Ulf Erdmann Ziegler:
Eine andere Epoche

»Glaubst du, Bibi, dass wir in einer Zeit des Endes oder einer des Anfangs leben?«
»Da es Weihnachten wird und du mich nach dem Glauben fragst: Ich glaube, dass eine Epoche zu Ende geht. Ohne Vorwarnung beginnt eine neue. Du musst dich rüsten, Wegman, deinen Blick schärfen für die Zeichen der Zeit.«
»Die Zeichen der Zeit?«
Bibi sah ihm ruhig in die Augen. Der Anflug eines Lächelns, aber sie sagte nichts.
Wo – bitte – soll da eine „andere Epoche“ sein, gewesen sein? 2011/14 in Deutschland? Politische Schütteleien gab es immer, im Roman-Zeitraum auch, doch nichts, das Deutschland erschüttert hätte. Die „Zeichen der Zeit“ als Glaubensinhalt? Da erklärt auch Weihnachten wenig: Der Titel scheint vermessen, Käufer scheffelnd, egal, ob ihn Autor oder Verlag ersonnen haben. Anmaßend ist zudem die Kopplung von politischem Personal und zeitgeschichtlicher Relevanz. Im „Literatur im Römer“-Gespräch versucht Ziegler die Epoche(n) zu begründen und geht dabei über das hinaus, was ich im Roman gelesen habe. (ab 1:09)
2011/14 musste Bundespräsident Wulff wegen Gründen, die vergleichsweise gaga waren, zurücktreten. Sein Nachfolger war der Gaga-Pastor Gauck. Das weiß man oder kann man nachlesen. 2011/14 wurde Peer Steinbrück nicht Bundeskanzler, Philipp Rösler war Vizekanzler. Keine Zeitenwende. 2011/14 wurde endlich ruchbar, was Nazis unter dem Namen NSU unter den Augen des Verfassungsschutzes treiben konnten. Das weiß man heute oder kann es, wenn man will, nachlesen. Ulf Erdmann Ziegler liefern diese „Affären“ den Hintergrund seines Romans. Bisher unterdrückte Aufklärung ist nicht zu erwarten, muss auch nicht sein, denn Ziegler schreibt kein Sachbuch. Er braucht handelnde Akteure.
Der SPD-Abgeordnete Andi Nair leitet den NSU-Untersuchungsausschuss, Florian Janssen ist FDP-Abgeordneter und Vizekanzler geworden, Wulff bleibt Wulff. Erfunden hat Ziegler Wegmann Frost, Jugendfreund von Janssen und Büroleiter von Nair. Frost hat eine eigene Biografie: Er stammt aus einer Reservation in Idaho, wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Jetzt ist er Sozialdemokrat, in dritter Reihe, ein bisschen wichtig, ein bisschen Mitläufer, ein bisschen „Zaungast“. Er darf Reden schreiben, protokolliert Nairs Arbeit im Ausschuss. Wegman hat den Vorteil, Protagonist geworden zu sein, sein Leben und sein Sein stehen so im Mittelpunkt.
Okay, fand Wegman, der sich die Haare mit Papierservietten hatte trocknen wollen und vom Pizzachef wortlos Küchenkrepp gereicht bekam und nun auch schon fast satt und ein bisschen stolz war, dass er nicht nachgegeben hatte, kein Alkohol, mit der Wirkung, dass er sich nicht mehr vorkam wie ein treibendes Partikel in der urbanen Maschine. Es war einfach Wegman in einer Stehpizzeria am Fuße des Bergs, ohne Mütze, aber nicht ohne Kopf, und nun fiel ihm ein, was er wiederlesen sollte, nämlich Hannah Arendt. Wie würde man ihren Zugang zur Welt nennen: warmherzige Erbarmungslosigkeit? Er wollte nicht kalt werden, kalkulierend und zynisch, wissend, dass ihm das noch schlechter stehen würde als zugänglich und im äußersten Fall sogar naiv. Es musste doch irgendjemanden geben, der an das Gute glaubte, oder nicht wirklich das Gute, aber jedenfalls daran, dass das Böse nicht einsickern durfte ins Gemeinwesen, ein schleichendes Gift in der politischen Disziplin.
Wegman lebt zusammen mit seiner Lebensgefährtin Marion, einer erfolgreichen Immobilienmanagerin, und deren 11-jähriger Ziehtochter Ellie, beide unsichere, weil pragmatische und weltverlorene Partner. Der Roman verlagert sich vom politischen Berlin immer mehr zu den privaten Problemen Wegmans. Wegman hadert mit den beschränkten Möglichkeiten der Politik, seiner ermüdenden Suche nach einem Sinn des Lebens, er kann – sich – erst entspannen, als sein Mentor Nair nach einer Affäre aus dem Bundestag ausscheidet. Auch die Sprache des Romans kann der Autor erst aus der politbürokratischen Verkrampfung lösen, als Wegman zu sich findet.
Ausgerechnet gegenüber einem Abgeordneten, der im Bauausschuss saß, hatte er geäußert, es könne nicht weiter schwer sein, Wohnungen für Genossen zu finden — »Es gibt ja auch Wohnungsbaugenossenschaften«, hatte er gescherzt —, und so war die Aufgabe irgendwie an ihm hängengeblieben. Rasch zeigte sich, dass die Gilde der Makler den Markt tatsächlich nicht im Griff hatte. Es gab die Wohnungsbaugesellschaft Gewobag und private Bauinitiativen, Investoren, Architekten, Spekulanten, und während er die Stimmen am Telefon hörte, klickte er sich durch die Bildschirmseiten; jemand musste doch — wie sagt man — den Schlüssel dazu haben? Die Makler waren auf die Sozialdemokratie am schlechtesten zu sprechen. Natürlich versuchte Wegman es neutral, »Ich suche Wohnungen für Abgeordnete des Bundestags«, aber spätestens beim Buchstabieren der E-Mail-Adresse merkten sie, dass sie bei der SPD waren. Dann die Debatten, ob es stimme, dass die SPD vorhabe, den Maklern den Garaus zu machen — »Nein, wir wollen nur das Prozedere ändern, indem der Auftraggeber die Provisionen entrichten muss« —, aber das war es eben, was sie fürchteten. Die Stimmung war schlecht und Hilfe nicht zu erwarten.
Ein „sozialdemokratischer Roman“, Grundlegende Ideale, pragmatische Verschlingungen, Absturz durch Überforderung oder persönliches Versagen. Ulf Erdmann Ziegler positioniert sich auf der Seite der (halb)linken Ideale, macht die Verschlingungen zum Roman und gönnt dem Personal den „Erfolg“ im Kleinen, der im beruflichen Fiasko endet. Das Leben Wegman Frosts darf weitergehen – den Frauen sei Dank. „Wirklich interessant wird die Sache nicht als Schlüsselroman, sondern erst wenn man die Frage umdreht: Also nicht herauszufinden versucht, wer im Roman wer aus der Wirklichkeit ist, sondern ganz grundsätzlich überlegt, was das eigentlich soll oder bringt, die Wirklichkeit nun noch einmal in der Fiktion nachzuerzählen und um rein der Fantasie Entsprungenes – Figuren, Plot, Liebesgeschichte – zu ergänzen.“ (Ekkehard Knörer, taz) Für mich geht das nicht so leicht zusammen, wenngleich man auch subtil Ironisches im Wegman/Ziegler-Denken herausfinden kann. „Eine Relektüre des kaum Vergangenen in einem etwas anderen Licht.“, nennt es Knörer. Ohne eindeutige und erhellende Antworten, aber zum Rumdröseln gibt es ja den Leser.
Es war ein Mittwoch, als er ein wenig verschlief und in der Lounge Marion und Ellie in bester Laune fand, ein Lied für ihn schmetternd, zweistimmig. In einen hellgrün glänzenden Kuchen waren zweiundvierzig winzige, lavendelfarbige Kerzen gepflanzt. Sie brannten.
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Eine Befragung mit Missverständnissen: Literatur im Römer | Lesungen und Gespräche zur Buchmesse (1:05 – 1:26)