen half. Andrée ist Studienobjekt für Sylvie, sie schwankt zwischen Staunen, Bewunderung, Mitgefühl und Hilfsversuchen, von denen sie weiß, dass sie in Andrées Welt-Kreisen nicht zu verwirklichen sein werden und die auch zu theoretisch sind. Sylvie fehlt in vielen Dingen die praktische Erfahrung, nicht zuletzt in der Liebe. „Was dem nunmehr zehnjährigen Mädchen da widerfährt, ist eine erste Liebe: Sie verehrt Zaza leidenschaftlich, fürchtet, ihr zu missfallen. Sie selbst in ihrer rührenden kindlichen Verletzlichkeit erkennt die frühzeitige Offenbarung natürlich nicht, nur für uns, ihre Zeugen, ist sie so ergreifend. (Vorwort)

Die Familien der beiden Mädchen sind verschieden in Herkunft, Klasse, Bürgerlichkeit, Reichtum, Distinktionsmöglichkeiten, Verlustängsten, Teilhabechancen. Sylvie braucht Andrée, die einerseits offener ist, zielstrebiger, die Sylvie einladen kann, die aber ihre Lebenslust erkauft mit harten Beschränkungen. Ihre militant katholische Familie verlangt, dass sie sich absolut einzuordnen hat. „In ihrer an starren Traditionen festhaltenden Familie, bestand die Pflicht eines Mädchens darin, sich zu vergessen, sich selbst zu entsagen, sich anzupassen.“ (Vorwort) Das Interessante ist die Faszination der jungen Sylvie, ihr nüchtern beseeltes Herantasten an die Freundin, der Wunsch, sie zu verstehen, auch im Ahnen, dass sie nicht zusammenfinden werden. „Alles, was sie sagte, war interessant oder amüsant“, erinnerte sich Beauvoir in ihren Memoiren. Andreé verliebt sich. Liebe spielt in ihrer Familie keine Rolle. Ihre Mutter verkörpert einzig die rigorose Tradition, Andrée fügt sich.
«Man muss sie verstehen», sagte sie. «Sie trägt die Verantwortung für meine Seele; auch sie weiß sicher nicht immer, was Gott von ihr will. Es ist für niemanden leicht.»
«Nein, es ist nicht leicht», antwortete ich vage.
Ich war wütend. Madame Gallard quälte Andrée, und nun war sie selbst das Opfer!
«Es hat mich aufgewühlt, wie Mama mit mir gesprochen hat», gestand Andrée mit bewegter Stimme. «Wissen Sie, auch sie hatte es manchmal schwer, als sie jung war.»
Andrée sah sich um.
«Genau hier, auf diesen Wegen, hatte sie es schwer.»
«War Ihre Großmutter sehr streng?»
«Ja..»
Andrée hing einen Moment ihren Gedanken nach.
«Mama sagt, Gott ist gnädig, er wägt ab, welche Prüfungen er uns auferlegt, er wird Bernard helfen, und er wird mir helfen, so wie er ihr geholfen hat.»
Sie suchte meinen Blick.
«Sylvie, wenn Sie nicht an Gott glauben, wie können Sie das Leben dann ertragen?»
«Aber ich liebe das Leben», sagte ich.
«Ich auch. Nur wenn ich mir vorstelle, die Menschen, die ich liebe, würden allesamt sterben, dann würde ich mich sofort umbringen. »
«Ich habe keine Lust, mich umzubringen», sagte ich.
Zaza/Andrée stirbt mit 22 an Enzephalitis. Simone/Sylvie hat eine eigene Erklärung für ihren Tod.
Das Grab war mit weißen Blumen bedeckt.
Ich begriff dunkel, dass Andrée gestorben war, weil all dieses Weiß sie erstickt hatte. Bevor ich meinen Zug nahm, legte ich auf die makellosen Sträuße drei rote Rosen.
1954 – veröffentlicht 2020 – 145 Seiten plus dokumentarischer Anhang
Lesung und Diskussion zur SWR-Bestenliste 12/2022 (Audio – 16 Minuten)
Svenja Flaßpöhler stellt das Buch im lesenswert-Quartett zur Diskussion (Video – 13 Minuten) Es geht auch um die innere Zerrissenheit Andrées und um die Natur.